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Der gezähmte Staat

Der gezähmte Staat

Der Staat dient den Menschen nicht als strafender Machtmonopolist, sondern als „Rechtsgemeinschaft“, die sich möglichst wenig einmischt.

„Vom einheitlichen Nationalstaat zum Staat als Rechtsgemeinschaft — was kann das bedeuten?“ So lautete die Fragestellung der letzten Runde des „Forums integrierte Gesellschaft“. Angesichts der Komplexität dieser Frage vergeudete die Runde keine Zeit damit zu wiederholen, was schon in der Kritik des „einheitlichen Nationalstaates“ und danach unter der Frage „Kapital ohne Kapitalismus?“ auf früheren Treffen des Forums besprochen worden war. Gemeint ist die Entflechtung des Nationalstaates in selbstständige, aber miteinander wechselwirkende wirtschaftliche, kulturelle und rechtliche Sphären (1).

Das Gespräch ging stattdessen gleich zur Kernfrage vor, was diese Beschränkung des Staates auf rechtliche Aufgaben bedeuten würde, genauer, was man sich unter einem „Staat als Rechtsgemeinschaft“ vorstellen müsse, die das ökonomisch dominierte Monopol des einheitlichen Nationalstaates hinter sich lässt.

Den Anfang machte eine Kritik der Themenstellung: Die Vorstellung von einem „Staat als Rechtsgemeinschaft“ sei eine Fiktion, erklärte ein neu hinzugekommener Teilnehmer der Runde. Ihr stehe die Realität des Machtstaats gegenüber, mit dem die Herrschaft des Kapitals durchgesetzt werde. Diese Realität könne nur durch den Klassenkampf überwunden werden.

Dieser kategorischen Feststellung folgte auf dem Fuße die Gegenfrage: Und wo bleibe ich? Wie erhalte ich die Möglichkeit der Selbstbestimmung? Wie werde ich zum Souverän meiner Lebensentscheidungen? Wie kommen wir zu einem Rechtssystem, dass nicht der Macht, sondern dem Leben dient? Wird Recht von „oben“ eingeführt, oder von „unten“ entwickelt?

Mit diesem Einstieg war ein Startschuss gesetzt, der die Diskussion in einen heftig mäandrierenden Suchprozess zwischen Selbstermächtigung des Einzelnen und staatlichem Machtmonopol trieb, zwischen Entstehung von Recht und seinem Gebrauch, zwischen Missbrauch der Macht oder deren Einsatz von außen und dem Recht auf Widerstand dagegen. Dieser Suchprozess konnte sich anfangs nur mühsam in freieres Gelände vorarbeiten, zumal er sich über Klärungen tagespolitischer Fragen hinaus auch noch durch das Dickicht von Faschismus und Stalinismus hindurchkämpfen musste.

Was folgte, war ein wahrer Parcours durch die historischen und gegenwärtigen Probleme und Tendenzen der Gemeinschafts- und Staatenbildung, der in seinen Windungen und Wendungen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, Rechtsstaat und Machtstaat, Sozialismus und Faschismus, Forderungen nach allgemeiner Herzensgüte und spezieller Klassensolidarität zunächst nicht bis zur Klärung der Frage vordrang, was man sich unter einem Staat als Rechtsgemeinschaft vorstellen und wie er aus den gegebenen Verhältnissen des Monopolstaates heraus entstehen könne.

Erst mit der Unterscheidung von Strafrecht und Zivilrecht, des Weiteren von Recht und Gerechtigkeit und schließlich mit der Erkenntnis, dass das Wort ‚Recht‘ von den Worten ‚richtig‘ und ‚Richtung‘ abgeleitet ist, näherte sich das Gespräch dem, was eine „Rechtsgemeinschaft“ sein könnte.

Im Mittelpunkt einer solchen „Rechtsgemeinschaft“ steht nicht das strafende Gesetz, sondern die Regelung des alltäglichen Lebens, zumindest das Bemühen, das Verhältnis von Strafe und Recht zugunsten einer lebensdienlichen Regelung des Zusammenlebens zu verschieben.

Diese Verschiebung ist natürlich nicht nur eine strukturelle oder organisatorische Angelegenheit, sondern eine Frage des Bewusstseins, der Haltung, eben der Richtung, in die eine Gemeinschaft, im Weiteren eine Gesellschaft, miteinander gehen will und gehen kann. Das beginnt mit gegenseitiger Hilfe in den Basisgemeinschaften des alltäglichen Lebens und in den Kommunen und führt bis hin zur Regelung von Fragen, die den gesamten sozialen Organismus und seine über dessen Grenzen hinausgehenden wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Beziehungen betreffen.

Die Rechtsgemeinschaft definiert, hält und schützt den Lebenszusammenhang einer begrenzten Gruppe von Menschen, ohne sich in die selbstverwalteten wirtschaftlichen und geistigen Belange einzumischen, soweit es nicht um verwaltungsrechtliche oder zivilrechtliche Fragen des Interessenausgleichs zwischen Personen und Institutionen geht, die auf dem Weg der Selbstverwaltung nicht entschieden werden können.

Tendenziell geht es darum, den Raum der zivilen Regelungen so weit gegenüber dem Strafrecht zu erweitern, dass sich die Rechtspraxis dem Ideal der Gerechtigkeit annähern kann.

Der so skizzierte Umriss einer Rechtsgemeinschaft, das zeigt der Blick in die Lebensrealität gleich welcher Zeit und in welcher Gesellschaft, ist allerdings keine Verfassung, die von wem auch immer einfach dekretiert werden könnte, es sei denn mit Gewalt, was ihr Wesen ins Gegenteil verkehren würde. Als Ausdruck eines lebendigen Prozesses kann sie nur als Ergebnis täglicher, konkreter, permanenter Auseinandersetzung zwischen „oben“ und „unten“, zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Interessen entstehen.

Die Geschichte solcher Auseinandersetzungen, zumal dort, wo sie vom friedlichen Ausgleich unterschiedlicher Interessen in Revolten, in Revolutionen und in die gewaltsame Ablösung bedrückender Herrschaftsstrukturen übergingen und heute noch übergehen, ist zweifellos als Geschichte und Gegenwart von Klassenkämpfen zu beschreiben, wenn man unter Klassenkämpfen die verschiedenen Formen des Aufbegehrens der abhängigen und unterdrückten Schichten der Bevölkerung gegen ihre Ausbeuter und Unterdrücker versteht.

Geschichte ist auf diese Weise unbestreitbar ein Experimentierfeld für die immer wiederholten Versuche, menschenwürdigere Formen des Zusammenlebens zu entwickeln, bisher zuletzt im Namen des Sozialismus. Kriterium für Erfolg oder Scheitern der Experimente kann allerdings ebenso unbestreitbar nur der Zugewinn an Freiheit für jeden einzelnen Menschen in der von ihm gewählten Gemeinschaft sein. An diesem Maßstab müssen sich auch die Revolutionen des 20. Jahrhunderts messen lassen — und selbstverständlich alle in die Zukunft gerichteten Entwicklungsansätze.

Vieles muss hier ungesagt bleiben, was zu diesen Fragen auf dem Treffen noch beigebracht wurde. Zum Abschluss sei aber noch auf ein Zitat von Wolfgang von Goethe verwiesen, das nach dem Ende des Treffens gedruckt auf dem Versammlungstisch liegen blieb. „Welche Regierung die beste sei?“ wurde Goethe seinerzeit gefragt und er antwortete: „Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren.“ Genau! möchte man sagen. Heute gültiger als je zuvor. An anderer Stelle erklärt Goethe allerdings: „Wenn die Sozietät sich des Rechtes begibt, die Todesstrafe zu verfügen, so tritt die Selbsthülfe unmittelbar wieder hervor, die Blutrache klopft an die Türe“ (2).

Deutlicher kann der Widerspruch, den es zu lösen gilt, kaum noch hervortreten. Nun ist natürlich klar, dass Goethe heute nicht die Todesstrafe befürworten, sondern Maßnahmen des Rechtstaates gutheißen würde, aber im Spagat von Strafe und Förderung, der aus seinen Worten spricht, stehen wir bis heute — und werden wir weiter stehen, solange es Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Charakteren gibt. Mit Goethe können wir aber dafür eintreten, dass die Waage sich zugunsten der Förderung neigt.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Siehe dazu die Berichte des Forums integrierte Gesellschaft
- 54 Krise des Nationalstaats,
- 64 Was ist Dreigliederung
- 65 Kapital ohne Kapitalismus
https://kai-ehlers.de/category/forum-integrierte-gesellschaft/

(2) Zitate zu Goethe aus: „Freiheit und Staat bei Goethe“, Der literarische Zaunkönig Nr. 1/2016


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