Neulich erzählte mir ein Freund, er sei in Berlin bei einem Roger-Waters-Konzert gewesen. Anschließend habe die Presse berichtet, es hätte nur verhaltenen Beifall gegeben und die Zuschauer hätten schon vor Konzertende scharenweise die Veranstaltung verlassen.
Der Freund hatte das ganz anders in Erinnerung: Er erlebte tosenden Applaus und eine Mercedes-Benz-Arena, die bis zuletzt prall gefüllt war. Also fragte er sich: Beschrieb der Redakteur tatsächlich das Konzert, das er besucht hatte?
Ähnlich erging es mir beim Lesen von Heike Vowinkels Artikel in der „Welt am Sonntag“ über Daniele Gansers Vortrag am 28. Mai im Star Event Center Hannover. Ich saß selbst im Publikum, doch hätte Heike Vowinkel nicht Sätze zitiert wie „Guten Abend. Ich bin Daniele Ganser, …“, auch ich hätte geglaubt, wir hätten unterschiedliche Veranstaltungen besucht.
Heike Vowinkel erwähnt kurz die vorangegangene Gesprächsrunde mit Daniele Ganser und einem Traumapsychologen, unterschlägt aber die Anwesenheit der Traumatherapeutin und Sozialpädagogin Birgit Assel, die die Gesamtveranstaltung organisiert und die beiden anderen Teilnehmer zusammengebracht hat, um unter der Moderation von Ken Jebsen den Zusammenhang zwischen Krieg und Trauma zu beleuchten.
Die Besucher, die beide Programmteile erlebt haben, fanden den ursächlichen Sinnzusammenhang, dass Kriege traumatisieren und nur psychisch Traumatisierte Kriege führen, auch im Abendvortrag wieder.
Aber nun zum Abendvortrag: Das Ticket kostete nicht 35 Euro, wie von Heike Vowinkel behauptet, sondern die circa 1.200 Gäste konnten für 25 Euro Daniele Gansers Vortrag hören. Über diesen Vortrag berichtete Vowinkel im Welt-Artikel ein bisschen, allerdings nur, weil er sehr umfangreich war. Stattdessen zitiert sie immer wieder einen Besucher namens Christoph Bode, der mit zwei Freunden nach Hannover gekommen war.
Ein Mann mit "Vergangenheit"
Überproportional viel Raum nimmt Daniele Gansers Vergangenheit ein: seine "gescheiterte" Wissenschaftskarriere, seine verlorenen Lehraufträge an Schweizer Universitäten, die Behauptung, er sei ein Verschwörungstheoretiker. Diese Informationen stehen jedoch alle in Wikipedia, dafür braucht es keinen Zeitungsartikel über einen Abendvortrag.
Desweiteren schildert Heike Vowinkel Eindrücke mit BILD-haften Worten wie „Heilsprediger“, „wie ein Star gefeiert“ (Daniele Gansers Bühnenausstrahlung), „Sendung mit der Maus“ (seine Vorträge meinend) oder „… junge Frauen mit Kopftuch“ (das Publikum beschreibend). Und sie legt Daniele Ganser Aussagen in den Mund, die er nicht gemacht hat, beispielsweise:
„All das Leid in der Welt gäbe es nicht, hielten sich die USA nur an die UN-Charta.“
Was genau aber hielt Heike Vowinkel davon ab, Wesentliches vom Inhalt des Abendvortrages wiederzugeben, von den Überzeugungen Daniele Gansers und seinen Hoffnungen?
Immerhin reißt sie das Hauptthema des Abends und dessen Quelle kurz an: Das Kapitel zum Vietnamkrieg aus Gansers neuestem Buch „Illegale Kriege“ (übrigens: auch den Buchtitel zitiert Heike Vowinkel falsch). Und darüber gäbe es nun wirklich viel zu berichten.
Worum es wirklich ging
Daniele Gansers zentrales Vortragselement ist die Aussage aus Artikel 2 der UN-Charta:
„Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“
Diese gesamtglobale Übereinkunft zum bedingungslos friedvollen Miteinander ging aus den Ergebnissen des bisher opferreichsten Krieges der Menschheitsgeschichte hervor und zog sich als roter Faden durch Gansers Vortrag. Sie steht zugleich als Gegenentwurf zur geopolitischen Realität im Geschichtsbuch der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Die Realität ist leider eine vollkommen andere, denn der ersehnte Weltfriede war nicht von Dauer. Geostrategische und energiewirtschaftliche Begehrlichkeiten wurden in politische Lügen verpackt, mit denen das Gewaltverbot unterwandert wurde. Die innere Struktur der UNO mit den Sonderrechten der Vetomächte tat ihr übriges, um militärische Strafexpeditionen im Verborgenen wie auch auf freiem Feld zu legitimieren.
Aus der Vielzahl illegaler, das Credo der UN-Charta konterkarierender Kriege, die Daniele Ganser in seinem Buch ausführt, hatte er sich für den Vortragsabend den Vietnamkrieg ausgesucht. Mit umfassender geschichtlicher Herleitung der Situation im damaligen Vietnam, mit drastischen Bildbeispielen aus Medienberichten vom Kriegsgeschehen, mit punktgenauer Darstellung der Kriegslüge und ihrer späteren Entlarvung, zog Daniele Ganser sein Publikum in den Bann der Geschehnisse jener Zeit.
Kriegslügen
Was sich mir als verwirrende Kausalität eingeprägt hat: dass die Lüge über die Geschehnisse im Golf von Tonkin, die US-Präsident Johnson verbreiten ließ, einem Land den Krieg brachte, in dessen Verlauf 3 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Ich hätte mir gewünscht, etwas von diesem inhaltlichen Hauptteil des Abends in Heike Vowinkels Artikel zu lesen.
Stattdessen bezichtigt sie Ganser des Antiamerikanismus. Mit Seitenhieben auf seine kritische Einstellung zur offiziellen 9/11-Version lässt sie den Tübinger Amerikanisten Michael Butter sagen, Daniele Ganser agiere mit „…unzulässigen Analogien, Verdrehung und Weglassen von Fakten…“.
An keiner Stelle berichtet sie differenziert, was sie als Gast des Abends durchaus hätte tun können: Dass Daniele Ganser niemals einseitig die USA als Kriegserklärer hinstellt, sondern auch andere NATO-Länder benennt, die sich ohne UNO-Mandat in den Krieg begeben. Dass er einzelne US-amerikanische Politiker als Kriegsverbrecher entlarvt, diese aber keinesfalls mit der gesamten Nation gleichsetzt.
Dass er große Zweifel hat an vielen offiziellen Verlautbarungen von Staaten und ihren Medien, jedoch wiederholt versichert, aus dem Datenmaterial, das ihm zur Verfügung steht, Erklärungen abzuleiten und zu einem Ganzen zu fügen – ohne Deutungshoheit in Anspruch zu nehmen.
Dass er auf Vortragsfolien und Anmerkungen seiner Bücher die Quellen seiner Recherchen angibt und seine Zuhörer ermutigt, sich selbst zu informieren. Sie dazu auffordert, nicht ungefiltert Medienbrei zu schlucken, sondern selbst autonom zu entscheiden, was sie in ihren Kopf lassen und was besser draußen bleibt.
Noch ein Wort zu Daniele Gansers Überzeugungen und Hoffnungen. Wenn Heike Vowinkel sagt, Daniele Ganser stünde auf der Bühne „mit der Autorität des Wissenschaftlers“, dann greift ihre Wahrnehmung zu kurz.
Ich kenne die unseligen Verstrickungen der Macht gut. Ich bin in der DDR aufgewachsen. Als es auf den Militärdienst zuging und ich im Wehrkreiskommando gefragt wurde, ob ich als Grenzsoldat auf meine Eltern schießen würde, wenn sie beim Versuch der Republikflucht an mir vorbeikämen, verneinte ich dies vehement.
Dummerweise saß auf der anderen Seite des Tisches mein Physiklehrer. Nach dem Gespräch wurden meine Physiknoten derart schlecht, dass ich zum größten Bedauern der Schulleitung nicht zum Hochschulstudium zugelassen werden konnte.
Offensichtlich ist es auch in der neutralen Schweiz möglich, dass Förderer einen jungen Historiker fallenlassen, dem bei seinen Forschungsarbeiten Ungereimtheiten bei der offiziellen Lesart der Geschichte auffallen und der diese zum Ausdruck bringt.
Auch vor dem Hintergrund meiner eigenen Geschichte, habe ich Hochachtung vor Daniele Ganser, dass er sich und seinen Überzeugungen treu bleibt. Denn es ist schön kuschelig, inmitten der Herde zu stehen, während die Randposition oft unbequem ist. Seine Habilitation wurde abgelehnt, Universitäten haben ihm die Türen verschlossen. Dafür hat er das Swiss Institute for Peace and Energy Research gegründet, wo er für den Frieden eintritt.
Die Menschheitsfamilie
Daniele Ganser spricht von der Menschenfamilie, der alle angehören und in der Abwertung und Vernichtung anderer keinen Platz haben dürfen.
Daneben spricht er von Achtsamkeit; dass man nicht den Morgen mit einem Radiowecker beginnen muss, der sofort Grausamkeiten als Tageslosung ausgibt. Dass man nicht in Endlosschleife die Weltschrecken auf YouTube konsumieren muss und davon depressiv wird. Daniele Ganser zeigt den Zuhörern das Bild eines Wanderwegs im Wald und eines von einem Eiskristall. Hinausgehen und feststellen, die Welt ist schön, so wie sie ist. Sich auf den Spiegel schreiben: Ich bin okay, so wie ich bin.
Dass er mit diesen Worten, Überzeugungen und Hoffnungen Standing Ovations erntet, kann ich verstehen. Auch mich hat es vom Sitz gerissen!
In Heike Vowinkels Vita auf www.welt.de steht, sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und war von 2002 bis 2016 (stellvertretende) Ressortleiterin Reportage/Vermischtes der „Welt-Gruppe“. Ich wünsche ihr, dass es ihr gelingt, künftig mehr zu entmischen und neu zu ordnen.
Vielleicht kann sie ihren Arbeitgeber für diese – ich sage – gerechtere Sicht auf die zu beschreibende Welt gewinnen. Das Große & Ganze trägt er ja bereits im Namen. Und wenn nicht, wünsche ich ihr, dass sie den Mut hat, sich treu zu bleiben und ihr Mann und ihre Kindern mutige Menschen sind, die – wie sie es über Daniele Gansers Frau schreibt – sie bestärken, trotzdem weiterzumachen.
Zum Schluss noch ein letztes Zitat aus Heike Vowinkels Welt-Beitrag:
„Daniele Ganser … ist der Heilsprediger einer Zeit, in der das Vertrauen in Staat und Medien schwindet und das Unbehagen vieler wächst.“
Ihr Satz ist ein destruktives Beispiel, obwohl beide in der Analyse der Ist-Situation übereinstimmen.
Je mehr auf Abwertung zielende Artikel die Medienlandschaft überwuchern und je mehr Leser dieses Gestrüpp entflechten und auf seinen tatsächlichen Nährwert prüfen, desto mehr Zuhörer und Leser werden Daniele Gansers Gedanken und Ermutigungen zur eigenen Bewusstseinsbildung folgen.
Wäre es nicht Zeit für eine konstruktive Zusammenarbeit? Eine, zum Beispiel von Ken Jebsen moderierte Gesprächsrunde mit Heike Vowinkel und Daniele Ganser könnte ein Anfang sein. Birgit Assel und auch Franz Ruppert, der, von Heike Vowinkel als Traumapsychologe bezeichnete Psychotherapeut aus München, würden sich der Runde anschließen. Und herausstellen, dass Meinungsmache und Abwertung anderer – sei es aus eigenem Antrieb oder weil es der Arbeitgeber als journalistischen Auftrag so vorgibt – Traumaüberlebensstrukturen sind, die der Entwicklung einer gesunden und friedvollen Identität im Weg stehen. Und die, mit genügend Macht und Einfluss ausgestattet, zum Krieg führen können.
Und schließlich: Alle fünf sind Mitglieder einer Menschenfamilie.
Rubikon-Interview: „Krieg ist heilbar!“
Quellen und Anmerkungen:
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