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Der Cancel Campus

Der Cancel Campus

Woke und queere Aktivisten proben den Marsch durch die Institutionen und stellen eine ernsthafte Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit dar.

Angeblich moralisch überlegene Kulturwächter bestimmen, wer und was auf den Index kommt — neudeutsch: zu canceln ist. Zensur ist wieder hoffähig geworden. „Politisch nicht korrekte“ Bücher, Filme, Videos werden unterschiedslos umgeschrieben oder verbannt; „falsche“ Meinungen geächtet, weil sie Menschen verletzen könnten; unerwünschte Vorträge, „kulturaneignende“ Konzerte abgesagt; Gesetze verschärft. Ganz im totalitären Sinne der „richtigen“ Haltung — „egal wie die Bürger darüber denken“. Ein Vorgeschmack auf das, was im Zuge der „Wehrhaften Demokratie“ noch kommen wird?

Druck durch radikale Transaktivisten — Cancel-Culture-Fall an Leipziger Hochschule weitet sich aus

Wer vermeintlich nicht auf Linie ist, kann sich schnell das Stigma der Transphobie einfangen.

So geschehen am Institut für Philosophie der Universität Leipzig. Dort ist Dr. Javier Y. Álvarez-Vázquez, Privatdozent für Philosophie und Autor, zur Zielscheibe studentischer Transaktivisten geworden: Massive Anfeindungen, persönliche Verunglimpfung, gezieltes Mobbing richten sich gegen ihn. Der Dozent ist einer infamen wie rufschädigenden Verleumdungskampagne ausgesetzt — anonym im Netz und direkt vor Ort. Im Zuge der weiteren Ereignisse hat sich der Fall auf anderer Ebene inzwischen bedrohlich weiterentwickelt – womit Dr. Álvarez-Vázquez nunmehr unter doppelten Druck geraten ist.

Doch der Reihe nach. Zur Erinnerung: Die Geschichte begann im Oktober vergangenen Jahres mit der Sprengung seines Seminars: Eine Gruppe von rund 30 Transaktivisten stürmte den Hörsaal, erzwang den Abbruch der gerade stattfindenden ersten Sitzung des Seminars zum Thema „Historisch-genetische Theorie der Geschlechterbeziehung: Subjekt — Identität — Liebe“. Die Aktivisten widersetzten sich der Aufforderung des Seminarleiters, die widerrechtliche Aktion zu beenden und den Hörsaal zu verlassen. Der Dozent wurde niedergeschrien und unter Androhung physischer Gewalt genötigt, den Kathederbereich zu verlassen. Die Aktivisten schrieben in großen Lettern „Transfeindlichkeit tötet!“ an die Tafel.

Dialogverweigerung, Boykottaufruf, Mobbing — Entmenschlichung der Lehrperson

Eine Protestdeklaration (1) wurde verlesen, in der die Aktivisten gegen das in der Literaturliste aufgeführte Buch „Natur und Gender“ von Christoph Türcke, vormals Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, mit hartem Tobak aufwarteten: Dessen Thesen und Theorien seien offen „homophob“, „transfeindlich“, somit als „unwissenschaftlich“ abzulehnen. Das Seminar verbreite „queerfeindliche Verschwörungsmythen“. Der Dozent habe bei der Empfehlung des Buches eine „transfeindliche“ und „menschenfeindliche“ Einstellung gezeigt. Das ganze Seminar sei inhaltlich „nicht diskussionswürdig“.

Wie Dr. Álvarez-Vázquez im Interviewgespräch mit dem Verfasser erläuterte, habe er mit der Literaturauswahl den anthropologisch-wissenschaftlichen Dialog — im Sinne des Titels seines Seminars — anstoßen wollen. Es liege offenbar ein Missverständnis vor. Gleichwohl sei es nicht Aufgabe eines Seminars — mithin also auch nicht die inhaltliche Auswahl wissenschaftlicher Thesen und Lehrmeinungen —, sich explizit nach den identitätspolitischen Bedürfnissen einzelner Personen auszurichten.

In dem polarisierenden wie polemisierenden Text taucht allein 16-mal das Wort „Demagogie“ auf, das dämonisierend auch gegen Lehrpersonen gerichtet ist, die als angeblich „queerfeindlich“ angesehen werden.

An weiteren Kampfbegriffen links-rhetorischer Lesart fehlt es ebenfalls nicht. Das Motto: Man werfe nur genug Dreck, irgendetwas wird schon hängen bleiben. Das Mittel: verunglimpfende Diskreditierung, Abwertung und Entmenschlichung der Person.

Zurück zum Hörsaal. Ein pikantes Detail dabei: Die laut dem Dozenten nicht einmal für das Seminar eingeschriebene Wortführerin der Aktivisten, die ihm als Transperson bekannt ist, forderte die Seminarteilnehmer zum Boykott auch des restlichen Seminars auf. Ein Gesprächsangebot von Dr. Álvarez-Vázquez wurde abgelehnt. Er erstattete erfolglos Anzeige und verlegte später das Seminar ins Internet. Die Institutsleitung signalisierte ihre Unterstützung gegenüber dem Dozenten und hat bislang der Forderung der Aktivisten nicht nachgegeben, das Seminar abzusagen. Die Kollegenschaft übt sich angesichts des perfiden Angriffs auf die Lehrperson und die Lehrfreiheit in Zurückhaltung.

Unterstützung kam indessen vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit (2), das die studentische Kampagne gegen Dr. Álvarez-Vázquez in einer öffentlichen Stellungnahme verurteilt:

„Die Studenten müssen damit leben, dass in einer Literaturempfehlung Werke enthalten sind, mit deren Inhalt sie nicht einverstanden sind. Es zeichnet wissenschaftliche Lehre aus, sie auch mit abweichenden Ansichten zu konfrontieren und diese zu diskutieren. Die Vorwürfe der ‚Transphobie‘ sind ehrabschneidend und dienen nicht der Debatte, sondern der Diffamierung der Person. Die Störung eines Seminars ist eine inakzeptable Verletzung der Lehrfreiheit. Die Universitätsleitung wird aufgefordert, auch weiterhin die Rechte von Dr. Álvarez-Vázquez zu schützen und entsprechende Schritte im Hinblick auf das gegen ihn gerichtete Mobbing zu prüfen.“

Moderne Inquisition des wissenschaftlich Sagbaren? Ein weiterer Fall von Cancel Culture

Namentlich angefeindet wird in der besagten Protestdeklaration auch die Biologin Marie-Luise Vollbrecht, Doktorandin an der Berliner Humboldt-Universität, die im vergangenen Jahr einen Vortrag über — laut Transaktivisten — „Fortpflanzungsklassen in der Biologie“ halten sollte. Der Originaltitel liest sich hingegen so: „Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt“ (3). Dafür erntete sie übelste Schmähungen, Hass und Drohungen aus der woken Filterblase, anonym verbreitet im Netz und über dienlich berichtende Medien vor Ort.

Auf Druck lautstarker örtlicher Aktivisten und insbesondere der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti) (4) war die Uni-Leitung eingeknickt und sagte wieder ab. Der Vortrag fand allerdings später doch noch statt.

Die dauerempörten Transaktivisten machen unterdessen weiter mit dem, was sie am besten können: Statt sich inhaltlich-argumentativ einem redlichen wissenschaftlichen Diskurs zu stellen, bedienen sie sich der strategisch wirksamsten Methode moderner Inquisition — zersetzende Verunglimpfung der Person durch ehrverletzende, öffentliche Rufmordkampagnen.

Nach bekanntem Muster also — wie im Falle von Dr. Álvarez-Vázquez und einigen anderen.

Vollbrecht hatte im August 2022 auf Unterlassung des von zumeist anonymen Aktivisten im Netz verbreiteten Vorwurfs geklagt, sie leugne die massenhafte Zwangssterilisierung von Transsexuellen in der NS-Zeit. Letztlich verlor sie den Rechtsstreit im Februar 2023 vor dem Oberlandesgericht in Köln, zumindest teilweise.

Für die unbewiesene Behauptung der Gegenseite, dass Transsexuelle massenhaft zwangssterilisiert wurden, konnte diese bislang keinen belastbaren historischen Hinweis oder Beleg vorweisen, wie es von Vollbrecht gefordert wurde. Bemerkenswert dabei: Die „interpretierende Behauptung einer Leugnung“ dürfe weitergegeben werden, soweit und solange dies innerhalb „der woken Filterblase“ (!) geschehe und „nicht darüber hinaus“ verbreitet werde, so der Tenor des Gerichts. Klingt skurril und muss nicht jeder verstehen.

Der Druck auf den Dozenten steigt. Ein „unanständiges Angebot“ der Hochschule

Inzwischen hat sich der Fall drastisch zugespitzt. Stein des Anstoßes ist diesmal ein impfkritischer Artikel, den Javier Y. Álvarez-Vázquez als Privatperson und Bürger (!) unter dem Titel „Das erniedrigte Menschenbild“ auf Manova veröffentlicht hat und an dem sich nunmehr der Institutsrat für Philosophie reibt. Ausgerechnet jenes Gremium, das zuvor noch vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit aufgefordert wurde, die Rechte des Dozenten zu schützen. Die Empfehlung eines Mitglieds des Institutsrats: Álvarez-Vázquez möge seinen Artikel zurückziehen, ansonsten werde der Rat eine „distanzierende Stellungnahme“ (5) dazu abgeben.

Autor Javier Álvarez-Vázquez blieb standhaft und schützt somit seine Rechte als Bürger selbst. In der prompt folgenden öffentlichen Stellungnahme sieht der Rat den Artikel als eine Sichtweise, die „die politisch Verantwortlichen der vergangenen Jahre in die Nähe von Massenmördern bringt“. Warum der Institutsrat sich in der Pflicht sieht, den kritisch reflektierenden Meinungsartikel eines Bürgers zu den Verwerfungen der „Corona“-Zeit mit seiner zensierenden Rhetorik als „politisch inkorrekt“ brandmarken zu müssen, bleibt sein Geheimnis.

Der Autor riskiert nunmehr, seinen Titel als Privatdozent zu verlieren, so seine Befürchtung. Denn es liegt inzwischen ein Schreiben von der Dekanin der Fakultät, Professorin Astrid Lorenz, vor, in dem mit dem Entzug des Lehrtitels ausdrücklich in Form einer „Anweisung“ gedroht wird. Beides könnte seiner universitären Laufbahn schaden oder sie schlimmstenfalls, im Hinblick auf andere Bewerbungen, sogar beenden.

Wie Dr. Álvarez-Vázquez mitteilte, folgte vor einigen Wochen eine E-Mail der geschäftsführenden Direktorin des Leipziger Instituts, Professorin Andrea Kern. Darin werde er aufgefordert, das Seminar im Präsenzunterricht vor Ort abzuhalten. Der Dozent wohnt und arbeitet in der Nähe von Freiburg und beruft sich auf das Sächsische Hochschulgesetz, wonach er das Recht hat, die digitalen Lehreinrichtungen des Universitäts-Rechenzentrums in Anspruch zu nehmen. Wie er sich letztlich entscheiden wird, bleibt vorerst offen — wie auch der Ausgang des so besorgniserregenden wie vielschichtigen Falles selbst.

Gäbe es so etwas wie strukturellen Rassismus, wäre dieser offensichtliche und systematische Machtmissbrauch gegen den puerto-ricanischen, stark pigmentierten Philosophiedozenten ein delikater Fall, in dem ein farbiger Mensch (Person of Color) den weißen Mächtigen zum Opfer fiele.

Doppelmoral pur?

Fälle von Cancel Culture an Hochschulen nehmen zu. Anpassung durch Konformitätsdruck?

Zu dieser Einschätzung kommen jedenfalls Berichte in einigen Hauptmedien. Repräsentative, valide Erhebungen zu der Fragestellung, wie es um die wissenschaftliche Lehr- und Meinungsfreiheit steht, sind bislang nicht bekannt. Eine kleine, nicht repräsentative Studie von Revers und Traunmüller (6) an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main beschränkt sich auf Angaben von befragten Studierenden der Sozialwissenschaften zur persönlichen Sicht auf Meinungsvielfalt und -Freiheit und blendet eine Fragestellung hinsichtlich des latent politisierten Meinungsklimas an Hochschulen, aus Sicht von Lehrenden, schlicht aus.

Fakt ist: Beim Netzwerk Wissenschaftsfreiheit sind derzeit 25 gut dokumentierte Einzelfälle bekannt. Eine hohe Dunkelziffer nicht erfasster Fälle ist wahrscheinlich. Mehreren Quellen zufolge sind weitere Fälle in Österreich, der Schweiz, Großbritannien und besonders in den USA bekannt, wo an vielen — außer den republikanisch dominierten — Universitäten queere, zumeist linksgrüne Kulturwächter das Sagen haben.

Im Zuge einer gegenläufigen Entwicklung gibt es inzwischen in den USA Neugründungen von Universitäten, die zu alter Tradition zurückkehren wollen — ohne Wokeness beziehungsweise Identitätspolitik —, Lehrstätten, die wachsenden Zulauf erhalten, von Lernenden wie von Lehrenden.

Die Aktivisten hierzulande, die ebenfalls überwiegend dem linksgrünen Bildungsmilieu angehören und innerhalb wie außerhalb der Hochschulen Unterstützer haben, verbreiten ihre Diffamierungskampagnen bevorzugt anonym im Netz. Sie sind daher schwer greifbar und somit für ihr teils auch strafrechtlich relevantes Vorgehen kaum haftbar zu machen, so scheint es. Was Fragen hinsichtlich des Ermittlungswillens bei den zuständigen — indes politisch weisungsgebundenen — Staatsanwaltschaften aufwirft.

Aus ihrer vermeintlich moralischen Überlegenheit leiten die „Kulturwächter“ das Recht ab, jenseits des menschlichen Anstands und von ihnen selbst eingeforderter redlicher Wissenschaftlichkeit gegen „abweichende“ Lehrpersonen vorzugehen. Ein latentes Klima von Einschüchterung, Angst und Konformitätsdruck kann da nicht ausbleiben.

Auch wenn die meisten Medien, insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk, dazu vielsagend schweigen; so auch im geschilderten Fall — weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Die „Corona“-Zeit lässt grüßen.

Viele Lehrende haben viel zu verlieren, sind in ökonomischen Abhängigkeiten, passen sich an. Die Karrieren und Existenzen anderer sind gefährdet oder bereits zerstört.
Herabwürdigender Hass und Hetze, psychische und physische Gewalt empörungsbereiter Inquisitoren zur Durchsetzung der „richtigen Haltung“ haben im demokratisch zu führenden Meinungsstreit nichts zu suchen — schon gar nicht im wissenschaftlichen Austausch und Diskurs an Hochschulen.

Was letztlich zählt, ist: Das Geschlecht spielt überhaupt keine Rolle, denn ein Mensch ist ein Mensch.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Protestdeklaration (2 Seiten) liegt dem Verfasser als Fotokopie vor.
(2) https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/presse/pressemitteilungen/
(3) https://www.bz-berlin.de/berlin/mitte/biologin-darf-vortrag-ueber-geschlechter-nicht-an-der-hu-halten https://www.br.de/nachrichten/kultur/umstrittener-gender-vortrag-an-der-humboldt-uni-nachgeholt,TBdhpzU
(4) https://www.zeit.de/2022/28/marie-luise-vollbrecht-vortrag-humboldt-universitaet?utm_referrer=https%3A%2F%2Fduckduckgo.com%2F https://www.nzz.ch/international/transsexualitaet-humboldt-uni-verhindert-vortrag-von-biologin-ld.1691861
(5) https://www.sozphil.uni-leipzig.de/institut-fuer-philosophie
(6) https://aktuelles.uni-frankfurt.de › gesellschaft › streitgespraech-grenzen-der-meinungsfreiheit-gefaehrd


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