Zugegeben, vor zehn Jahren, als die 68er vier Dekaden feierten, da war medial noch mehr geboten. Nun, da sich das Jahrhundert halbiert, seitdem die Studenten mit der Lebenslüge ihrer Elterngeneration aufräumen wollten, ist es so viel leiser in den Medien geworden.
Die normative Linke hat im Augenblick nun wirklich ganz andere Sorgen. So richtig Feierlaune mag da nicht aufkommen. Andererseits passt das ganz gut, denn eines wird jetzt in diesen Jahren einer nötigen, aber nicht realisierbaren Linksalternative, ziemlich deutlich: 1968 war nicht das Jahr, in dem die Linken zu ihrem heutigen Bewusstsein gelangten. Dahin gerieten sie erst im Nachgang, zwei bis vier Jahre später.
Böse Zungen behaupten, dass dieses Bewusstsein mehr so das Gegenteil davon war (und geblieben ist): Ein Bekenntnis zur Ohnmacht nämlich. Bereits als das letzte »Ho-Ho-Ho-Chi-Minh« verklungen und der letzte Sit-in ausgesessen war, als man erkannte, dass vor den Werkstoren großer Firmen keiner dem soziologischen Studentenduktus folgen wollte, ging es mit der Spaltung der Linken los.
Die einen suchten nach einem Weg durch die Institutionen und wurden im Laufe ihrer Wanderjahre - als Kinder der gesellschaftlichen Liberalisierungswelle der Sechziger, die sie ja unleugbar waren -, zu Anhängern dieses neuen Liberalismus, der Strukturen aufbrechen wollte wie seinerzeit die 68er: Zu neoliberalen Jüngern und Reformern. Die anderen forschten nach einem Weg in ihr Innerstes, weil sie den Geschmack am Extrovertierten verloren hatten. Nun sollte das Ich richten, was das Wir nicht mehr hergab.
Als Ich-AGs die Gesellschaft retten wollten
Die linken Wege nach 1968 waren teilweise auch linke Touren. Alles bröckelte und Splittergruppen schwangen sich auf, die Welt zu erretten. Die einen gingen in den Untergrund, die anderen steckten sich Ohrenkerzen in die Hörmuschel und suchten den Einklang mit der Welt, während wiederum andere zur Marx-Exegese liefen und über Bibelkreise spotteten. Gemeinsam war diesen Gruppen nur eines:
Sie waren Geschöpfe des Individualismus, legten ihr Hauptaugenmerk auf das eigene Ego, von dem aus der große Wurf gelingen sollte.
Der große Unterschied der Neuen Linken zu ihren Vorvätern und -müttern lag darin, dass sie nichts (mehr) von Massenmobilisierung hielten. Gewerkschafter, die waren doch out, die versuchten sich ja nur in Makulatur, wollten das kapitalistische System gar nicht stürzen. Kompromissler halt. Die Neue Linke war eines aber ganz sicher nicht: Kompromissbereit.
Der französische Soziologe Luc Boltanski behauptete mal, dass in den Sechzigern und Siebzigern ein markanter Wandel im linken Milieu stattfand. Man setzte plötzlich auf individuelle Autonomie und Selbstverwirklichung. Von der Sozialkritik switchte man deshalb hinüber auf die Künstlerkritik.
Letztere entfernte sich von der sozioökonomischen Problematik, kreiste stattdessen lieber um das Ideal der individuellen Autonomie und der Persönlichkeitsentfaltung. Dieser Paradigmenwechsel habe die komplette normative Linke erfasst, weswegen letztlich die Prachtexemplare, die es bis ganz oben durch die Institutionen schafften, für das neoliberale Projekt adaptierbar waren:
»… durch gewisse Umdeutungen und Glättungen [waren sie] mit einem liberal gemäßigten Kapitalismus durchaus vereinbar.«
Willkommen im Neoliberalismus, dem reformierten Verwirklichungstrip jenes Teils der Neuen Linken, der sich verstärkt von der sozialen Frage zurückzog.
Politik kommt ja vom griechischen Polis, übersetzt von der Stadt oder der Gemeinschaft. Die Linken begannen aber verstärkt Politik introspektiv zu begreifen, als Rückzug ins Private, um von dort die Welt, also die Gemeinschaft zu verändern.
Die Egozentrik wurde zum Währung im Diskurs. Und der Egozentriker war anmaßend genug anzunehmen, er selbst könne als Maßstab für alle gelten. Politik ist jedoch ein sozialer Akt – die Künstlerkritik zielte aber auf die inneren Werte des Einzelnen ab und war somit gar nicht politisch dem Wortsinn nach.
Diese neuen Linken brauchten natürlich ein Fundament für das Ich, das jetzt alleine für die Weltverbesserung zuständig wurde. Ein Gerüst, an dem sie sich hochziehen konnten. Schließlich hatte man es in diesem alternativen Milieu nicht ganz einfach, denn Erleuchtung macht einsam.
Und so bildete man sich ein, man sei so etwas wie eine Avantgarde, die letzte Bastion vor dem mentalen Totalzusammenbruch der Menschheit. Ein bisschen Narzissmus musste da schon sein; letztlich durfte man sich ja schon was darauf einbilden, das kapitalistische Schweinesystem als letzte gute Menschen überdauert zu haben.
Introvertiert extrovertiert: Der grelle Narzissmus guter Menschen
Natürlich sprach man auch im neuen linken Milieu vom Kapitalismus – es hatte sich nur eine Sache gravierend verschoben. Hatten die alten Linken, die Traditionslinken eben, noch vom Kapitalismus im Rahmen der Verteilungsfrage gesprochen - und natürlich auch dessen Existenz in Frage gestellt -, befreite sich die Neue Linke von diesem Aspekt fast gänzlich.
Das hinderte sie freilich nicht daran, weiterhin vom Kapitalismus als Wurzel allen Übels zu sprechen. Nur wurde aus der sozialen Frage jetzt so eine Art antikapitalistischer Schwanzvergleich. Der Kapitalismus war plötzlich auch an Dingen schuld, an denen die Menschheit stets gelitten hatte, auch schon zu der Zeit, als man noch nicht kapitalistisch wirtschaftete.
Auch in jener Ära soff man, verprügelten Männer ihre Frauen oder Mütter ihre Kinder und gab es Menschen, die aufgrund ihres Lebenswandels arge Nöte mit einem geregelten Tagesablauf hatten. Doch jeder menschliche Makel wurde jetzt zum Aufhänger für die Systemfrage.
Das Identitäts- oder Toleranzthema ersetzte bereits hier nach und nach die Sozialcharta der alten Linken. Die Frage nach der Verteilung: Das galt unter den Neuen im Revier fast schon wie ein Bekenntnis zum Kapitalismus. Wer so fragte, der machte sich verdächtig. Verteilst du noch oder überwindest du schon?
Darüber war man in diesen fundamentalistischen Kreisen lange hinweg, die Weisheit wurde mit Schöpfkellen verabreicht und jeder konkrete politische Ansatz, der konnte nicht anders als in einer systemischen Generaldebatte erstickt werden. Denn jeder linke Anflug, der danach trachtet, die Lebenssituation der Menschen im Kapitalismus zu verbessern, war ja eine unglaubliche Fehlkalkulation: So stärkte man ja das System.
Jeder Streik, jede Demo: Prokapitalistisch, denn da wurden ja noch systemimmanente Stellschrauben bedient, wo schon lange über das süße Systemende debattiert werden müsste.
Sozialismus sollte es dann mindestens sein, denn in dem würden Männer ihre Frauen und Mütter ihre Kinder nicht schlagen.
Von Anspruch, ja von der Notwendigkeit, Avantgarde sein zu müssen, war es nicht weit zur Konstruktion zweier Menschentypen, mit denen es der Narzisst in seinem Alltag zu tun bekam:
Die Dummen und die Bösen.
Dumm waren die Arbeiter, die Angestellten, die es halt nicht besser wussten, weil sie blöd gehalten wurden und sich auch ganz wohlig in diesem Zustand einrichten konnten.
Die Bösen, das waren natürlich die Nazis, die Konservativen, aber natürlich auch jene normativen Linken, die den Kapitalismus nicht abschaffen wollten oder konnten.
Linke, die Arrangements suchten, systemimmanente Lebensqualität schaffen wollten und die Kompromisse, bei denen man die eigenen Überzeugungen auch mal hintanstellen musste, für demokratische Normalität hielten.
An diesen anderen bauten sie sich auf. Was der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber mit dem Satz »Der Mensch wird am Du zum Ich« ausdrücken wollte, griffen sie in einer im buberschen Sinne pervertierten Form auf.
Für den Philosophen war Zwiesprache mit dem oder der Anderen die Grundsteinlegung, um sich selbst als Ich, das heißt als Mensch gewahr zu werden.
Für die Avantgarde der Neuen Linken lag die Sache genau andersherum. Ihre verweigerte Zwiesprache und ihr dialogischer Eskapismus waren es, die sie zur Selbstwahrnehmung benötigen. Indem sie den anderen die Integrität aberkannten, machten sie sich ihres Ichs erst bewusst. Ihres Ichs als guter Mensch. Ach was: Als besserer Mensch.
Darüber wird demnächst noch zu sprechen sein…
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