Wir alle werden in eine Familie hineingeboren, mit der wir uns ein Leben lang zu arrangieren haben. Egal, wie es läuft: Wir können unsere Familie nicht ändern. So sehr wir heute auch daran herumdrehen: Wir haben nur diese eine Mutter. Viele Monate hat sie uns in ihrem Leib getragen. Jede Gefühlsregung haben wir von ihr mitbekommen. Ob Freud oder Leid — lange vor unserer Geburt hat sich uns eingeprägt, was sie erlebte. Wir sind eins mit ihr. Leib in Leib.
Unter Einsatz ihres eigenen Lebens bringt sie uns auf die Welt. Ob gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst: Sie erträgt für uns Angst und Schmerz, so wie ihre Mutter vorher und deren Mutter davor. Tief hat sich die Erfahrung in uns eingegraben, dass unser Eintritt in diese Welt mit Leid verbunden ist. Wie freudvoll wir auch empfangen werden: Das Schwere, Bedrohliche gehört zu unserem Leben dazu. Wir verlassen den paradiesischen Zustand der Einheit und werden hinausgepresst in eine Welt der Trennung.
Hintergrundprogramm
Vielleicht wurden wir sehnsüchtig erwartet. Vielleicht nicht. Erwünscht oder unerwünscht, geplant oder ungeplant, Junge oder Mädchen, zu früh oder zu spät, zu groß, zu klein oder genau richtig — die Erwartungen und Haltungen unserer Eltern prägen sich uns für ein ganzes Leben ein.
Wie wünscht man sich uns? Wem sehen wir ähnlich? Wessen Namen tragen wir weiter? In welche Geschichte(n) werden wir hineingeboren? Wer war vor uns da? Sind wir der Trost für ein verlorenes Kind? Der Versuch, doch noch einen Jungen oder ein Mädchen zu bekommen? Der Kitt für eine scheiternde Beziehung? Der Wunsch, einer Existenz eine neue Bedeutung zu geben, dem Leben einen Sinn?
So kommt niemand von uns als Tabula rasa zu Welt, als leere Festplatte. In uns allen wirken bereits vor unserer Geburt Programme, nach denen unser Leben verlaufen wird. Hierbei haften nicht nur die Wünsche und Ängste unserer Eltern an uns, sondern auch die Erinnerung an das Erlebte einer ganzen Familie, eines Clans, eines Volkes und schließlich der gesamten Menschheit.
Nicht nur das Familiensilber, auch ungelöste Traumata werden von Generation zu Generation weitergegeben. In homöopathischen Dosen tragen wir mehr oder weniger verdünnt die Erinnerung an das in uns, was vor uns war. Was einmal geschehen ist, können wir nicht ändern. Die Geschichte ist, was sie ist. Doch sie wird, was wir daraus machen.
Vergiftetes Erbe
Um uns aus alten Programmierungen zu lösen, müssen wir uns zunächst der Programme bewusst werden. Nur was wir wahrnehmen, können wir verändern. Wir können uns nicht aus Ketten befreien, die wir nicht spüren. Also müssen wir uns erheben und in Bewegung setzen. Spüren wir hin. Was ist unangenehm? Wo tut es weh? Was ist zu schwer geworden?
Wie fühlt sich der Kontakt mit der Familie an? Wo sitzen die Empfindlichkeiten? Können wir uns frei ausdrücken und bewegen oder wollen wir immer noch Mutter und Vater gefallen? Sind die Beziehungen authentisch oder quälen wir uns mit Pflichtbesuchen ab?
Können wir zusammen lachen? Gibt es überhaupt etwas zu lachen? Gibt es Wohlwollen, Respekt, Akzeptanz, Vertrauen?
Wie sieht es aus mit den Traditionen? Was war bei uns schon immer so? Hier werden nicht nur Namen, Berufe und die Rezepte für die Weihnachtsgans weitergegeben, sondern auch Krankheiten und Unfälle. Von Mutter zu Tochter setzt sich der Brustkrebs fort, von Vater zu Sohn der Herzinfarkt. Auch frühe gewaltsame Tode und Selbstmorde wandern nicht nur in prominenten Familien von Generation zu Generation, sondern auch bei uns.
Ausschließen macht krank
Es sind nicht nur die tragischen Lebensereignisse, die wie Gespenster rasseln und uns spüren lassen, dass etwas gelöst werden will. Auch die schwarzen Schafe halten die Erinnerung an die Leichen wach, die es im Keller jeder Familie gibt. Da ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht den geltenden Vorstellungen und anerkannten Regeln entsprechen, heben sich diese Familienmitglieder von den übrigen in einer Weise ab, die das Gefüge stört.
Den Außenseitern wird nicht nur die Schuld für ihr eigenes Verhalten aufgebürdet. Alle unangenehmen oder ängstigenden Familienthemen werden auf sie projiziert. An ihnen klebt letztlich die Schande für die Missstände in der Gruppe überhaupt. Als Personifikation des Bösen tragen sie, was die anderen in sich selbst nicht sehen können oder wollen. Wie auf einer Leinwand spielt sich auf ihnen das ab, was die Gruppe von sich zu weisen sucht.
Sündenböcke sind daher Träger wichtiger Informationen. Bleiben sie ausgeschlossen, kann sich das Gesamte nicht positiv weiterentwickeln. Was auch immer jemand getan hat: Er gehört dazu. Jeder von uns ist Teil eines komplexen Gesamten, dem es immer nur so gut gehen kann wie den Einzelnen zusammen.
Nur wenn alle harmonisch zusammenwirken, ist das Ganze gesund. Wird ein Teil ausgeschlossen, geschieht das, was in einem von Krebs befallenen Körper passiert: Wenn bestimmte Zellen nicht mehr mit ihrer Umgebung kommunizieren, bilden sich Tumore. Erst wenn die Kommunikation wieder in Gang kommt, kann der Organismus genesen.
Von der Raupe zum Schmetterling
In einem gesunden Organismus haben alle etwas zu sagen. So gibt es in einer intakten Familie keine Tabus, kein Reden hinter dem Rücken, keine Kontaktsperren, keine Redeverweigerung, kein strafendes Schweigen, keine Indifferenz, keine Intrigen, in denen alle gegen einen aufgehetzt werden. In einer intakten Familie sprechen die Menschen miteinander und hören einander zu. Sie lassen einander ausreden und fahren sich nicht über den Mund.
In einer intakten Familie ist jeder für seine eigene Position verantwortlich. Es gibt keine Schuldzuweisungen, keine Beleidigungen und Demütigungen, um sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Niemand hält sich selbst für etwas Besseres.
Niemand setzt sich selbst in Szene, um die meiste Aufmerksamkeit zu bekommen. Anstatt Selbstgerechtigkeit gibt es Empathie, anstatt Opferverhalten die Bereitschaft, zu seinem eigenen Verhalten zu stehen.
Die Außenseiter wirken hier wie die Imagozellen, die aus der Raupe einen Schmetterling machen. Zunächst werden sie vom alten Organismus bekämpft. Das war schon immer so! Bei uns macht man das so! Doch das Leben bahnt sich seinen Weg. Die Zellen, die das Bild des neuen Gefüges in sich tragen, schließen sich weiter zusammen, bis eine neue Realität geboren wird.
Stand by me
Damit sich dieser Prozess vollziehen kann, müssen die Außenseiter nicht gute Miene zum bösen Spiel machen und in unerträglichen Situationen ausharren. Unsere erste Aufgabe ist es, uns selbst zu schützen. Wo kein Austausch möglich ist, wo es kein Verständnis gibt und keine Wärme, wo die Herzen verschlossen sind, da können wir den Raum verlassen und das Abteil wechseln.
Dabei müssen wir nicht die Türen knallen, sondern können in Frieden gehen. Es ist vorbei. Es ist gut. Ich gehe nun. Hier möchte ich nicht sein. Dies ist nicht meine Welt. Ich danke euch für das, was ihr mir gegeben habt und behalte euch in meinem Herzen. So bewahren wir uns das Wichtigste: die unbedingte Achtung des anderen. Wir haben nicht über ihn zu urteilen. Wir kennen nicht seine Lernaufgabe und haben nicht den Überblick über die gesamte Situation.
Bleiben wir bei uns selbst und kümmern uns um uns. Da, wo wir uns von anderen verletzt, unverstanden, gedemütigt, verraten oder ungerecht behandelt fühlen, ist es jetzt an uns, uns selbst zur Seite zu stehen. Seien wir uns selbst eine gute Mutter, ein guter Vater, eine gute Schwester, ein guter Bruder. Respektieren und achten wir uns. Seien wir gut zu uns.
Hören wir uns an, was wir zu sagen haben, und weisen wir es nicht zurück. Was auch immer es ist: Es darf sein. Halten wir uns wie ein Kind, das um Verständnis weint, um Wärme, um bedingungslose Liebe. Wenn unsere alte Welt zusammenbricht, erwecken wir das Schönste in uns, das Höchste, das Größte, und erwachen wir in unsere Menschlichkeit hinein.
Vom Sklaventum in die Menschheitsfamilie
Wir sind nicht allein. Auch wenn wir in getrennten Abteilen weiterreisen, wir gehören zusammen. Wir können den Schoß nicht ungeschehen machen, aus dem heraus wir geboren sind, und die Geschichte, die uns alle miteinander verbindet. Doch wir können die Nabelschnur durchtrennen, in der wir uns verwickelt haben. Wir können uns von dem trennen, was uns klein und ohnmächtig hält, von dem, was Familie in ihrem etymologischen Wortsinn bedeutet: famulus: Sklave.
Befreien wir uns aus dem Joch der Schuld, der überholten Vereinbarungen und überflüssig gewordenen Traditionen. Was einmal versprochen wurde, muss nicht bis in alle Ewigkeit weitergeführt werden. Wir müssen nicht ein Leben lang loyal gegenüber Menschen sein, die im Familiensumpf feststecken.
Wir können uns lösen aus den Erwartungen, die wir uns gegenseitig aufbürden, und beginnen, aus dem Sumpf auszusteigen.
Auch wenn es die heile Familie, nach der wir uns sehnen, nicht gibt: Es gibt den einzelnen Menschen, der daran arbeitet, sein Herz intakt zu halten, seine Sinne wach und seine Arme geöffnet für die neuen Verbindungen, die die gesamte Menschheitsfamilie betreffen. In dieser Familie kämpft nicht mehr Clan gegen Clan, Nation gegen Nation. Sie setzt sich zusammen aus Individuen, die es gelernt haben, auf eigenen Beinen zu stehen.
Damit es so weit kommen kann, sind die Außenseiter vorangegangen. Pionieren gleich haben sie Mut bewiesen, indem sie eine andere Richtung gewählt haben als die Mehrheit. Sie haben sich ihrer größten Angst gestellt — der Angst vor Alleinsein — und sind ihren eigenen Weg gegangen. Diese Menschen haben das Zeug, eine Gemeinschaft freier, gleichberechtigter und selbstbewusster Menschen aufzubauen, die wissen, was es bedeutet, Verantwortung für ihre individuellen Entscheidungen — und damit für die Gruppe — zu übernehmen. Sie, und nicht die Angepassten, sind das Beispiel, dem es nun zu folgen gilt.
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