Nach der Linkspartei, nach Jeremy Corbyn hat es jetzt auch die NachDenkSeiten erwischt. Auch die kritische Website wurde nun als antisemitische Plattform gelabelt. In einem Text für die Amadeu Antonio Stiftung legen die Autoren Volker Koehnen und Tom Uhlig dar, worin die verkürzte Neoliberalismuskritik der NachDenkSeiten bestehe: Sie bemühten gängige Bilder, die man antisemitisch labeln könnte. Dabei handelt es sich sozusagen um Codewörter, die dem stillen Kenner der Judenfeindlichkeit ein geheimes Zeichen senden.
Der Vorwurf ist hanebüchen. Er stellt wieder einmal einen dieser plumpen Versuche dar, Kritik an der herrschenden Ökonomie durch eine nichtssagende Eloquenz zu stigmatisieren und mundtot zu machen. Neu ist die Masche freilich nicht. Ärgerlich ist sie jedoch immer wieder. Die Protagonisten des postliberalen Lebensgefühls sind zuweilen in einem so haltlosen Dekonstruktionswahn, in einem fortwährenden Aufdröseln des intellektuellen Mikrokosmos, dass am Ende nichts Wahres, nichts Gültiges mehr zurückbleibt. Schon gar nicht eine handfeste Sozialkritik.
Hat man Teilen der Linkspartei und dem britischen Labour—Vorsitzenden Corbyn noch Antisemitismus vor allem deshalb vorgeworfen, weil sie die israelische Besatzungspolitik nicht kritiklos hinnahmen, trifft es die NachDenkSeiten weitaus perfider. Ihnen unterstellt man einen Antisemitismus zwischen den Zeilen und verhilft einer wahnhaften Theorie zur Reputation, wie sie zuletzt Jutta Ditfurth prominent vertreten durfte.
Der „Jutta-Code“ oder Kapitalismuskritik war immer rechts
Da wäre zum Beispiel die Sache mit dem Finanzkapitalismus, den man laut Jutta Ditfurth nicht so nennen dürfe, wolle man sich des Antisemitismus nicht schuldig machen. Sie spielt dabei auf den Finanztheoretiker Silvio Gesell an, der das Kapital in ein schaffendes und in ein raffendes unterteilte und dessen Theorie gerne von Antisemiten missbraucht wurde, um das raffende Kapital — mit anderen Worten den Finanzkapitalismus — als jüdisches Machwerk zu enttarnen. Wer heute vom Finanzkapitalismus spreche, so glaubt Ditfurth, trenne die Welt in raffendes und schaffendes Kapital — und damit in Juden und die anderen.
Diese antisemitenmachende Theorie ist so abstrus, sie vermutet sogar hinter jeder Kritik an der Federal Reserve, der US-Notenbank, eine antisemitische Betrachtungsweise. Denn die Fed, ja auch die Wall Street, seien auch nichts weiter als Codes, die von jenen Menschen genutzt würden, die sich ihres Antisemitismus in der Öffentlichkeit ein wenig genieren. Sie verwenden daher solche Chiffren, um getarnt aussprechen zu können, wovor sie in Wahrheit warnen wollen: vor dem internationalen Judentum.
Nun ist es ja so, dass es tatsächlich eine Handvoll solcher scheuen Antisemiten geben mag. Daraus jedoch abzuleiten, dass im Grunde jeder, der dieses an sich unverdächtige Vokabular benutzt, einen antisemitischen Reflex bedient, ist so verwegen und diffus, dass es einem die Sprache verschlägt.
Und genau das ist das Problem dieses „Jutta-Codes“: Er nimmt der Kritik am herrschenden Kapitalismus die Sprache, die Worte, er versucht eine neue Deutungshoheit zu installieren und macht Kapitalismuskritik unmöglich.
Denn dieser von Koehnen und Uhlig angewandte „Jutta-Code“ verdreht die Tatsachen. Jahrelang war man sich in dieser Republik einig, dass die Rechten linke Themen besetzen, um bei den Menschen zu landen. Dass die NPD als Sozialstaatspartei warb, galt als ein starkes Indiz dafür. Joe Bageant beobachtete in seinem „Auf Rehwildjagd mit Jesus“ ganz richtig, dass die Tea Party in den USA mittlerweile sogar die auf Event und Freude abzielenden Protestformen der Linken übernommen habe. Der Code verdreht diese Ansicht, indem er nun behauptet, dass das Vokabular der Finanzkapitalismuskritik an sich nicht aus dem linken Spektrum stamme und von rechts zweckentfremdet wurde. Er unterstellt einfach, dass das stets der Soziolekt der Rechten war, dem die Linken auf den Leim gingen.
Die Dekonstruktion des Sozialen
Als Stiftung, die ihre Wirkungskraft vor allem in der postliberalen Gesellschaft entfaltet, leidet die Amadeu Antonio Stiftung fast zwangsläufig an einer thematischen Verengung, ohne die soziale Einbettung zu berücksichtigen. Dem stiftungseigenen Leitsatz, zur „Stärkung der Zivilgesellschaft gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus“ wirken zu wollen, mangelt es an ökonomischer Erdung und sozialpolitischer Grundierung. Man versteht sich mehr als Bewusstseinsmaschine denn als analytisches Element, das beispielsweise hinterfragt, woher die rassistische, rechtsextreme und antisemitische Renaissance kommt.
Wie üblich im Konsens unserer Zeit, nimmt man jeder Problematik die materielle Grundfrage, gibt sich geradezu postmaterialistisch in der Deutung der Zustände, als hätten Armut, Verunsicherung oder Prekarität überhaupt keine Bedeutung in dieser Frage. Man blendet diesen Aspekt als Erklärung aus und dekonstruiert fast wahnhaft einen Zusammenhang zwischen materialistischer Grundlage und ideeller Auswirkung.
Dekonstruktion ist ein Symptom unserer postmaterialistischen Gesellschaft. Nils Heisterhagen kritisiert das in seinem Buch „Die liberale Illusion“ ausdrücklich. Er nennt das eine „negative Kultur“, in der „fast alles zerredet und schlecht gemacht“ wird. Es gäbe „kaum noch Konstruktion, eher sehr viel Dekonstruktion“, die nicht mehr als ein „postmoderner Irrtum“ sei. Dabei scheint sich ein dekonstruktives, ja destruktives Fachidiotentum etabliert zu haben, welches zwar wie eine pawlowsche Hundeschar bei diversen Worten und Gedanken anspringt und bellt, aber den Zusammenhang ausblendet und gar nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Es ist nun mal ein wesentlicher Unterschied, ob jemand wie Horst Mahler vorm Finanzkapitalismus warnt oder eine linke Publikation wie die NachDenkSeiten.
Es ist interessant und verstörend zugleich, dass die Protagonisten der Vielfaltszivilgesellschaft einen eklatanten Hang dazu haben, die große Gleichmacherei immer dort als probates Mittel einzusetzen, wo nicht Gleiche unter Gleichen kommunizieren. Das hat man bei Wagenknecht und Gauland beobachten können, wo man auch nach Signalworten Ausschau hielt, um damit das Soziale aus dem Wagenknecht-Kontext dekonstruieren zu können.
„Anti-Antisemiten-McCarthyismus“: Antisemitismus durch die Hintertür
Ein ähnliches Verhalten ließ sich zur Zeit des McCarthyismus beobachten. Kaum einer der Kommunistenjäger hatte ein Fingerspitzengefühl für Aussagen. Sie hantierten mit Signal- und Codeworten und brachten es am Ende fertig, selbst indigene Stämme, bei denen das Privateigentum nicht bekannt war, als kommunistische Dorfgemeinschaft zu kategorisieren. Der Terrorschutz unserer Epoche geht zuweilen auf dieselbe Art und Weise vor. Er durchforstet das Netz, sucht einschlägige Worte und hält schlussendlich jemanden für terrorverdächtig, der das Wetter „für Bombe“ erachtet.
Kurz und gut, dieser „Jutta-Code“ ist ein gleichmacherischer Ansatz, der dem denkbefreiten Zeitgeist offenbar zupasskommt. Er ist eine standardisierte Methode zur Kategorisierung der politischen Einstellung, die Ausnahmeregelungen nicht zulässt und sie sogar kategorisch leugnet. In letzter Instanz ist er eine ganz perfide Form des Antisemitismus, denn er wirkt wie der Abstumpfungsagent von Leuten, die ein reges Interesse daran haben könnten, dem Antisemitismus wieder zu mehr Schlagkraft zu verhelfen.
Denn wenn am Ende jeder ein verkappter Judenhasser ist, der die soziale Schieflage mit dem als verdächtig eingestuften Vokabular kritisiert, dann haben wir an allen Ecken und Enden der Republik offenbar antisemitische Tendenzen. Gegen diese begehrt man gar nicht mehr auf, weil sie zur Normalität werden.
Mahnen und warnen kann man dann noch so viel man will, irgendwann resigniert der Beobachter und empört sich auch dann nicht mehr, wenn ein wirklicher Vorfall von Antisemitismus vorliegt.
Ob die Rezipienten dann noch einen Unterschied zwischen dem vermeintlichen Antisemitismus von Corbyn oder den NachDenkSeiten und irgendwelchen rassegenetischen Kalauern eines selbsternannten Herrenmenschen erkennen, kann getrost bezweifelt werden. Vielleicht ist diese destruktive Haltung der wirkliche „Antisemitismus von links“. Die verkürzte Antisemitismuskritik der Amadeu Antonio Stiftung ist damit in gewisser Weise ein Beitrag zur Etablierung des Antisemitismus im Lande. Den NachDenkSeiten kann man in dieser Beziehung weniger als nichts nachsagen.
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