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Der anmaßende Kontinent

Der anmaßende Kontinent

Europa beansprucht traditionell, dass an seinem Wesen die Welt genesen solle. Das funktioniert in Zeiten eines grassierenden Bedeutungsverlusts immer weniger. Exklusivauszug aus „Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas“.

Es war nicht nur das Selbstbewusstsein der einstigen Supermacht Russland und die humanistische Prägung des Landes, die es für die USA unmöglich machte, Russland in jenen während des Kalten Krieges gestalteten Westen zu integrieren. Hinzu kam ein weiterer Faktor, nämlich ein spezifisches Merkmal der europäischen Kultur: Es handelt sich um ein Attribut, das Europa in der Tat von den meisten anderen Kulturen der Welt unterscheidet. Zugleich handelt es sich um eine Eigenheit, der während des Kalten Krieges eine überragende strategische Bedeutung zugekommen war, weshalb die kulturelle Dominanz über Europa einen Einfluss ermöglichte, der weit über Europa hinausreichte.

Worauf hier angespielt wird, ist ein Phänomen, das man den Universalismus der europäischen Kultur nennen könnte. Mit dem Begriff Universalismus ist die Fähigkeit der Kultur Europas gemeint, für sich selbst eine universale Bedeutung zu beanspruchen und über geraume Zeit auch erlangt zu haben. Lediglich der Islam ist historisch mit einem ähnlichen Anspruch aufgetreten, was bereits darauf hindeutet, dass diese Eigenschaft etwas mit dem Monotheismus zu tun haben könnte. Denn in gewisser Weise liegt dem Glauben an einen Gott die Annahme einer universalen Wahrheit bereits implizit zugrunde.

Der Begriff Universalismus hebt hervor, dass die europäische Kultur über weite Strecken der europäischen Neuzeit einen globalen Einfluss besessen hat. Sie war in der Lage, in andere Kulturkreise einzudringen und diese auf die eigenen Maßstäbe hin auszurichten.

Im Laufe der europäischen Neuzeit etablierte sich die europäische Kultur als Weltkultur, insofern als sie die Werte und Formen stiftete, anhand derer die Menschheit in die moderne Welt eintrat. Europa wurde auf diese Weise für andere Kulturen zum Maßstab und Vergleichshorizont.

Nun kann man an dieser Stelle einwenden, dass diese Fähigkeit Europa nur dank einer langen Periode der militärischen Überlegenheit und der durch sie ermöglichten imperialen Expansion zugekommen ist. Dass Europa seine eigene Kultur als Weltkultur etablieren konnte, lag schlicht und ergreifend an der Durchschlagskraft seiner Kanonen, der Reichweite seiner Kriegsschiffe und der Unverfrorenheit von Konquistadoren wie Hernán Cortés oder Francisco Pizarro. Das ist einerseits richtig und andererseits auch wieder zu einfach. Ja, der europäische Ausgriff auf die Welt wäre ohne die militärische Überlegenheit nicht möglich gewesen. Und doch muss darüber hinaus noch etwas hinzugetreten sein, denn mit reiner militärischer Macht ist nicht hinreichend erklärbar, wie es einem verhältnismäßig kleinen Land wie Großbritannien möglich gewesen sein soll, ein Viertel der Erdoberfläche und ein Viertel der Menschheit zu regieren.

Dieser Erfolg ist umso erstaunlicher, weil Europa zu Beginn der europäischen Neuzeit gar nicht die am höchsten entwickelte Region der Welt gewesen ist. Bereits hundert Jahre vor Kolumbus hatte der chinesische Admiral Zheng He mehrere Entdeckungsreisen in den indischen Ozean unternommen und dabei die Ostküste Afrikas entdeckt. Die Flotte, mit der er diese Entdeckungsreisen durchführte, war der späteren des Kolumbus an Größe und technologischem Niveau weit voraus. Und doch waren es die Spanier und Portugiesen und nicht die Chinesen, die den Ausgriff auf die übrige Welt begannen. Weshalb begnügten sich die Chinesen mit dem Transport einer Giraffe nach China, während die Spanier und Portugiesen ein Weltreich errichteten, fremde Völker zum Christentum bekehrten und ihre eigene Bevölkerung in fremden Erdteile ansiedelten ?

An einem hohen Selbstwertgefühl fehlte es China damals nicht. Das Land begriff sich als das Reich der Mitte, also als das Zentrum der Welt. Da alle an China angrenzenden Gebiete kleiner und weniger entwickelt waren, verstand sich China als die Ausnahme unter den Völkern, nämlich als der einzige wirkliche Staat und die einzige wirklich hoch entwickelte Zivilisation. Von Peking, das bereits seit 1421 chinesische Hauptstadt ist, wurden nach chinesischem Verständnis nicht nur die vielen Völker des Reichs regiert, sondern auch die Harmonie des Kosmos und der Natur stand in Beziehung zur Regierungspraxis der chinesischen Herrscher. Noch heute nehmen Chinesen ihre Hauptstadt als heilige Stadt wahr, weil das Geschehen dort nicht nur mit der Politik, sondern auch mit der Harmonie des Universums in Verbindung steht. Es war also nicht Bescheidenheit, die den Unterschied im Verhalten zwischen den Chinesen und Europäern des 15. und 16. Jahrhunderts erklärt.

Der Unterschied bestand darin, dass die Chinesen zwar den Kosmos und die Natur als Einheit wahrnahmen, aber nicht die Menschheit. Trotz ihrer hohen Selbsteinschätzung sahen sie sich nicht im Besitz einer universalen Wahrheit, die sich an alle Menschen gleichermaßen richtete.

Diese Annahme lag aber der Weltsicht der Europäer zugrunde, deren Glauben an den einen christlichen Gott, dessen Sohn zur Erlösung aller Menschen gestorben war, den Charakter einer universellen und damit prinzipiell auch den Heiden zugänglichen Wahrheit besaß. Eine Wahrheit zumal, die an den Menschen an sich gerichtet war, die ihn im ganz besonderen Maße meinte, egal auf welchem Kontinent er lebte und welcher Kultur er auch angehörte. Das Christentum gab den Europäern das Zutrauen, im Dienst einer universellen Wahrheit zu wirken. Denn wenn Gott in Gestalt Jesu Mensch geworden war, dann war auch der Mensch vergöttlicht, dann hatte es etwas mit ihm auf sich, dann besaß er eine Mission, aus der wiederum die Berechtigung zur Überschreitung von Grenzen abgeleitet werden konnte.

Dass China sich als Zentrum der Welt begriff, aber kein Bedürfnis verspürte, sich in die Angelegenheiten der Barbaren einzumischen, ja sich sogar gerne mit Mauern von diesen abgrenzte, hing auch damit zusammen, dass Politik in China stets bestrebt war, einen Harmoniezustand zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Ein zu großer Kraftzuwachs, eine zu weit reichende Expansion konnte hierbei sogar störend wirken.

Die Mauern, mit denen sich das Reich umgab, dienten somit auch dem Zweck, möglichst ohne Störungen von außen ein inneres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Den Europäern wiederum waren solche Erwägungen fremd. Sie glaubten umgekehrt im Besitz einer Wahrheit zu sein, die so universal sei, dass sie sich sogar an die Barbaren richtete, auch ihnen noch mitgeteilt werden musste, also im Prinzip für jedermann einsehbar war. Schließlich hatte Gott die Welt durch das Wort geschaffen, weshalb Gottes Wort in der Schöpfung anwesend, auffindbar und wirksam war. Denn wenn Gottes Wort seine gesamte Schöpfung durchdrang, so musste es auch aufgefunden werden können, etwa in Gestalt von Gesetzen, die durch Experimente erkennbar wurden und überall auf der Welt die gleiche Geltung besäßen.

Der christliche Glaube an den monotheistischen Gott hatte somit zu Beginn der Neuzeit den Boden für die Annahme einer universellen Wahrheit gelegt und somit auch die Grundlage für die Entdeckung der Vernunft und die Entwicklung der Wissenschaften geschaffen.

Der christliche Glaube hatte also ein ganzes Netz an Grundannahmen erzeugt, durch das sich die Europäer berechtigt fühlten, die Welt zu erforschen, auf sie zuzugreifen, sie als Einheit wahrzunehmen und sie nach ihrem Verständnis zu formen.

So wurde bereits erwähnt, dass es sich beim Christentum um eine Religion handelt, die das Absolute in der Zeit aufsucht und erwartet. Die Geschichtsbücher des Alten Testaments beschreiben die wechselseitige Bezogenheit von Gott und Mensch als ein Drama, welches an einem bestimmten Punkt in der Zeit seinen Anfang nimmt, sich in der Zeit entfaltet und wiederum in einer zukünftigen kommenden Zeit seine Erfüllung finden soll. Der Zeitraum zwischen dem Anfang und Ende dieser Heilsgeschichte, zwischen der Kreuzigung und Auferstehung Jesu und seiner dereinst versprochenen Wiederkunft, ist zugleich der Ort, an dem der Mensch in seiner jeweiligen Lebensspanne sich zum Bunde Gottes mit dem Menschen verhalten kann, indem er an Gott glaubt, aber auch indem er Gottes Wort hört beziehungsweise es im Fluss der Ereignisse wahrzunehmen und ihm die Treue zu halten versucht.

Die Wahrnehmung des gläubigen Christen ist somit in einem ganz besonderen Maße auf die Zeit bezogen. In der Zeit wartet er auf die dereinst versprochene Erfüllung, in der Zeit lokalisiert er das Absolute, in der Zeit sucht er auch den Bund mit Gott, und in der Zeit weiß er sich auch von Gott auf die Probe gestellt. Ein gläubiger Christ zu sein, bedeutet somit zu versuchen, durch die Ereignisse des Zeitgeschehens hindurch Gottes Wort zu erkennen und ihm die Treue zu halten (1).

Während in vielen anderen Kulturkreisen die Zeit gemäß den Jahreszeiten nach dem Prinzip der Wiederholung strukturiert ist und somit ohne den Druck der endgültigen Entscheidung an den Menschen herantritt, so ist für den Christen die Zeit ein Raum der Frist, damit auch des unwiderruflichen Beschlusses und letztlich der Bewährung.

Entsprechend angespannt werden die Veränderungen der Zeit beobachtet und registriert, wird auch das Neue in der Zeit wahrgenommen und in Hinblick auf die erfahrene Vergangenheit und versprochene Zukunft gewogen und interpretiert. Und weil sowohl die Offenbarung des christlichen Gottes als auch die versprochene Verheißung sich an alle Menschen richtet, selbst an jene, die vom Leiden und der Auferstehung von Gottes Sohn bislang nichts erfahren haben, ist für die Christen aus diesem Grund die Geschichte von vornherein Weltgeschichte. Da aber die Weltgeschichte letztlich Heilsgeschichte ist, ist es dem Europäer erlaubt, auf die übrige Welt auszugreifen und die vielen kleinen lokalen Geschichten der verschiedenen verstreuten Völker zu einer Weltgeschichte zu vereinen.

Es ist zwar wahr, dass im 15. Jahrhundert sowohl der indische Subkontinent als auch das fernöstliche China wesentlich fortgeschrittener und entwickelter waren als Europa. Doch weil Europa eine Kultur geformt hatte, die das Absolute in der Zeit lokalisiert hatte, war es auch die Kultur, der die Rolle zufiel, durch den Ausgriff auf die übrige Welt die vielen isolierten Geschichten der einzelnen Kulturen zu einer Weltgeschichte zu verbinden. Während in China die Verehrung den Ahnen galt und die Gegenwart am Ideal längst untergegangener Dynastien gemessen wurde, war Europa auf die Zukunft hin orientiert. Europa war auch deshalb befähigt, andere Völker in den Strudel der Weltgeschichte hineinzustoßen, weil es geistig schon viele Jahrhunderte in einer als Heilsgeschichte interpretierten Zeit gelebt hatte, die wiederum auf eine als universal empfundene Offenbarung bezogen war. All dies ermöglichte es Europa, sich als Vertreter der gesamten Menschheit, ja als Anwalt der Menschheitsgeschichte zu sehen und entsprechend zu wirken.

Zudem waren die Europäer durch ihre spezifische Zeit- und Geschichtswahrnehmung in der Lage, das Neue in der Zeit zu erkennen, es als Zeichen des versprochenen Heils zu sehen und zu ergreifen. So beschreibt der Religionsphilosoph Jacob Taubes den Zusammenhang folgendermaßen:

„War Fortschritt einst bei Paulus als Tilgung der Sündenspur exponiert, so konnte Fortschritt verzeitlicht zum Index für die Entwicklung von Gas, Dampf und Elektrizität werden“ (2).

Und so kam es mit dem Anbruch der europäischen Neuzeit in Europa nicht nur zur Entdeckung bis dahin unbekannter Kontinente und Völker, sondern auch zur Entwicklung des Welthandels, der wiederum die Entstehung einer kapitalistischen Wirtschaftsdynamik einleitete, die schließlich durch die Entstehung und Institutionalisierung der Naturwissenschaften und die dadurch ermöglichten technischen Neuerungen die einmal entfesselte Dynamik auf immer höhere Stufen vorantrieb (3).

Und so wurde Europa zum Zentrum einer Entwicklungsdynamik, in deren Folge die verschiedenen Völker zu einer Menschheit und ihre verschiedenen Geschichten zu einer Weltgeschichte verbunden wurden. Dass dieser Prozess höchst gewalttätig ablief, dass ganze Völker und Kulturen im Zuge dessen verschwanden, soll hier keinesfalls unterschlagen werden.

Doch die Analyse soll sich auch nicht politisch korrekt in der Verurteilung des europäischen Imperialismus erschöpfen, zumal die „Post-Colonial-Studies“ heutzutage auf eine sehr dialektische Weise in den Neokolonialismus eingebunden sind, ohne dies überhaupt selbst zu bemerken. Worauf es stattdessen ankommt, ist, zu verstehen, wie die europäische Kultur zur Weltkultur geworden ist und wie diese Rolle wiederum mit den geopolitischen Kämpfen der Gegenwart verflochten ist. Erst wenn dieser Zusammenhang verstanden ist, kann daraus auch eine Perspektive der Befreiung und Emanzipation abgeleitet werden.



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Quellen und Anmerkungen:

(1) Vergleiche Klaus Heinrich, Parmenides und Jona — Ein religionswissenschaftlicher Vergleich, in : Parmenides und Jona, Basel, Frankfurt am Main 1992, Seiten 122 bis 128.
(2) Jacob Taubes, Von Fall zu Fall — Erkenntnistheoretische Reflexion zur Geschichte vom Sündenfall, in : Text und Applikation — Poetik und Hermeneutik, Band 9, München 1981, Seite 116.
(3) Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem I-IV, Wien 2012.

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