Prolog
Ein Foto zeigt den jungen Bill Gates mit seinem Team vor der legendären Garage. Die Geburtshelfer des World Wide Web wirken in Outfit und Körpersprache wie Ausgeburten der Siebzigerjahre. Handelt es sich um eine fest gefügte Community? Sind es Individualisten? — Beides kaum! Eher gleichen sie Flippertypen im Ghetto zerfallender Utopien, langhaarig mit Marx Bart die einen, verschüchtert die andern, weltfremd, unorganisiert — wie geschaffen für die Transformation des Realen ins Virtuelle; Homines ludentes: Spieler, die von einem Tag auf den anderen die Seiten wechseln ...
Mit zahlreichen historischen Belegen unterlegt, formulierte einst Norbert Elias seine These von den Individualisierungsschüben, die den Prozess der Neuzeit wesentlich mit strukturierten. Aber das Individuum fand darin nie die Freiheit, die es erhoffte, wurde die Moderne doch bald schon durch Systemisierung und Vermassung, Beschleunigung und Dissoziation in ihren Potenzialen eingeschränkt. Im Schatten dieser Engführung, für die es viele Gründe gibt, wurde das „Individuum” zu einem Objekt gemacht, mutierte der Einzelne zum Atom inmitten der Masse, wurde er phänomenologisch auffindbar nur noch im Fragment.
Wie in einem Zerrspiegel werden inzwischen individuelle Werte wie Eigensinn und Authentizität nur noch als Angebote auf dem Markt betrachtet, denen eine aufgescheuchte Gesellschaft hinterherhechelt. Der Kult des Individualismus bleibt funktional auf den Markt bezogen. Dort aber wird er nur behauptet, kaum gelebt.
Wie ließe sich eine gelungene Individualität überhaupt noch denken? Eine Frage stellt sich in Coronazeiten in doppelter Dringlichkeit. Gegenwärtig wird das Verhältnis Gesellschaft und Individuum neu verhandelt — und in fragwürdiger, ja beklemmender Weise neu justiert.
Dort, wo man dem Individuum im Brustton moralischer Entrüstung die Solidargemeinschaft entgegensetzt, da wird es heute gefährlich. Dort wo Abstandhalten vorschnell zur sozialen Tat erhoben und versuchte Nähe als falsches Leben gebrandmarkt wird, wo die Corona-Impfung nicht nur als Notwendigkeit, sondern als quasi moralischer Imperativ auftrumpft, dem sogenannte Querdenker sich verweigern, da wird ein Bild vom Individuum vermittelt, das zutiefst voraufklärerisch ist. Und wo Individualität als gelebtes Leben nur in der abstrakten Form der Selbsterhaltung gehandelt wird und wir zuletzt auf unseren Körper zurückgeworfen werden, dem wir aber „bei Leibe” nicht trauen, da hat das Projekt „Individualität” keine Chance mehr, schon gar nicht das konkrete Individuum, das widerständig sein könnte und sich kraft Kritik immer aufs Neue selbst erschafft.
Fassungslos muss der Zeitbeobachter registrieren, dass sich der Diskurs um das Individuum, dem man Libertinage, Frivolität und Egomanie vorwirft, zynisch verengt — nicht zuletzt unter tätiger Mithilfe bekannter Philosophen wie Peter Sloterdijk und Richard David Precht. Sie werden zu Apologeten der Mehrheitsmeinung.
Es wäre dies wahrlich die Stunde, Individualität zum Thema eines intensiv geführten Diskurses zu machen. Wie ist es um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bestellt? Wie viel historische und mentalitätsgeschichtliche Vorgaben fließen in es ein?
Im Folgenden werden sieben Zugänge auf das Phänomen Individualität aufgewiesen: Bilder Szenen, Geschichten, Meditationen sollen Anregungen liefern: Wie konnten wir in diese Situation geraten?
Die Geburt des modernen Individuums aus dem Bewusstsein der Schuld
Das Bild eines unbekannten Malers aus dem 16. Jahrhundert, das ich an der Wand des Kreuzgangs im Kloster Corway sehe, zeigt einen Mann im Fegefeuer. Lodernde Flammen umhüllen ihn. Sein Gesicht und seine durchaus muskulösen Arme sind himmelwärts gewendet. Der vom Maler gewählte Focus richtet sich ganz auf ihn. Zu dieser Hervorhebung passt ex negativo auch, dass rechts oben fast am Bildrand das Motiv des göttlich thronenden Weltenherrschers vom Maler zwar aufgegriffen, aber offensichtlich lustlos oder in Kindermanier in das Bildganze eingefügt ist. Was die Proportionen angeht, erscheint der thronende Gott in peinlicher Weise minimiert, ganz im Schatten der Passion der armen und doch viril gezeichneten Seele stehend.
Noch im Mittelalter wäre diese Disproportion zwischen Mensch und Gott einem Tabubruch gleichgekommen. Die damals alles überragende christliche Heilsgeschichte wird vom Maler — vielleicht unbewusst — abgeschwächt zugunsten eines Narrativs, in dem eine einzelne Person den alleinigen Protagonisten abgibt. Man bekommt hier eine Ahnung davon, was Blaise Pascal — in etwa ein Zeitgenosse des namenlosen Malers — mit folgendem abgründigen Aperçu ansprechen wollte: „Das Ich ist ein Mehr von allem.” — Bedeutet das vielleicht auch ein Mehr gegenüber der „Allmacht” Gottes und — nach dessen „Tod” (Nietzsche) — gegenüber allem, was die Welt ausmacht? In welche Tiefen und Untiefen geleitet uns das Sprachbild?
Ein zweites Bildmotiv aus der spätmittelalterlichen Zeit geht auf Hieronymus Bosch zurück. In seinem großen Triptychon „Der Heuwagen” picke ich es aus einem Gewimmel von Menschen, Ereignissen und Symbolen heraus. Es zeigt einen zum Tode Verurteilten, der, von einem Schergen an einer Halskette geführt, vor einem Mönch niederkniet, der sich zu ihm hinunterbeugt, um dem Verurteilten die letzte Beichte abzunehmen. Man muss das Gesicht des Todgeweihten länger ansehen, um zu der Einsicht zu kommen, dass dieser Mensch sprichwörtlich ein Unikat darstellt: Sein hageres Gesicht und sein halb offener Mund sind trotz aller ihn umgebenden Symbole ein einziger Ausdruck und ein Eingeständnis von Schuld, die er mit niemanden teilen kann — eine letzte Entäußerung seines Lebenswillens, weisend ins Nirgendwo.
Erst das hebt ihn für uns Betrachter heraus aus dieser klassischen Bildallegorie vom Weltenlauf, die uns heute in ihren vielen mittelalterlich traditionellen Bezügen kaum noch anspricht. Ja dieses knochige Gesicht allein, voll Verzweiflung und kaum fassbarer Einsicht ins Unvermeidliche, bestürzt uns in ähnlicher Weise wie später Edward Munchs berühmtes Bild „Der Schrei”. Da ist dem spätmittelalterlichen Maler etwas Unverwechselbares gelungen — deutlich bezogen auf das Schicksal der Endlichkeit, die hier nackt ins Bild gesetzt ist und keine Brücke mehr zu Himmel oder Hölle bietet; es bleibt das, was das Ereignis faktisch hergibt: Eine Stunde später wird der Mann tot sein. Und das Weltgeschehen wird über ihn hinwegfegen wie über den „Engel der Geschichte” in der Perspektive von Walther Benjamin.
Denkt er in dieser Kniehaltung noch an irgendeine Vergebung oder an ein Heil, das ihm bevorsteht? Sieht er sich irgendwie noch geborgen in einer ritualisierten Menschen- und Glaubensgemeinschaft, die ihm eine Erwartung in Aussicht stellt? Eher als diese Hoffnung auf Kommendes fühlt sich der vom Tode schon Gezeichnete geworfen in ein Hier und Jetzt, in einen Augenblick, den sein Schuldbewusstsein und seine Verlorenheit ausfüllen.
Zugleich scheint dieses Bild uns zu sagen: Wer wirklich einzig sein will, muss sich gerade in dieser Augenblicklichkeit, die kein Moment der Heilsgeschichte mehr ist, erkennen und immer wieder aufs Neue erschaffen: Ich bin schuldig, ergo bin ich.
Nicht viel später entstehen in Europa, in Holland, Italien, auch deutschen Landen, die ersten Werke der Porträtmalerei. Sie sind weit entfernt von Schuldbewusstsein, aber auch von den antikisierenden Idealen der Renaissance, von der das Bild im Kloster Corway noch erzählte. In den Physiognomien der Porträtierten zeigt sich eine frühe Form der Bürgerlichkeit, die uns heutige Beobachter glauben lässt: Hier sehen wir konkrete Individuen, die zugleich in ihrem gediegenen aber auch vertrauenserweckenden Gesichtsausdruck wie ein Versprechen auf einen neuen Lebensplan wirken; wir erblicken Repräsentanten der urban sich bildenden Oberschicht, die sich ihrer Fähigkeiten und Geltung voll bewusst sind. Angst und Panik sind da nicht auszumachen.
Der Dramatiker Heiner Müller sah in diesen Porträts sprichwörtlich Bürger vor sich, mit einer gehörigen Portion Eigensinn, und er beklagt, dass diese Stifter einer angehenden Neuzeit in Deutschland spätestens mit dem Dreißigjährigen Krieg aus dem urbanen Gesichtskreis wieder verschwanden und selbst im bürgerlichen Zeitalter der Malerei des Realismus im 19. Jahrhundert nur rudimentär wieder auftauchten.
Halten wir motivisch fest: Sowohl die arme Seele im Fegefeuer als auch der zum Tode Verurteilte lösen sich in ihrer Intensität aus der christlichen Erzählung, was ihnen neben dem Verlust an Gottvertrauen einen Zuwachs an Individualität verschafft. Zugleich wächst in ihnen ein neues, eher beunruhigendes Zeitmaß. Die Kontinuität ist fürderhin für Menschen der Neuzeit das, was an Welt und Weltzeit ohne sie weitergeht: Demgegenüber wird der Augenblick bedeutsam, indem sich ein unverwechselbares Ich erfährt — allerdings in einer Topografie der Leere, die fern von Sinn schuldhaft auf ein Nichts verweist, dass es so vorher nicht gab — nun jedoch als ein Existenzial erfahrbar wird, das sich nicht mehr auf das Motiv der Erbsünde bezieht, sondern irgendwie in der Luft der Epochenschwelle wie Nebelschwaden des Ungewissen hängen bleibt. Das deutet das Bild an.
Ähnliches lesen wir bei Søren Kierkegaard und Martin Heidegger und Franz Kafka. Wir wissen nicht, für welches Vergehen der Verurteilte zu Tode gebracht wird — vielleicht war es nur ein kleiner Diebstahl —, aber heftig affiziert werden wir von seiner Physiognomie, die aller umsorgenden Sinnhaftigkeit enträt, in deren Verlorenheit wir Spätmodernen uns aber erstaunlich gut gespiegelt finden.
Das Porträtbild vom frühen Bürger hingegen scheint sich herausgearbeitet zu haben aus Schuld, Sühne und Heilsgeschichte, wobei der Porträtierte Letztere gegen einen gediegenen Lebenslauf mit nicht allzu viel Drama eingetauscht hat. So lauten dann die in die Moderne einfließenden Konzepte von Individualität so: die bürgerliche Individualität, die bestimmte Fragen wie „Wer bin ich?” nicht weiter stellt und stattdessen auf Tätigkeiten und Werke verweist, und die andere Individualität, die Schuld immer mehr umarbeitet in die Erfahrung einer Tiefe des Augenblicks, angesiedelt zwischen Nihilismus und fragilem Glück.
Wenn Martin Luther dann in seiner protestantischen Lehre den Glauben über die Werke und Tätigkeiten stellt und das je eigene Zwiegespräch zwischen dem sich schuldig fühlenden Individuum und Gott eröffnet, bedeutet das sicherlich einen Widerspruch — aber einen, mit dem wir leben können.
Der Tod als Schöpfer und Meister der Individualität
„Die Leber kommt zur Obduktion”, hören wir eine Stimme auf einem Klinikflur:
Die Leber — damit ist natürlich der Tote gemeint, der zwecks nachfolgender Sezierung in die Klinikkeller mit ihren blitzblanken Metalltischen gelangt. Aber man sagt eben nicht: Herr Müller kommt zur Obduktion, sondern eben die Leber. Dies gibt einen deutlichen Hinweis auf das Verständnis jenes Wesens, das in der anatomischen Pathologie als zu behandelndes Objekt dient — und zugleich den Status einer Einzigartigkeit einfordern darf.
Der medizinisch pathologische Blick gilt einem Toten, dessen Dasein auf den Grenzbereich zwischen Funktionieren und Nicht-mehr-Funktionieren eingeschränkt ist. „Wann können wir den Toten denn endlich abstellen“, fragt eine andere aktuelle Stimme, die ihre Klarheit auf den Unterschied zwischen Herztod und Hirntod gründet. „Fakt ist ...”, hebt eine dritte Stimme an. Aber was ist Fakt, wenn es um den Tod des Individuums geht — eines Wesens, das für sich in Anspruch nimmt, einzigartig jenseits eines puren Faktums zu sein. Haben diese sich widersprechenden Phänomene eine Geschichte?
Im italienischen Padua wurde 1595 die erste medizinische Fakultät der Neuzeit eingerichtet. Ihr Herzstück, das sich auch heute noch in gutem Zustand befindet, ist das „Teatro Anatomico”, ein trichterförmig angelegter Hör- und Seziersaal. Unten in der Mitte des elliptischen Raumes steht ein nach innen aufklappbarer Tisch. Steil nach oben verlaufen, ähnlich wie in antiken griechischen Theatern, sechs Zuschauerränge mit engen Sitzplätzen. Die ersten Studenten der Medizin — der pathologischen Anatomie, um genauer zu sein — sollten ohne Ablenkung ihre Aufmerksamkeit nach unten richten. Dort auf dem Tisch lag ein Toter. — Nein: Dort lag ein toter Körper.
An dieser Stelle entstand — glauben wir dem Philosophen Michel Foucault — eine neue Topografie um den Menschen; die moderne Medizin formierte sich als ein vom Tod dominiertes Wissen im Raum. Alle Augen starren in einen Abgrund, gebannt auf etwas, das sich nicht mehr rührt — von dem man aber gerade deshalb entschieden Kenntnisse über Bewegung, Leben und vor allem Krankheit erhofft. Der Blick, den Foucault zudem als Blick eines Haifisches bezeichnet, führt ihn in das Wesen der modernen Medizin. Seine überraschende, wie nüchterne, ja bedrohlich einfache Diagnose lautet. Es war die pathologische Anatomie, die der neuen Wissenschaft zum Sieg verhalf.
Das Starren aufs Erstarrte fungierte als Wissenstor: Was nicht mehr lebte, wurde daraufhin befragt, wie es hatte krank werden können und infolgedessen zum notwendigen Tod führen musste. Vom „Nicht-mehr-Funktionieren” erhoffte man einen Weg zum Leben — was aber eine Engführung bedeutete: Denn so wurde auch das Leben eingeschränkt aufs Funktionieren. In der für Foucault typischen Art verfolgt der Philosoph und Rechercheur an Hand der Sprachgebungen und Methoden den Prozess, der als Krankheit vom „Sein” zum „Nicht-mehr-Sein” führt. Dabei bedingen die Vorgänge der Krankheit zum Tode und die Methode der anatomischen Pathologie einander. Sie sind aufeinander bezogen unter dem Aspekt der Analyse.
Kühle diagnostische Worte, Sezierinstrumente, fixierende Blicke in Raum und Körpertiefen: Die pathologische Anatomie hält Sprache und Sache fest im Griff. Die Krankheit kann analysiert werden, weil sie als Krankheit selbst Analyse, also Auflösung ist.
Historisch — so Foucault — bedeutete das eine Revolution in dem Verhältnis, in dem Leben, Krankheit und Tod zueinanderstehen. Für die ältere klassische Medizin wurde Krankheit aus dem Wesen des vielfältigen Lebendigen verstanden. Der Tod blieb — so Foucault — hier das Dunkle, optisch wie begrifflich nicht Verfügbare. Die Krankheit erschloss sich aus einem nosologischen Wahrnehmungstableau, das heißt, sie bestimmte sich aus einer Ökologie der Körpersäfte. Oder sie wurde als Text einer vorher noch unentdeckten Geschichte offenbar.
Ende des 18. Jahrhunderts kam es dann — folgt man Foucault — zu einer Umgestaltung auf der Ebene des Wissens. Die Krankheit wurde nun auf dem Seziertisch geklärt, auf dem der tote Körper zur lokalen Größe oder zum Körper an sich schrumpft.
Foucaults so provozierende, spekulative wie erschütternde Diagnose hat er in dem — was sein Gesamtwerk betrifft — eher unbeachtet gebliebenen Werk „Die Geburt der Klinik“ in Sprache gegossen:
„Nunmehr bilden Leben, Krankheit und Tod eine technische und begriffliche Dreifaltigkeit. Die alten Kontinuitäten, die im Leben die drohende Krankheit und in der Krankheit die Nähe des Todes ansetzten, sind gebrochen. An ihrer Stelle erhebt sich nun eine Dreiecksfigur, deren Spitze der Tod einnimmt. Von der Höhe des Todes aus können die organischen Abhängigkeiten und pathologischen Sequenzen gesehen und analysiert werden. Der Tod ist nicht mehr das, was er so lange Zeit gewesen ist: die Nacht, in der sich das Leben auflöst und selbst die Krankheit trübt; er ist nun jene Macht, die den Raum des Organismus und die Zeit der Krankheit beherrscht und ans Licht bringt. Das Privileg seiner Zeitlosigkeit, das ebenso alt ist wie das Bewusstsein seiner Bedrohlichkeit, wird zum ersten Mal zu einem technischen Instrument, das die Wahrheit des Lebens und die Natur des Leidens in den Griff bekommt. Der Tod ist nun der große Analytiker, der die Verbindungen zeigt, indem er sie auflöst, der die Wunder der Genese in der Unbarmherzigkeit seiner Zersetzung aufleuchten lässt. Diese Zersetzung ist eine Dekomposition in vollem Sinne des Wortes; die Philosophie der Elemente und ihrer Gesetze, findet im Tod, was sie vergeblich in der Mathematik, in der Chemie, in der Sprache gesucht hatte: ein unüberbietbares von der Natur selbst vorgegebenes Modell“.
Aber damit nicht genug der bestürzenden Diagnose:
In seinem Vorwort zu dieser kleinen Schrift zeichnet Foucault noch einen weiteren Zusammenhang zwischen dem Tod und der modernen Geschichte der Menschen, die sich ja bekanntlich am liebsten als Prozess der Individualisierung zu erkennen geben will.
Diese so oft im Kontext der Aufklärung hervorgehobene Individualisierung wurde jedoch — und das ist das Neue, auf das Foucault verweist — eben nicht auf philosophische oder poetische Initiativen hin bahnbrechend für die Moderne, sondern kraft des Paradigmenwechsels, der in den Kellern der Pathologie vollzogen wurde. Ohne diese Wurzel — so Foucault — hätte es den uns heute so unverzichtbar erscheinenden Weg zur Individualität gar nicht gegeben. Ein Zitat dazu:
„Das Individuum ist nicht die anfängliche und ausgeprägteste Form, in der sich das Leben darbietet. Es wird dem Wissen erst am Ende eines langen Verräumlichungsprozesses zugänglich, dessen entscheidende Instrumente ein bestimmter Gebrauch der Sprache und eine diffizile Verbegrifflichung des Todes gewesen sind.“
Diese raumgreifende Verbegrifflichung des Todes ist geradezu eine höhnische Abrechnung mit all den romantisch poetischen Vorstellungen vom Individuum und dessen Tod. Von Novalis bis Heidegger sah man sich auf diesem Feld im absoluten Vorrang und Vorteil gegenüber all dem objektbezogenen Wissen. Der jeweils eigene Tod als Vollendung individueller Einzigartigkeit: für Foucault nichts als ein Traumgebilde — und womöglich der hilflose Versuch, sich den Tod des Individuums als Apotheose des Einzigartigen umzudeuten.
Für Foucault aber folgt aus seinem Befund, dass kein romantisches Antriebsmittel den Begriff des Individuums geprägt hat. Vielmehr dürfte die Lektion der Medizin weitaus folgenschwerer unseren Begriff von Individuum in unserem Alltagsbewusstsein bestimmen: Das Individuum erfährt sich nicht aus einer lebendigen Vielfalt und fließenden Strömen, sondern als Summe aus Fragmenten, dysfunktionalen Organen, die der Tod jeweils ans Licht bringt. Eben mit Röntgenauge, Skalpell und Analyse wird nach Foucault der Ort des Individuums gemessen und ausgeschritten. Die Folge ist ein „Sein zum Tode”, so wie es sich Martin Heidegger nie hätte träumen lassen. Zwar sind wir je als Einzelne auf den Tod zurückgeworfen, aber diese Absonderung folgt keiner Idee vom Individuum, sondern dem des objektivistischen Blicks auf das Vereinzelte, das vereinzelte Organ: „Die Leber kommt zur Obduktion ...“
In der Folge dieser objektivistischen Vereinzelung gedeiht indes ein universeller Gedanke — zugleich eine Abstraktion ungeheuren Ausmaßes. Eine polare Entgegensetzung zwischen Leben und Tod, die unsere polare Kultur kennzeichnet wie Jean Baudrillard weiß: Wir sind deshalb eine Kultur des Todes, weil wir ihn zwanghaft dem Leben entgegenstellen. Die Folge ist dann an einem Leben erkennbar, das sich nur als Selbsterhaltung zu definieren vermag. Was zu der irrigen Annahme führt, wenn wir ganz auf Lebenserhaltung setzen, sind wir dem Tod fern — aber ganz bei uns. Aber das sind wir gerade nicht, denn es verhindert ein individuelles Leben, das ja nur aus einer Komplexität und in symbolischem Austausch mit dem Tod möglich ist — als eine kollektiv zu denkende Kultur, die Beziehungen, Interdependenzen und verschattete Dialoge in sich entwickelt. Sind wir damit nicht mittendrin in der gegenwärtigen Geschichte der Gefühle — der Maßnahmen und der Diskursblockade?
Das Individuum hat keine Fenster (Leibniz)
Holländer stehen heute noch tief in der Tradition des Calvinismus, der sich dadurch auszeichnet, dass er ein eigentümliches Menschenbild pflegt: Einerseits ist der Mensch abgrundtief schlecht, andererseits in all den Paradoxien, die uns Calvin auf den Weg der Moderne mit gegeben hat, fast zeitgemäß effizient und Türen öffnend zur freien Entfaltung. Ein schönes Beispiel hierfür liefert im Calvinismus das Verhältnis von Verbergung und Transparenz. Es bietet einen Wegweiser für das richtige Leben.
Dieses ist auch heute noch sinnlich einsehbar, wenn man in einigen Regionen in Holland unterwegs ist und ohne Hindernis — was in der Regel heißt: fern von Gardinen und Fensterläden — von draußen in die Wohnstuben schauen kann. Warum nur diese „Zur Schaustellung der Privatheit“? Man kann alles sehen, wo doch gerade bei Calvinisten an anderer Stelle schüchterne Verbergung und tiefe Scheu vor Transparenz dominieren. Vor allem, wenn es um Dinge wie Reichtum und Geld geht.
Die calvinistische Aufforderung zur Transparenz bei gleichzeitiger Verbergung von finanziellem Status und Kapital ist bekanntlich eine der Paradoxien im calvinistischen Weltbild. Dieses geht bekanntlich davon aus, dass von Gott schon alles vorherbestimmt ist, individuelle Unterschiede zwischen den Menschen aber noch möglich sind, weil die Prädestination (Vorherbestimmtheit) sich als Gnade Gottes schon auf Erden zeigt: eben durch Reichtum und Wohlhabenheit. Sie sind Indikatoren der Gnade Gottes, dürfen aber nicht in Renaissancemanier ausgestellt und genossen werden. Mit anderen Worten: Ein menschliches Schicksal ist der Vorherbestimmtheit und der Gnade Gottes anheimgegeben — aber der Mensch gewinnt eine merkwürdige Beteiligung an diesem Gnadenbeweis dadurch, dass er sich fern aller Libertinage asketisch verhält.
Ein holländischer Theologe verwies mir gegenüber auf ein persönliches Beispiel für diese paradoxe Haltung: Sein Vater, ein wohlhabender Kaufmann, fuhr zur Sonntagsmesse mit einem Mercedes, suchte diesen aber zugleich verschämt in einer unbeachteten Ecke in Nähe der Kirche zu parken.
Es verwundert kaum, dass Max Weber hier die Wurzeln für den neuzeitlichen Kapitalismus ansetzt: Er konnte aus einer Mentalität entstehen, die eine Ethik der Askese mit hoher Effizienz im Anhäufen von Kapital verbindet. Die Unbeirrbarkeit der Maxime, „immer mehr anhäufen ” hatte in der Askese einen noch die da gewesenen Verbündeten. Dahinter stand die Genugtuung, in der Gnade Gottes zu stehen. Die Prädestination, die in ihrer Verwickeltheit auch die doppelte Prädestination genannt wird, schuf indes nicht nur einen modernen Kapitalismus, er prägte auch die härteste Währung der Neuzeit überhaupt, in der wir uns austauschen — auch nach dem Tod Gottes: die Paradoxie.
Wie lässt sich Determination überhaupt mit dem Gedanken der Freiheit verbinden? Offensichtlich ist es so, dass menschliche Innovation dort aktiv wird, wo eine unauflösbare Paradoxie sie herausfordert. Modernes Bewusstsein und moderne Mentalität, aber eben auch Eigenart und Eigensinn in der Geschichte entstehen aus dem Geiste von derlei unaufhebbaren Widersprüchen. Hier zeigt sich auch ein Geburtsimpuls für moderne Individualität: Sie füllt die Leerstelle auf, die sich auftut, wenn wir der großen Erzählung nicht mehr glauben.
Von diesen Paradoxien gibt es viele. Unter anderen eben auch die oben angesprochene zwischen Transparenz und Verhüllung beziehungsweise Verborgenheit.
Ein Exempel dazu liefert uns der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz mit seiner schönen These „Das Individuum hat keine Fenster” — womit, wie immer man das auch begründet, die Individualität in einen hohen Rang gesetzt wird: Sie ist von außen betrachtet und auch vom Begriff her nicht fassbar in ihrer ganzen Tiefe — ein Fall von Verborgenheit also.
Ein weiteres Beispiel bietet der Urbanforscher und Soziologe Mike Davis, wenn er das althergebrachte Muster von Transparenz und Öffentlichkeit gegen das der Verborgenheit und Privatheit in den Focus rückt und an Hand riesiger Bürogebäude in Los Angeles neu taxiert: Die Fenster dieser Gebäude zeichnen sich dadurch aus, dass sie von außen getönt und undurchdringlich sind, von innen jedoch nach außen Klarsichtigkeit erlauben. Davis schließt daraus, dass hier der öffentliche Raum entwertet, ja außer Kraft gesetzt, der Raum der privaten Gewinnmaximierer aber aufgewertet wird. Ein Machtgefälle entsteht also. Eine Individualität, die auf einer befreiten transparenten Öffentlichkeit und einer geschützten Privatsphäre fußt, kann so nur rudimentär entstehen. Sie wird abgeschottet, steht unter Beobachtung und wird daran gehindert, sich zu bilden und ins Offene, auch Widerständige zu wirken. Geschieht das nicht gerade?
Die systemische Verknappung der Individualität und eine Begegnung in der Toskana
Die Philosophie Niklas Luhmanns steht nicht allein als ein Denkgebäude vor uns; sie wird beredt und virulent im Grenzbereich zwischen einer Theorie im „Geiste der Zeit” und dem Hinübergleiten dieser Theorie in den gelebten wankelmütigen „Zeitgeist” — was so viel besagt wie: Sie nötigt dem Denkenden einen Abstand zum gegenwärtigen Geschehen ab und eignet sich gerade so dafür, einen Lebensstil und ein Milieu zu kreieren, die beide als angenehm empfunden werden und oftmals in einem wohldosierten Zynismus münden — eine Haltung des Laissez-faire, die sich nicht mehr um die Wahrheit der Theorie kümmert und die Gedanken wie Stilblüten arrangiert.
Das besticht besonders da, wo Luhmann in seiner Sprache äußerst knapp verfährt, sein Denken fast in die Nähe eines Statements rückt oder gar in den semantischen Bereich des Aperçus vorstößt. Wie etwa Folgendes, das sich anschickt, der Individualität ein Gesicht zu geben.
„Die Umsetzung der gesellschaftlichen Systemdifferenzierung in ein sachlich und zeitlich je einmaliges Rollenmanagement — das ist der Mechanismus der Individualisierung.”
Ich lasse den Leser zunächst mit dieser „Reduktion von Komplexität” allein, verweise ihn indes auf den Sound, in dem diese Definition an Freund und Feind — den Lesern — vorbeirauscht. Diesen Sound gilt es hörbar zu machen.
Dazu eine Episode:
1978 war ich mit Freundin nach Bologna getrampt zu Bekannten, die dort in das Land, wo die Zitronen blühen und ein kommunistischer Oberbürgermeister die Stadt Bologna regierte, eingewandert waren. Auf einer Fete — so hießen Partys damals noch — etwas außerhalb der Stadt, lernte ich einen Typ um die 30/35 kennen, der sich bald schon politisch geistig als Konvertierter outete: Er war sozusagen von Jürgen Habermas, Theodor Adorno und Antonio Gramsci auf Luhmann gestoßen — und das beflügelte sein Dasein in der Welt.
Mit Luhmann sah er die Dinge lockerer und hatte schnell zu allen möglichen Themen — darunter auch die Liebe, die damals als „Beziehungskiste” diskutiert wurde — ein Argument zur Hand: Überall ging die Rede um Reduktion von Komplexität, verknappte Statements bildeten die Gesprächsrunde und ein leicht hin- und her wogender Grundton überwog, der vom Bielefelder Professor für Verwaltung auf die Schallplatte des Zeitgeistes gelegt wurde: So ließ sich offensichtlich trefflich leben — an der RAF, die damals den Deutschen Herbst inszenierte, und auch an den selbstquälerischen „Sektierern” vorbei, zu denen unser Mann unlängst selbst noch gezählt hatte. Vor allem aber genoss er eine Heirat: die zwischen dandyhaftem Zynismus und einer Systemfixierung, die wahrlich alles umschloss, was irgendwie „Sache” war: die Ideologie, die Wirtschaft, die Religion — und natürlich auch eine neue Lesart des Individuums. Also dann noch mal das Zitat:
„Die Umsetzung der gesellschaftlichen Systemdifferenzierung in ein sachlich und zeitlich je einmaliges Rollenmanagement — das ist der Mechanismus der Individualisierung”.
Es ist für einen, der das Ineinander von Geist der Zeit und Zeitgeist in den Siebzigerjahren erlebt hat, schwer, die Systemtheorie vom damals real sich vollziehenden Individualisierungsschub und demgemäß auch vom Individuum abzuheben und sie für sich geltend zu machen. Ist nicht der Wechsel in den Überzeugungen, zumal wenn er durch Erfahrungen und auch Enttäuschungen angestoßen wurde, ein Hinweis auf Variabilität und somit allein schon ein Ausweis von Individualität — oder trifft eher das Gegenteil zu? Man könnte hier noch einmal die zahlreichen Versuche ins Feld führen, die Individualisierung historisch oder strukturell untersuchen. Hier interessiert mich nur der direkte Zusammenstoß der Phänomene im damaligen Zeitgeschehen und dessen Deutung durch ein sich unerschütterlich zeigendes Theoriestatement mit eigener Grammatik und Semantik.
Auffällig an diesem Statement ist ja seine starke Prägung durch Substantive, die bestückt mit wenigen Adjektiven und dem Verb „ist” in sich schon formal anzeigen, worauf es dem Systemtheoretiker ankommt.
Dadurch, dass nicht nach der Individualisierung selbst, sondern nach dessen Mechanismus gefragt wird, erscheint Individualität funktional fixiert zu bleiben, quasi auf den Begriff gebracht, wobei es vernachlässigenswert erscheint, was Pascal in seinem Aperçu „Das Ich ist ein Mehr von allem” sagen wollte. Vorher noch geht Luhmann von seinem Kernstück der „Systemdifferenzierung „ aus, in dessen gefestigten Horizont die Frage nach dem Mechanismus der Individualisierung eingerückt wird. Von hier aus wird die Umsetzung angesprochen, und ein Hauch von Subjektivität kommt ins Spiel, wenn das Rollenmanagement auf einen Manager schließen lässt, der sich sachlich und zeitlich konkretisiert.
Insgesamt entsteht der Eindruck, Individualisierung werde definiert im Rahmen eines Prozesses, in dem Impulse wirksam werden, die irgendwo im Grenzbereich zwischen Subjektivität und Objektivität changieren. Die Definition von Individualität sucht geradezu den Leerraum zwischen Subjektivität und Objektivität in fast lakonischer Noblesse zu füllen. Das macht ihren Reiz aus, bleibt aber im Bann purer Begriffsrhetorik. Womit wir wieder bei der Episode aus den 1970er-Jahren angelangt sind. Das zitierte Statement bot wie viele andere von Luhmann Schutz in bleierner Zeit damals — es lieferte eine Art Ontologie, die bis in den Zeitgeschmack hineinwirkte und die Utopisten von einst aus ihrem Leiden an der Realität erlöste.
Nicht zu vergessen: Die Toskanafraktion bildete sich damals — und die Angebote für individuellen Eigensinn schöpften aus Luhmann‘scher Theorie und der Wahl des besten Weins. Man war ja schließlich in Italien, genoss die Basilikumkartoffeln, konnte dabei zwanglos Luhmann zitieren.
Nietzsches Überstieg des Individualismus
„Wer gelernt hat, dass es das Allerfurchtbarste ist, als ein Individuum zu existieren, wird nicht bange sein zu sagen, dass es das Größte ist."
So weit Søren Kierkegaard in einer seiner zahlreichen prägnanten Äußerungen zur menschlichen Existenz— vielleicht der letzte, nach Pascal womöglich auch einzige Versuch, das Individuum und die Religion irgendwie zusammenzubringen. Auch Kierkegaard kommt dabei nicht ohne Paradoxien aus, die die Moderne in ihrer DNA trägt. Aus denen er sich dann durch eine riskante Empfehlung befreien will: durch den „Sprung in den Glauben”.
Das geht bei Friedrich Nietzsche bekanntlich nicht mehr: „Gott ist tot” — ein Diktum, das den ganzen Festzug der christlichen Heilsgeschichte auf ewig zum Stillstand bringt und dabei auch die aus ihr sich ableitende Kulturgeschichte der Neuzeit aus den Angeln hebt.
Nietzsche scheint wie geboren und gemacht für die Obsession, die moderne Individualität auf den Begriff zu bringen — nein „Begriff” wäre hier das falsche Wort, er möchte sie auf die Spitze treiben, wo sie sich selbst transzendiert, wo Wahrheit nicht behauptet, sondern gelebt wird.
Im Werk Nietzsches heißt die Lösung gegen alle metaphysische Philosophie gerichtet „Poesie” — eine Poesie, die als Erkenntnisart und Lebensart zugleich gesucht wird.
Es ist denn auch ratsam, diese Lösung — vielleicht auch Erlösung — in Nietzsches einzigem Roman „Also sprach Zarathustra” zu suchen, vor allem wegen der Topografie, die diesen Roman framt.
Denn Zarathustra ist nicht irgendwo und schon gar nicht in den Städten. Er befindet sich weitestgehend in der Wüste, wo er quasi zu Sand und Steinen spricht. Naturgemäß erinnert diese Klausur im Offenen an so manchen Messias und Propheten. Auch die Diktion und der Sound lassen Vergleiche mit Erlösern zu.
Allerdings gibt es einen gewaltigen Unterschied. Für Zarathustra ist diese Wüste kein Lebensraum der Abstinenz, kein Purgatorium, das Buße oder Askese bereithält, sondern wird zum Lichtraum des „Ganz Anderen”. Er sucht hier nicht nur das Geheimnis des Lebens und der Geschichte zu finden, sondern das Leben selbst.
In diesem Wunsch entspricht er dem Einzelnen, der sich als Individuum erfinden und zugleich zu überwinden sucht. Die größte Rolle spielt dabei eine Art Stillstehen in der Zeit, an deren Stelle der Augenblick tritt — der tiefe Augenblick. Zwei Mal zeigt er uns im Roman ekstatische Augenblicke, die es wahrlich in sich haben. Der eine öffnet sich ihm am Mittag als Erfahrung — nein besser als Epiphanie des Glücks, was heißt: Er wird ganz Wahrnehmung, ja Wahr-Nehmung.
„Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Augenblick — wenig macht die Art des besten Glücks. Still! Was geschah mir? Horch! Flog die Zeit davon. Fall ich nicht — horch! in den Brunnen der Ewigkeit."
Es ist der Augenblick, der hier der Ewigkeit trotzt, ja diese in sich integriert.
Die zweite Wahrnehmung geschieht ihm dann zur Mitternacht. Es ist wohl eines der ungeheuerlichsten Gedichte, die je verfasst wurden:
O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief —,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: —
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh —,
Lust — tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit —,
— will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Nietzsche/ Zarathustra befindet sich hier auf der Spitze der Moderne, wo die Koordinaten für Individualität und Kollektivität neu eingepflockt werden. Nietzsche lässt das Individuum in einen dionysischen Rausch, eine Feier der Sinne, eintreten, wo es sich erfüllen und zugleich transzendieren kann. Was dabei herauskommt, ist Poesie, ein „Amor fati”, eine Liebe zum Leben, die sich im tiefen Augenblick entbirgt. Um mit Hölderlin zu sprechen: „Mehr bedarf´s nicht.“
Die Leere und das gezeichnete Ich
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere
Was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Das ist unverkennbar, selbst für gelegentliche Leser, Gottfried Benn. Einige Dekaden nach Nietzsche markiert er fast in soldatischer Manier die Essenz des Daseins. Es gibt für ihn da nichts zu beschönigen. Kein „Hirte des Seins” inmitten von Seinsvergessenheit wird angerufen wie bei Martin Heidegger, eisig einsam mit sensiblen „Flimmerhärchen” ausgestattet, flirrt dieses Schmetterlings-Ich durch die Welt; die Geschichte und die großen Narrative steuern dazu nichts Wesentliches bei: Für Benn sind sie nur das Material, das im günstigsten Fall die „Leere”, um das Ich herum zum Leuchten bringt. Einen Begriff wie „Individuum” würde der desillusionierte Militärarzt Benn nicht für dieses „Ich” einsetzen wollen, wäre es doch für ihn zu sehr in eine Dialektik mit Zeit und Gesellschaft verstrickt.
Und doch möchte man gerade diesem Ich, dem „Opfer des Ion” und „Gammastrahlenlamm” — so wird das Ich in einem anderen Gedicht ausgewiesen — etwas entgegenhalten. In der Epoche der Romantik und der digitalisierten Welt heute wäre der Rhythmus der Gedichte anders gewählt worden — auch der Phänotyp der Stunde wäre ein anderer.
Andererseits fällt auf, dass heute kein Poet mehr diese verknappte poetische Magie erzeugen könnte wie der antiromantische Romantiker Gottfried Benn. Oder doch? Dazu eine kleine Geschichte aus den 1990er-Jahren. Sie rankt sich um drei Songs.
Eine der prägendsten Manifestationen im Selbstverständnis der 1990er-Jahre lieferte der Song von Frank Sinatra „I did it my way.” Er gestattete gewissermaßen den Exekutoren des Neoliberalismus eine Feier ihrer geschichtlichen Sendung. „I did it my way.” - „Ich machte es auf meine Weise”: Das war das Zeugnis für eine damals zeitgemäße Individualität, die Ecken und Kanten auszeichnete, aber auch Fehlgriffe als Ausweis von Einzigartigkeit stolz mit einbezog. Mit glänzenden Augen sangen die Brooker und Shareholders abends in der New Yorker Bar mit „the voice” diese Hymne.
Ähnlich in der Zeit röhrte Tina Turner ein Urteil über einen, der alle anderen scheinbar überragte:
„You‘r simply the best — better than all the rest ...”
Das kann man/frau schon mal sagen, wenn man/frau verliebt ist — wenn auch „better than all the rest” despektierlich eine schnöde Masse ex negativo als Gegenbild mit einbezog — wohl um die Einzigartigkeit des Lovers zum Leuchten zu bringen.
Wie wir indes von Adorno wissen, ist der Kontrast Massenmensch und Individuum in unseren Zeiten nicht mehr naiv im Urteil heranzuziehen: Das Individuum tritt uns ja gerade als atomisierter Massenmensch entgegen.
Wie besessen man vor 20 Jahren vom Gedanken einer zeitgemäßen hymnischen Individualität war, zeigt indes diese Werbung von IBM:
„Auf den Sprung, in jede Richtung, am besten bis gestern, anspringen, Ergebnisse bringen, fokussiert sein, on-line, sich bewegen, sehen, wo Trends entstehen, informiert, intim intakt, synchron, vor zwölf, über Nacht, bevor es ein anderer macht, mit einem Wort ‚ on‘, on demand.“
Wahrlich: In solche entfesselte Euphorie ist heutige Individualität nicht mehr zu verpacken. Das Individuum bildet sich in diesem beschleunigten Text im Perspektivismus seiner Wahrnehmungen, es gleicht einem Atom, das seinen Kern in den Fliehkräften seiner Auflösung besitzt. Bezeichnet dieses zutiefst physikalische Bild das letzte Stadium in der Geschichte des modernen Individuums?
Nein, es gibt auch noch andere Manifestationen des Individuums. Dazu noch ein weiterer Song, einige Jahre vorher entstanden, von Lou Reed und der Band „Velvet Underground” mit dem Titel „A perfect day”:
Just a perfect day
Drink sangria in the park
And then later, when it gets dark
We go home
Just a perfect day
Feed animals in the zoo
Then later a movie, too
And then home
Oh, it's such a perfect day
Das hat schon was, so einfach es auch daherkommt. Der individuelle Eigensinn ist spürbar, gerade da, wo dieser Tag einfache Äußerungen des Lebens ermöglicht und frei setzt. Letztlich sind es solche Erlebnisse und Erinnerungen, die Individuen nicht nur verzaubern, sondern überhaupt erst entstehen und reifen lassen. So etwas individuell Schönes ist nicht möglich, ohne das Bewusstsein der Endlichkeit, das diesen Tag aber auch das Leben bis zum Tod und selbst darüber hinaus auszeichnet.
Sie rufen uns die bald zwei Jahre währende Blockade von Leben zurück, die uns der Philosoph Peter Strasser in berechtigter bitterer Einsicht so beschreibt:
„Wir haben die Lust am Leben eingetauscht gegen die Gier, nicht sterben zu müssen.”
Einwurf zu Sloterdijks Vorstellung vom Individuum in Coronazeiten
Man hatte sich schon ein wenig erschöpft gezeigt, was die ewigen Fragen zum Allgemeinen und Besonderen, zum Subjekt und Objekt, natürlich auch zum Individuum und zur Gesellschaft angeht. Man hatte herausgefunden, dass Individualität zwischen dem Anspruch auf Authentizität und Performance etwas prekär, von Regularien des Marktes überformt schien und zuletzt im Flow eine Form der Selbstentäußerung in den Fluss der spätmodernen Weltseele ermöglichte. So weit, so gut.
Dann kam Corona — ein an den Rändern immer mehr zerfaserndes Szenario von Meinungen und Fakten, weniger ein Narrativ, wie immer gern behauptet wird.
Corona allerdings bot dem Philosophen Peter Sloterdijk eine unverhoffte Steilvorlage. Der Erfinder der ontologischen Unterscheidung zwischen Kynismus und Zynismus, der Künder eines Menschenparks mit Zuchtanweisungen fand im Dschungel der zunächst ohne ihn laufenden Diskurse — die aber keine waren — einen Impuls zum Nach- und Weiterdenken. Besonders angetan zeigte er sich von der Frage, wie man dem Einbruch des Virus nicht nur durch geeignete Maßnahmen, sondern mithilfe einer ganz neuen Einstellung zur Welt, zum Ich, zur Wahrheit und so weiter zu begegnen habe. Unverbrüchlich in der Basisauffassung, dass die Pandemie ein mundanes Ereignis sei und keine verschwörungsstheoretischen Beschwichtigungen ertrüge, zielte Sloterdijk schon bald auf die seiner Meinung nach notwendigen Abstandsregeln. Sie dienen ihm aber auch als Vorwand oder sogar als Blaupause für die Neubestimmung des Verhältnisses von Individualität und Kollektivität.
Der Philosoph geht dann auch bald aufs Ganze: Individualität — in diesem Falle die Weigerung, sich impfen zu lassen — habe in Coronazeiten zurückzustehen gegenüber dem Wohl der Gemeinschaft. Ja, damit nicht genug: Im Abstandhalten lasse sich ein zuletzt schmerzlich vermisster Heroismus aktivieren.
Dieser erst ermögliche ein Überleben der Weltgemeinschaft und — für Sloterdijk besonders wichtig — ein ästhetisierendes Pathos der Distanz, das ihm seit seinem Roman „Der Zauberbaum” besonders am Herzen liegt. Abstand halten, Distanz wahren — daran erkenne man die Noblesse einer Person, seine Akzeptanz für das flüchtige Dasein im Kosmos und ebenso für die Flüchtigkeit der Liebesbeziehungen. Impfung sei demnach eine gute Wahl; sie ermögliche „Sekurität” und „Immunität”, die von ihm in den Rang einer obersten Tugend erhoben werden. Beides nutzt dann der geschulte Germanist Sloterdijk für seine Polemik gegen die Nicht-Geimpften: Sie seien gefangen in einem Egoismus der Nähe. Ja der Denker setzt noch einen drauf: Tief in Regionen des Bauchgefühls taucht der in Rokoko-Künstlichkeit verliebte Philosoph, wenn er Andersdenkenden denn auch vorhält, Verschwörungstheorien anzuhängen.
Und zuletzt präsentiert Sloterdijk Sätze des Glauben wie diesen:
„Ich glaube, dass die Coronakrise auf Dauer zur Entwicklung eines veränderten Kollektivbewusstseins inmitten des Individualismus führt.“
Diesen Individualismus, den er fast blind mit Konsumismus gleich-setzt, findet Sloterdijk frivol. Allein zum konkreten Individuum in dieser geschichtlichen Situation hat er erstaunlich wenig zu sagen.
Wer indes Sloterdijk wie ich seit 40 Jahren verfolgt, weiß um seinen Erfolg — und sein „Ureigenstes”, nahezu „Individuelles”: Seine Philosophie will den metaphysischen Begriffen den Garaus machen und betont, anschaulich vorgehen mithilfe von Bildern und Metaphern. Genau das aber verfehlt er. Seine Metaphern sind eben genau das nicht: anschaulich; ebenso wenig seine Neologismen und Geschichten, auf die er sich abzustützen versucht.
Nein, es bleibt dabei: Die Philosophie Sloterdijks ist auch hier zu sehr in den Zeitgeist verliebt, als dass er in ihr den Geist der Zeit erfassen könnte.
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