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Das Tulpenfieber

Das Tulpenfieber

In Chile prügelte sich eine Menschenmenge um die hübschen Frühlingsblumen. Der Vorgang wirft psychologisch wie auch politisch einige Fragen auf.

Anstelle von Schreckensnachrichten, wie sie uns nun fast täglich ereilen, möchte ich heute ein eher profanes Geschehnis wiedergeben, das sich in Santiago de Chile zugetragen hat, und das man, wenn einem der Sinn danach steht, als missglückten kulturellen Austausch zu lesen vermag.

Der 26. September 2024 begann in der chilenischen Hauptstadt Santiago mit einem mäßig bewölkten Himmel und kräftigem Sonnenschein bei Temperaturen bis zu 27 Grad Celsius. Das Wetter war ideal für die an diesem Tag stattfindende Tulpenschau. Diese war in den beiden Jahren zuvor beim Präsidentenpalast im Stadtzentrum durchgeführt worden und jedes Mal reibungslos verlaufen. In diesem Jahr jedoch wurde der Veranstaltungsort in das städtische Theater von Las Condes verlegt, einen dreistöckigen Neubau mit smaragdgrüner Glasfassade, der zugleich als „Bürger-Zentrum“ dient, mit integrierten Gemeindebüros sowie mehreren größeren Räumlichkeiten, die für kulturelle Darbietungen, Foto- und Bilderausstellungen oder dergleichen mehr genutzt werden.

Darüber hinaus gibt es noch Vortragssäle und Werkstätten. Las Condes ist eine der 32 Gemeinden, aus denen die Stadt Santiago de Chile besteht, die derzeit einer Bürgermeisterin der rechts-konservativen Partei UDI (Union unabhänger Demokraten) untersteht. In diesen Kreisen wird der Ex-Diktator Augusto Pinochet immer noch als anti-kommunistische Erlösergestalt verehrt. Dies nur nebenbei gesagt. Zugleich gilt Las Condes auch als ausgesprochener Nobelbezirk der reichen Oberschicht. Die diesjährige Verlegung der Tulpenschau vom Stadtzentrum nach Las Condes wurde damit begründet, dies erlaube, dass auf diese Weise „mehr Personen das Event genießen“ könnten.

Als Organisatoren dieser Veranstaltung zu Frühlingsbeginn zeichneten die Chilenisch-Niederländische Handelskammer, auch bekannt als Holland House, eine NGO für wirtschaftlichen und kulturellen Austausch in Chile, gemeinsam mit der Gemeinde Las Condes. — Wie man erklärt hatte, in Anlehnung an den sogenannten „Tulpentag“, der alljährlich, allerdings meist im Februar, in Amsterdam zur Feier des niederländischen Nationalgewächses begangen wird.

Zwei Tage zuvor hatte das Holland House auf seinem Instagram-Kanal eine Ankündigung der Aktion mit folgendem vertraulichen Wortlaut verschickt:

„Du wirst unsere Ausstellung von 50.000 Tulpen besuchen können, und dir sechs Einzelstücke für zu Hause auswählen dürfen. Wir werden sie [die Tulpen] verschenken, solange der Vorrat reicht. Wir erwarten Euch.“

Die Tulpen wurden mitsamt der daran hängenden Zwiebel verschenkt, waren also keine Schnittblumen.

Das Unheil nimmt seinen Lauf

Bereits um die Mittagszeit hatten sich mehrere Menschenschlangen gebildet, die vorerst noch geduldig und geordnet ausharrten, während sich vor den Pforten des Stadttheaters eine wahre Pracht aus duftenden Tulpen entfaltete, die in mit Wasser gefüllten Plastikbehältern standen und deren Blütenknospen sich sanft im Winde wiegten wie die Wellen eines tiefroten Ozeans.

Die Tulpen stammten jedoch nicht aus den Niederlanden, wie man glauben mochte, sondern waren aus der südlichen Region Los Lagos in Chile herangeschafft worden, wo sich seit den 1990er-Jahren eine großangelegte Tulpen-Produktion für den Export entwickelt hatte.

In der Zwischenzeit waren die heranströmenden Schaulustigen zu solchen Massen angewachsen, dass sich die Behörden genötigt sahen, die Zone für den Straßenverkehr zu sperren und auch Autobusse umzuleiten.

Es war abzusehen, dass die 50.000 Tulpen unter Umständen nicht ausreichen würden. Mit wie vielen Besuchern die Veranstalter anfangs gerechnet haben mögen, ist unbekannt. Santiago de Chile zählt jedenfalls sechs Millionen Einwohner, allein in der Kommune Las Condes wohnen rund 230.000 Menschen, und das fluktuierende Publikum von Arbeitern und Angestellten, Studenten, Touristen und Handelsbesuchern in Las Condes übersteigt täglich noch einmal 200.000 Personen.

Als um 14.00 Uhr herum eine schier unüberschaubare Menschenmasse versammelt war, die sich rund um den ganzen Häuserblock bewegte, und unentwegt mehr Leute hinzu kamen, — es waren an dem Tag mehr als 12.000 Personen aufmarschiert, wie man anhand von Luftaufnahmen feststellte, — entschied man sich, schon frühzeitig mit der Blumenverteilung zu beginnen, die erst eine Stunde später hätte stattfinden sollen. Nach anderer Quelle sollen sich Frauen und Männer undiszipliniert auf die Blumenkisten gestürzt haben, die auf Holzgestellen aufgebaut waren, ohne auf irgendeine Aufforderung seitens des Personals gewartet zu haben.

Was sich unmittelbar darauf ereignete, kann nur als buchstäbliches Pandämonium bezeichnet werden:

Urplötzlich entstand eine furchtbare Rauferei um die unschuldigen Blumen. Unter lautem Geschrei begannen die Anwesenden, sich zu balgen und zu prügeln, um wenigstens eine der Tulpen zu ergattern, die nun schutzlos den begehrlichen Griffen der Menschen ausgeliefert waren.

Es drängten sich hunderte von streitlustigen Blumenfreunden und Amazonen heran, in nicht enden wollenden Strömen; dabei hatten ältere Menschen natürlich das Nachsehen. Es gab Schubser, Pfiffe, Kreischen, Stöße mit dem Ellenbogen und handfeste Rangeleien am Schauplatz. Im weiten Bogen kamen Flaschen oder Steine durch die Luft geflogen, bald auch das umkämpfte Grünzeug. Rasch mutierte das Frühlingsfest so im Handumdrehen zu einer Massenschlägerei. Allenthalben sah man junge Frauen mit tiefen Kratzern im Gesicht und zerrauftem Haar auftauchen, nicht wenige Personen erlitten Ohnmachtsanfälle und wurden danach von Feuerwehrleuten versorgt.

In Anbetracht der drastischen Entwicklung — man kann auch von einem Debakel sprechen —, entschieden die Behörden, kurzfristig die nächstgelegene U-Bahnstation „El Golf — Richtung Los Domínicos“ zu sperren, und die unterirdischen Züge ohne Halt vorbeirauschen zu lassen.

Zeugenaussagen und Tulpenhandel

Eine junge Frau erzählte den Reportern:

„Alle kamen hereingestürmt. Es gab eine breite massive Menschenschlange um den ganzen Block herum. Aber später löste sich die Schlange auf, und die ganze Masse von Leuten begann hereinzuströmen, und da wurde ich mitgerissen. Sie haben mich geschlagen, es war furchtbar, und ich kam nicht mehr weiter.“

Ein anderer Besucher dieser Veranstaltung schilderte:

„Von allen Seiten kam eine andere Schlange zum Vorschein, die Leute fingen an, einander hochzuheben und mit den Tulpen zu bewerfen.“

Dieselbe junge Frau gab auch an, einem Mädchen begegnet zu sein, das ihr anbot, eine einzelne Tulpe gegen Internet auf ihrem Smartphone zu tauschen. Andere Kerle wieder hatten Dutzende von Tulpen in Einkaufstaschen gestopft, die sie fortschleppten, an jeder Hand eine, wie man anhand von Videos sah.

Auf der vielgeschmähten Plattform X äußerte sich eine Nutzerin namens Katharina in ironischem Tonfall:

„Vielen Dank, Gemeinde Las Condes, für die großartige Organisation, ich stand locker vier Stunden unter der Sonne für Tulpen, habe nur eine einzige bekommen, dazu sieben blaue Flecken, und erlitt einen Anfall von Klaustrophobie.“

Da wünschen wir gute Besserung!

Wenig später wurden die Tulpen schon zum Kauf im Internet angeboten — um umgerechnet fünf Euro das Stück, fälschlicher Weise zu alledem noch als Importware ausgewiesen. Der Text einer solchen Annonce lautete:

„Ich verkaufe sprießende Blumenzwiebel von Tulpen. 5.000 Pesos pro Stück. Greif zu!! Sie sind importiert.“

Wenig später verschwand die Annonce aus dem Netz. In einem Blumengeschäft in Las Condes kosten zehn Tulpen als Schnittblumen umgerechnet 34 Euro. Ein Strauß von 30 bis 40 rosa und weißen Tulpen variiert zwischen 44 und 70 Euro.

Das ist insofern bemerkenswert, als der gesetzliche monatliche Mindestlohn in Chile durch die sozialistische Regierung im Vorjahr erst auf 500 Euro angehoben wurde, sodass auf der Hand liegt, dass derlei Tulpensträuße für Leute mit geringem Einkommen, also für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, nahezu unerschwinglich sind.

Leider sieht es auch in Bezug auf Lebensmittel und Waren des täglichen Gebrauches nicht anders aus. Beim Gang durch einen chilenischen Supermarkt erblickt man ein fast schon europäisches Preisniveau, obwohl die ausgezahlten Löhne mit der aktuellen Teuerungswelle nicht mithalten können. Überdies arbeitet man in Chile noch immer 45 Stunden in der Woche, sogar eher mehr. Die Einführung einer 40 Stunden-Woche ist von der Regierung Gabriel Boric zwar geplant, soll aber auf ihre Umsetzung im wirtschaftsliberalen Chile mit Rücksicht auf die Unternehmerklasse bis 2028 warten. Dabei dürfte die chilenische Wirtschaft dieses Jahr wieder um 1,6 Prozent wachsen.

Was oft schon gesagt wurde, sei auch an dieser Stelle wiederholt:

„Innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist Chile das Mitglied mit der höchsten Einkommensungleichheit.“

Daran ändert auch der Sozialismus nichts.

Da kann es nicht Wunder nehmen, dass sich soziale Unzufriedenheit gepaart mit Existenzängsten bisweilen in Form von Gewalt und Streitlust entlädt. Denn die Zeiten sind schlecht. Dies soll jedoch in keiner Weise das Vorgehen mancher Besucher der Tulpenausstellung rechtfertigen.

Am Ende kamen Wasserwerfer zum Einsatz

In weniger als einer Stunde war der Vorrat aufgebraucht, und das Blumenbuffet abgeräumt. Wer eine Tulpe erbeutet hatte, konnte sich glücklich preisen und ging von dannen. Als die Turmuhren 15.00 Uhr schlugen, rückten Polizeikräfte mit schweren Wasserwerfern heran.

Dreizehn Minuten später wurden die Menschenmassen derjenigen, die bei der Tulpenschau leer ausgegangen waren, zusätzlich noch von den übelriechenden Wasserstrahlen der Exekutive auseinandergetrieben. Das geschah seitens der Polizisten in altbekannter Weise unbarmherzig und rücksichtslos. Genauso waren schon die sozialen Proteste im Oktober 2019 niedergeworfen worden.

Zurück blieben nur feuchter Asphalt und einige umgestürzte Tische vor dem Theater; überdies hatten die Flüchtenden sämtliche frisch gepflanzten Nadelhölzer auf den beiden das Gebäude flankierenden Grünflächen komplett niedergetrampelt, was einen traurigen Anblick bot.

Selbst der Blick einer überdimensionalen Frauengestalt mit prächtigen Brüsten und anliegendem Haar aus patiniertem Kupfer, die auf dem Platz vor dem Theater auf einem roten Stahlrahmen sitzt und ihre gekreuzten Beine hängen lässt, wirkte ratlos.

Was ist davon zu halten? „Niemand konnte das voraussehen“, lauteten die Schlagzeilen. Man bedauerte allgemein den offenbaren Rückgang von „staatsbürgerlicher Erziehung“ im Volke. Die Organisatoren hatten eben nicht mit soviel Andrang gerechnet, obgleich sie ihre nette Einladung im Vorfeld in sozialen Medien veröffentlicht und somit aller Welt angekündigt hatten. Sie scheuten nicht einmal die Kosten, einen Werbeartikel beim chilenischen CNN unterzubringen. Dort war die Veranstaltung bezeichnet worden als „eine Geste, die versucht, die Schönheit des Frühlings zu den Personen zu bringen“. Der Versuch ging wohl gründlich in die Hosen, — woran aber mag es gelegen haben?

Eine stumme Zeugin: Die „Denkerin” (La pensadora) der chilenischen Bildhauerin Francisca Cerda, eines ihrer bekanntesten Werke. Bildquelle: imagina Santiago — Ein Führer durch die Hauptstadt Chiles



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