Norden gegen Süden: Verschiedene Perspektiven
Zwar hätten 141 von 193 UN-Mitgliedsstaaten der Resolution der UN-Generalversammlung vom 2. März 2022 zugestimmt, in der Russlands Vorgehen als „Aggression“ bezeichnet und „auf das Schärfste“ verurteilt wurde. Aber was Sanktionen und militärische Unterstützung betrifft, so gibt es kein Mehrheitsverhältnis. Nur 38 Länder haben Sanktionen (Stand: 7. Juli 2022) verhängt. Manche davon nur sehr zögerlich und auf Drängen der EU, andere ruderten später wieder rhetorisch zurück.
Nicht zu übersehen ist dabei das Nord-Süd-Gefälle nach dem etwas vereinfachenden Muster „Reicher Globaler Norden und unterentwickelter, armer Globaler Süden“. Letzterer hielte tendenziell eher zu Russland. Ambos sieht darin die Folgen einer historischen Schuld und ein längst manifestes Selbstbewusstsein des armen Südens.
Die regelbasierte Ordnung kann nicht mehr als weltbeglückendes System denjenigen vermittelt werden, denen über lange Zeit hinweg — teilweise über Jahrhunderte — westliche Werte nicht als Segnungen, sondern als Bevormundung und Ausbeutung aufgedrängt wurden.
Dies sei gewissermaßen das „historische Vermächtnis der Kolonialzeit“.
Es mag sein, dass diese Länder, die sich scheuen, Russland zu sanktionieren und zu isolieren, dies „bis zu einem gewissen Grad“ lediglich aus Gründen der schlechten Erfahrungen mit dem Globalen Norden tun. Es gibt eben „ein historisches Erbe, das bis zum Antikolonial-/Antiapartheid-Kampf zurückreicht, wo einige dieser Staaten (zum Beispiel Angola, Südafrika) nur von der ehemaligen Sowjetunion und ihren Verbündeten unterstützt wurden — (…) Moskau spielt diesen Trumpf geschickt aus“.
Gleichzeitig zeigt sich bei den Ländern, die Russland nicht sanktionieren wollen, auch ein gewisses Befremden über eine nördliche Hemisphäre, die immer dann von Werten und Moral spricht, wenn es ihr in den Kram passt, es aber an beiden mangeln lässt, wenn solche Tugenden gerade stören.
Aus diesem Krieg lernen
Der Autor skizziert in der Folge auch zwei Fälle aktueller Doppelmoral, die er „jüngste völkerrechtliche Konsistenzen“ nennt. Zum einen die gemeinsame Absichtserklärung zwischen Finnland, Schweden und Türkei: ein Kuhhandel, der den NATO-Beitritt der beiden skandinavischen Länder an die Bedingung knüpft, kurdische „Terroristen“ ohne Rücksicht auf Menschen- und Flüchtlingsrechte an die Türkei auszuliefern. Zum anderen nennt er die „Draft Bill of Rights“ Großbritanniens, die Menschenrechtverletzungen britischer Streitkräfte für lässlich erklärt.
Beide Beispiele spielen sich synchron zum Konflikt in der Ukraine ab, bei dem NATO, EU und aus der Ferne die USA vorgeben, für eine „regelbasierte Ordnung“ zu stehen, die sich gegen die blanke Willkür des Stärkeren stellt.
Für Kai Ambos sind die Schlussfolgerungen klar „größere westliche Konsistenz im Völker(straf)recht“. Will heißen: Aus diesem Krieg kann der Westen lernen, dass er sich selbst dringend an das Völkerrecht zu halten hat. Dass er das in der Vergangenheit — und parallel zum aktuellen Konflikt — nicht getan hat, führte dazu, dass nicht Russland isoliert ist, sondern der Westen — jedenfalls aus einer moralischen Perspektive.
Man muss nicht in allen Punkten und Aussagen mit Ambos konform gehen. Speziell nicht an jenen Stellen des Buches, wo es nicht um rechtliche Einschätzungen, sondern um politische Taxierungen der Grundprämissen und Ereignisse geht. Das macht das Buch aber vielleicht sogar noch wertvoller. Denn hier spricht sich jemand für den diplomatischen Weg aus, für eine Abkehr vom aktuellen Kurs deutscher und europäischer Außenpolitik, der nicht verdächtigt werden kann, ein „Putinversteher“ zu sein. Die Schrift ruft zu einer differenzierten Betrachtung auf — und adressiert diesen Aufruf an beide Seiten, eben gerade an jene hüben wie drüben, die heute so selbstgerecht im Moralismus schweben und die Doppelmoral ausblenden.
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