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Das Corona-Tagebuch

Das Corona-Tagebuch

Die Mutmach-Redaktion lädt die Rubikon-Leser zum kollektiven Schreiben ein. Teil 6.

Am 29. März haben wir unsere Leser aufgefordert, ihre Erfahrungen mit den Corona-Maßnahmen zu schildern. Uns erreichen erschütternde aber auch aufrüttelnde und Mut machende Schilderungen. Wir beginnen nun damit, diese Beiträge zu veröffentlichen. Sie können uns auch weiterhin Ihre Erfahrungen in diesen Wochen mitteilen. Zuschriften bitte an: mut@rubikon.news

Aufruf zur Wachsamkeit!

von Gabriele Herb

Das Coronavirus birgt die Gefahr einer Entrechtungspandemie.

Delfine in Italiens Häfen? Das höre ich, das hören wir natürlich gerne. Dass das Wasser in den Kanälen Venedigs so klar ist wie noch nie, dass auch die Schwäne zurückgekommen sind, dass sich tatsächlich Delfine in den Hafenbecken tummeln — die Menschen, die dieses ungewohnte Spektakel betrachten, halten übrigens keine anderthalb Meter Abstand, dazu ist die Freude viel zu groß —, tut mir in der Seele gut.

Ebenso freut es mich zu hören, dass viele Kinder in industriellen Ballungsgebieten endlich statt einer trüben Glocke den blauen Himmel über sich sehen. Dies und dass diese Kinder nun viel sauberere Luft einatmen, ist fantastisch.

Ich finde es auch herzerwärmend, dass Menschen wieder eine Art Gemeinschaftsgefühl entwickeln — zumindest zu Hause; im Supermarkt ist davon nicht viel zu sehen. Man hört von Menschen, die gemeinsam zu Hause singen, sich wieder mehr Zeit füreinander nehmen.

All dies sind wunderbare Entwicklungen, nur … es macht mir Angst, dass diese positiven Nachrichten sich zu einer neuen Art „Opium des Volkes“ entwickeln könnten: „Seht her, die Krise hat auch ihre positiven Aspekte! Alles wird gut!“

Denn parallel zum blauen Himmel und den Delfinen und den singenden Menschen taumeln wir in einen Wirtschaftsabgrund und in polizeistaatliche Verhältnisse.

Die Entschleunigung, die gerade bemerkt, gepriesen und genossen wird, kann ich erst dann genießen, wenn sie zum Normalzustand wird — und nicht die erzwungene Folge einer Krise ist.

Den blauen Himmel kann ich erst dann wirklich genießen, wenn er zum Normalzustand wird — wenn die Unternehmen so viel für den Umweltschutz tun, dass sich keine Ballungsgebiete mehr unter Dunstglocken befinden und alle Menschen ihr Recht auf frische Luft erfüllt bekommen.

Wäre ich noch Mutter eines kleinen Kindes, könnte ich das Mehr an Miteinander mit meinem Kind erst dann wirklich genießen, wenn ich nicht gleichzeitig um meinen Arbeitsplatz bangen müsste und wenn es gesetzlich verankerte, familienfreundliche Arbeitszeitmodelle gäbe.

Dass es nun weniger Müll gibt — darüber kann ich mich erst dann wirklich freuen, wenn dieses Weniger an Müll der Tatsache entspringt, dass seitens der Bürger und der Unternehmen ein Umdenken stattgefunden hat — und nicht der Tatsache, dass das öffentliche Leben lahmgelegt ist und viele Betriebe heruntergefahren oder gar — vorübergehend? — geschlossen wurden und werden.

All das kann ich erst dann gut finden, wenn es wirklich zum Normalzustand wird — wenn wir unser Wirtschaftssystem, unseren Konsumismus, unsere Werte, unser politisches System neu überdenken und teils umstrukturieren, teils über Bord werfen. Wenn wir aus unserem tiefsten Inneren heraus neue Überzeugungen darüber entwickeln, was wir wirklich brauchen und was wirklich wichtig ist.

Im Moment zwingt uns eine Krise dazu — was aber, wenn diese Krise vorüber ist? Wird dann der Himmel weiterhin blau und das Wasser in den Lagunen weiterhin klar bleiben? Werden wir uns weiterhin unseren Kindern und unserem Miteinander widmen können? Wird die Erde weiterhin „aufatmen“ können?

Dies wird nur dann geschehen können, wenn wir jetzt aufmerksam und wachsam bleiben. Wenn wir nicht zulassen, dass uns unsere bürgerlichen Rechte genommen werden.

Im Moment wird unsere Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt. Das Verbot, sich zum Sport, zu kulturellen Veranstaltungen und sonstigen Events zusammenzufinden, ist eine klare Beschneidung unserer Versammlungsfreiheit. Auch Protesten und Demonstrationen schiebt man auf diese Weise einen Riegel vor.

Es mag sein, dass es im Moment sinnvoll ist, Menschenansammlungen zu vermeiden — seien wir jedoch wachsam, dass diese Einschränkungen nach der Krise wirklich vollständig wieder aufgehoben werden.

Die Telekom hat in Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut eine Methode entwickelt, 46 Millionen Mobiltelefone zu orten, anonymisiert natürlich — Wie sagten wir früher immer?: „Wer‘s glaubt, wird selig“ —, angeblich, um die Einhaltung des staatlich verordneten Zuhausebleibens zu überprüfen.

Ist diese Methode erst einmal implementiert, wird es sehr schwierig sein, sie nach der Krise wieder rückgängig zu machen.

Seit Jahren sind Bestrebungen im Gange, das Bargeld abzuschaffen — was bei den Bürgern bis jetzt auf Widerstand gestoßen ist. Nun aber werden wir langsam daran gewöhnt, auf Bargeld zu verzichten — manche Geschäfte fordern ihre Kunden dazu auf, nur noch mit Karte zu zahlen — angeblich um Ansteckungen zu vermeiden.

Das mag im Moment sogar vielleicht sinnvoll sein. Wird es aber nach der Krise wieder möglich sein, mit Bargeld zu zahlen?

Und wie sieht es mit unserer Rechtsstaatlichkeit aus? Angela Merkel kündigte die Bemühungen der Parteien um Gesetzesänderungen an, die es selbst dann ermöglichen sollen, Gesetze zu erlassen, wenn der Parlamentsbetrieb eingestellt wird. Gesetze ohne Parlament beschließen … das ist doch … total… undemokratisch, oder nicht?

Und wird man davon ausgehen können, dass eine einmal verabschiedete Gesetzesänderung rückgängig gemacht wird? Wohl kaum.

Und der gute Boris Pistorius aus Niedersachsen zieht in Erwägung, Fake News mit Bußgeldern und Strafen zu belegen. Das ist Zensur, oder nicht? Zumal man sich ja auch fragen muss, wer darüber bestimmt, was Fake News sind und was nicht.

Es gibt viele Bürger, die diese Entwicklungen wachsam verfolgen. Nachdem unsere Bewegungs- und Versammlungsfreiheit nun aber immer weiter eingeschränkt wird, können wir dagegen nicht einmal protestieren und demonstrieren. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Ich liebe blauen Himmel, ich liebe Delfine, ich liebe Miteinander — doch werde ich mich dadurch nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass meine Freiheiten gerade möglicherweise unwiderruflich eingeschränkt werden. Ich werde wachsam bleiben und mich nicht davon einlullen lassen, dass die Erde gerade aufatmen kann. Ich will, dass sie das dauerhaft tun kann. Ich will dauerhaft klares Wasser; saubere Luft; Eltern, die Zeit für ihre Kinder haben; Menschen, die miteinander singen — im Vollbesitz ihrer bürgerlichen Rechte.


Teil 1: Katrin McClean, Corona-Tagebuch
Teil 2: Roland Rottenfußer, Der letzte freie Tag
Teil 3: Isabelle Krötsch, Corona-Tagebuch
Teil 4: Kerstin Chavent, An das Mögliche glauben
Teil 5: Anonym, Meine Mutter und die Isolation


Gabriele Herb, Jahrgang 1967, ist ehrenamtliche Übersetzerin bei Rubikon, Heilpraktikerin, Waldorflehrerin und ausgebildet in Gewaltfreier Kommunikation. Zum Teil im Ausland aufgewachsen und seitdem weit gereist, hat sie glücklicherweise schon früh erfahren dürfen, was es bedeutet, Weltenbürgerin und Teil der Menschheitsfamilie zu sein.


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