Das staatlich genehmigte Wiederaufsperren der Gastronomie am 15. Mai war „mit strengen hygienischen Auflagen verbunden“. Diese zur Redewendung geronnene Bemerkung begleitet seit Wochen jede sogenannte Lockerungsmaßnahme, die die Regierung mittlerweile im halbwöchentlichen Rhythmus verkündet. Für die Wirtshäuser bedeutet dies, dass Gäste beim Eintreten in das Lokal einen Mund-Nasenschutz tragen müssen, nicht mehr als vier Personen um einen Tisch sitzen dürfen, die allgemeine Sperrstunde um 23 Uhr einzuhalten ist, das Servicepersonal ständig maskiert bleiben muss, der Koch hingegen nicht. Unklar blieb, ob auch beim Gang auf‘s WC Mund und Nase zu verdecken seien und wie man mit der Verhüllung beim Verlassen des Lokals umzugehen habe.
Viele Gastronomen verstanden die Verordnung so, dass Maskenfreiheit nur während der Konsumation besteht (ansonsten hätte es ja kleiner Löcher im Textil bedurft, um mittels Strohhalm beispielsweise den Gulaschsaft aufzusaugen — das Fleisch könnte man sich ja „to go“-mäßig einpacken lassen).
Also bietet sich in jedem Restaurant ein Schauspiel der besonderen Art: Maske rauf, Maske runter, Maske rauf, Maske runter. Man muss kein Skeptiker von Hygienemaßnahmen sein, um dieses Treiben absurd und der Gesundheit abträglich zu finden, weshalb es nach ein paar Tagen eine regierungsamtliche Klarstellung gab, die erlaubte, auch ohne Mund-Nasenschutz aufs Klo zu gehen. Dass diese Großzügigkeit noch nicht von allen entsprechend gewürdigt wird, zeigt sich daran, dass so manch einer am Masken-rauf-und-runter-Spiel festhält. Bei Verlassen des Lokals bedarf es nach neuester Verordnung übrigens auch keines textilen Schutzes im Gesicht mehr. Bleibt die Gesichtsverhüllung beim Betreten.
Am 15. Juni soll man auch darauf verzichten dürfen, der Regierung sei‘s gedankt. Der erste Mann im Staat, Bundespräsident Alexander van der Bellen, vergaß übrigens gleich zu Beginn der „Lockerungsmaßnahmen“, auf die Uhr zu sehen. Um 20 Minuten nach Mitternacht stellte ihn und seine Begleiter ein Corona-Einsatzkommando beim Nobelitaliener in der Wiener Innenstadt, die Sperrstunde von 23 Uhr, so meinte er gegenüber der Presse, habe er übersehen. Seine Immunität (politisch, nicht gesundheitlich gegen das Virus) erspart ihm eine Anzeige. Ob Begleiterin und Restaurantbesitzer zur Kasse gebeten werden, wird der Magistrat entscheiden.
So wie jede kleine Lockerung „mit strengen hygienischen Auflagen verbunden ist“, wie es im Begleittext heißt, schwingen sämtliche Verantwortlichen nach wie vor die Keule mit der drohenden zweiten Welle. Der große Versuch an der Gesellschaft ist noch nicht beendet. Zu folgsam haben sich weite Teile der Bevölkerung gezeigt, als dass der autoritäre Staat die einmal an den Menschen gestrafften Zügel so leicht aus der Hand geben würde; obwohl andererseits die Verunsicherung im Regierungsquartier von Tag zu Tag spürbarer wird — was wiederum kräftigen Stimmen des Widerstandes zu verdanken ist. Die Auseinandersetzung um Sinn und Zweck des Lockdown und was davon in die neue Zeit zu übertragen sei, nimmt Fahrt auf.
Sebastian Kurz ist die ideale Besetzung für einen autoritären Staatsmann des 21. Jahrhunderts. Auf persönlicher Ebene verkörpert er den Schwarm der meisten Schwiegermütter — jung, adrett und brav. Politisch hat er gezeigt, wie man eine verkrustete christlich-konservative Partei aufbricht und für sich persönlich nutzbar macht, inklusive einer Änderung der Symbolfarbe von schwarz auf türkis. Und als Regierungschef nahm er sich bislang zwei Koalitionspartner dermaßen eng zur Brust, dass sie daran ersticken.
Die rechte FPÖ zerriss es nach der Aufkündigung der Zusammenarbeit im Mai 2019 und die grünen Partner verblassen gerade bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ganz zu schweigen von seinem ersten politischen Partner, der nun oppositionellen Sozialdemokratie, die nicht nur wegen der Unfähigkeit ihrer Parteivorsitzenden in der Corona-Krise unterzugehen droht. Mit einer aktuellen Zustimmungsrate von 48 Prozent kratzt die türkise ÖVP von Sebastian Kurz an der absoluten Mehrheit.
Rat und Tat: Netanjahu
Der Pinguingang zu den mittlerweile über hundert Pressekonferenzen, die Vertreter der türkis-grünen Koalitionsregierung seit Anfang März 2020 gegeben haben, ist legendär. In Form einer Abstand haltenden Viererbande treten meist Kanzler, Vizekanzler, Gesundheitsminister und Innenminister hinter zwei Meter hohe Plexiglasscheiben, nehmen routiniert ihre Masken ab und verlautbaren Verordnungen. Zwei Monate lang war das Parlament als gesetzgebende Institution abgemeldet, seit zehn Tagen melden sich einzelne Stimmen aus der Opposition und beginnen zaghaft mit Nachfragen über die Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen. Anfangs ging es Schlag auf Schlag mit der Aussetzung von Grundrechten und der Verkündung von Strafmaßnahmen im Fall des Ungehorsams, seit Mitte Mai wird zurückgenommen.
Die vier Hauptfiguren sind frei von medizinischen Kenntnissen. Sebastian Kurz brach das Studium der Rechtswissenschaften ab, bevor er seine Brötchen als Politiker verdiente, der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober war bis 1990 Volksschullehrer und setzt sich seither für die Anbindung der Grünen an die rechte ÖVP ein, was ihm bereits im Heimatbundesland Oberösterreich gelungen war. Der türkise Innenminister Karl Nehammer war Lehrmeister für Berufsoffiziere im Rang eines Leutnants, bevor er in die Politik wechselte und mit seiner Zuordnung, jeder sei ein Lebensgefährder, der sich nicht an die Ausgangssperren halte, den Haudegen hervorkehrte. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) hat als einziger ein abgeschlossenes Studium der Volkswirtschaft … und im Corona-Krisenmanagement am wenigsten zu sagen.
Vom Expertenkreis, den die vier Unverantwortlichen um sich geschart haben, weiß man reichlich wenig. Er tagt in großem Abstand zum Publikum. Einzig der Name Martin Sprenger ist einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Der promovierte Mediziner ist Public Health-Manager und hat den Beraterstab der Regierung Anfang April verlassen, weil er die Lockdown-Maßnahmen für verkehrt hielt. „Eine Eskalation der Angst und weitere Verschärfung der präventiven Maßnahmen standen ab Anfang April nicht mehr in Relation zu dem damit erzielten Nutzen“, meint er in der Rückschau auf seinen frühzeitigen Abgang.
Die Leitlinien für eine autoritäre Politik holt sich der Kanzler ohnehin nicht im österreichischen Umfeld, wie er mehrmals offen zugab. Es war ein Anruf des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vom 9. März, der ihn wachrüttelte, wie Kurz auch der deutschen Bild-Zeitung gegenüber eingestand. Als weiterer Ezzes-Geber fungierte der südkoreanische Präsident Moon Jae-in. Die Überwachungs- und Trackingmodelle der beiden Staaten hatten es dem österreichischen Kanzler angetan.
Also schritt die Koalitionsregierung am 13. März zur Tat und verhängte den Ausnahmezustand, ohne ihn als solchen zu benennen. Die zwei hauseigenen Beraterstäbe, die „Task Force Corona“ sowie der „Koordinationsstab Sars-Cov-2/Covid-19“, rieten vom radikalen Lockdown ab, was damals allerdings nicht öffentlich gemacht wurde. Franz Allerberger, Professor für Mikrobiologie und Task Force Corona-Mitglied, warnte bereits im Vorfeld der Lockdown-Verkündung, am 9. März, vor der Schließung von Schulen und Kindergärten und bat die Politiker, das Virus nicht als ein „ganz gefährliches“ darzustellen, weil es „für über 80 Prozent der Bevölkerung nicht gefährlich“ sei.
Der Expertenrat blieb ungehört und wurde der Öffentlichkeit erst sechs Wochen später bekannt, als der Zeitschrift Falter einige geleakte Dokumente aus dem Ministerium zugespielt wurden. Bis heute sind die Unterlagen nicht zugänglich. Innenminister Nehammer behauptete gar am 3. Juni auf Anfrage der liberalen parlamentarischen Kleingruppe „Neos“, die Corona-Krisenstäbe hätten niemals Protokolle angelegt.
„Koste es, was es wolle“
Fein portioniert und eins nach dem anderen verkündet die Regierung Kurz Hilfspaket nach Hilfspaket. Alles und jede/r wird bedient: Fixkosten-Zuschüsse für Unternehmen, Kurzarbeitsgeld, Kreditausfallshaftungen, Härtefallgelder, Steuererleichterungen für die Gastronomie und Steuerstundungen. „Koste es, was es wolle“, tönte der Kanzler und versprach, 38 Milliarden Euro flüssig zu machen. Die Ankündigungen sind zahlreich, Auszahlungen fließen bislang nur sporadisch. „Die Hilfspakete sind zerplatzte Luftballons“, meint der bekannten Cafetier Berndt Querfeldt, der mehrere Kaffeehäuser in der Wiener Innenstadt betreibt beziehungsweise zwei Monate lang nicht betreiben konnte.
Seit 15. Mai durfte er wieder aufsperren, drei Tage später schloss er bereits eines seiner bekanntesten Etablissements, das Café Museum. Ohne Gäste kein Geschäft. Die Kunden sind stark verunsichert, wissen nicht, wann und bei welchem Anlass Masken zu tragen sind; maskierte KellnerInnen erinnern eher an einen Krankenhausbesuch, sie sind dem Flair eines Kaffeehauses abträglich; ganz zu schweigen von den fehlenden Touristen, die früher die besten Standorte besucht hatten. Von den Kurzarbeitsgeldern hat der Kaffeehaus-Unternehmer auch zwei Monate nach der Einreichung noch keinen Cent gesehen.
Noch düsterer sieht es für die fast 600.000 Arbeitslosen und die 1,3 Millionen Kurzarbeitenden aus. Letztere fühlen sich wie auf einer Warteliste für zukünftige Arbeitslosigkeit. Wie mit all jenen, die künftig keinen Job haben, verfahren werden könnte, darauf gab kürzlich der Sozialsprecher der türkisen Regierungspartei, Klubobmann August Wöginger, einen Blick in die Zukunft preis.
Im parlamentarischen Sozialausschuss empfahl er den Arbeitslosen den Gang in die Mindestsicherung, das österreichische Pendent zu Hartz IV, bei dem ebenfalls nur jemand bezugsberechtig ist, der zuvor vorhandene Sparguthaben aufgebraucht hat. Die frühere rechts-rechte Regierung aus ÖVP und FPÖ hatte den Mindestsicherungssatz auf 688 Euro pro Person und Monat gesenkt, wozu noch 229 Euro als Wohnkostenanteil hinzukommen können. Corona-bedingter Verlust des Arbeitsplatzes soll also nach Vorstellung des ÖVP-Sozialsprechers in die Armut führen.
Aussteigen ohne Gesichtsverlust
Seit klar ist, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Seuche überschießend und ab Anfang April auch verantwortungslos waren, treibt die Koalitionscrew nur eine Frage um: wie kommt sie möglichst ohne Gesichtsverlust aus der Misere heraus? Als erstes und lautestes Mittel dazu wird schamlos Selbstlob verstreut. Ohne die harten Einschnitte, ohne Lockdown und Ausgangssperren, ohne Isolation und Quarantäne hätten sich die schlimmsten Befürchtungen erfüllt, wären Zehntausende an Covid-19 verreckt. Tatsächlich lässt sich die Todesstatistik sehen.
Bei einer Gesamteinwohnerzahl von 8,9 Millionen und einer durchschnittlichen jährlichen Todesrate von 81.000 sind in Österreich bis 5. Juni 2020 nur 672 Menschen an oder mit der Seuche gestorben. Was sich die Regierung an dieser äußerst niedrigen Zahl positiv zu Buche schreiben kann, war ihr Aufruf an alle sich krank Fühlenden, nicht in die Spitäler und zu den niedergelassenen Ärzten zu gehen, sondern eine Notrufnummer zu wählen, über die mobile Medizinerteams nach Hause zum Testen kommen.
Damit verhinderte man ein norditalienisches Szenario, wo alle Kranken, gleich ob mit Covid-19 oder anderen Grippeviren angesteckt, in die Kliniken strömten, dort die schlecht geschützten Ärzte infizierten und damit die Krankenhäuser zu Virenschleudern machte. Dazu kam ein in Österreich vergleichsweise gut bestalltes Gesundheitswesen, das zwar seit mehreren Jahren gerade von der Kurz-ÖVP attackiert wird, aber nicht à la italienne kaputtgespart wurde.
Die Notrufnummer erwies sich zwar in vielen Fällen als tote Leitung, weil heillos überlastet, erfüllte aber dennoch — im Gegensatz zu allen Schließungs- und Lockdown-Maßnahmen — ihren Zweck. Darüber hinaus ist Selbstlob nicht angebracht.
Wie also kommt die Vierermannschaft aus Kanzler und Vize, Innen- und Gesundheitsminister raus aus der selbst geschaffenen Misere, nachdem auch im inneren Kreis niemand mehr an das eigene Vorgehen in Sachen Corona glaubt. Dieser Zustand war übrigens spätestens am 8. Mai erreicht, als der Krisenmanager aus dem deutschen Innenministerium, Stephan Kohn, seinen 192-Seiten starken Bericht „Corona-Krise 2020 aus der Sicht des Schutzes kritischer Infrastruktur“ an seinen Minister Horst Seehofer sandte. Darin ist von gravierenden Fehlleistungen des Krisenmanagements die Rede und der ganze Vorgang wird als „Fehlalarm“ bezeichnet. Nachdem immer mehr Ärzte den medizinischen Nutzen und Juristen die Verfassungsmäßigkeit des Lockdowns bezweifelten, kam die Stimme aus dem deutschen Innenministerium als unangenehmer Weckruf für die Allmachtsphantasien der Regierenden daher. Daran konnte auch die sofortige Suspendierung des Berichteschreibers nichts ändern.
Sebastian Kurz und sein Team schwenkten von kaum mehr zu ertragendem Selbstlob auf ein Stakkato an „Lockerungen“. Seither vergeht kein Tag, an dem nicht Gerüchte über Öffnungsschritte ausgestreut und keine Woche, in der nicht welche verkündet werden. Der Versuch, den von den Medien gebastelten Glorienschein aus der Zeit des Lockdowns in die Phase seiner Auflösung hinüberzuretten, gelingt allerdings nicht.
Mehr und mehr Stimmen weisen auf die umfangreichen Kollateralschäden der Corona-Politik hin. In TV-Sendungen tauchen Frauen auf, die die Tode ihrer Männer beklagen, weil diese als Krebs- oder Herzinfarktpatienten unzureichend oder überhaupt nicht behandelt wurden — mit Hinweis auf die für Covid-19-Fälle vorsorglich bereitgehaltenen Kapazitäten. In vielen Spitälern wie zum Beispiel im niederösterreichischen Hollabrunn wurden ganze Abteilungen geschlossen, um Platz für Corona-PatientInnen zu schaffen, die dann nicht kamen. Der Rückstau an Operationen und Therapien ist enorm.
Zu den gesundheitlichen Kollateralschäden kommen soziale Verheerungen und wirtschaftliche Pleitewellen in einer erklecklichen Anzahl von Branchen. Auch die nach wie vor bestehende kulturelle Wüste und eine nun offenbar werdende Bildungsmisere sind unmittelbare Folgen eines staatlich verordneten gesellschaftlichen Stillstands.
Die kommenden Monate werden nicht nur in Österreich zeigen, wer die Diskurshoheit über die Auswirkungen des Lockdowns erlangt. Entscheidend dafür ist die Beantwortung der Frage über die Ursachen. Die rechts-grüne Regierung wird darauf bestehen, dass es das Virus war, dem all die einschneidenden Maßnahmen geschuldet sind; und bislang gelingt ihr diesbezüglich der Schulterschluss mit Teilen der Linken. Auf der anderen Seite werden die Stimmen lauter, die die Ursache für die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg in den autoritären Maßnahmen sehen, die das Virus benützt haben, um sich politisch ins Szene zu setzen und wirtschaftlichen Interessen eines biotechnisch-pharmazeutischen Komplexes den Weg zu ebnen.
Quellen und Anmerkungen:
Von Hannes Hofbauer erscheint zusammen mit Stefan Kraft im Oktober 2020 das Buch „Lockdown 2020: Wie ein Virus dazu benützt wird, die Gesellschaft zu verändern“ im Wiener Promedia Verlag.
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