Heute wage ich einen Stilbruch. Normalerweise schaue ich an dieser Stelle mit etwas Abstand auf die Realität der Medien und schreibe das so auf, dass man nicht studiert haben muss, um mich zu verstehen, und außerdem noch Spaß beim Lesen hat. Vor Gericht geht das nicht. Um ernst genommen zu werden, muss ein Professor dort die Sprache der Wissenschaft sprechen und sich auf das stützen, was die Kollegen mit Methoden herausgearbeitet haben, die von allen akzeptiert werden.
Vor zwei Wochen habe ich von einem Gutachten berichtet und von einem Prozess in Bayern, bei dem es um den Rundfunkbeitrag ging. Es gab zwei Reaktionen. Zum einen haben sich etliche Leser den Originaltext gewünscht. Das interessiert uns, lieber Herr Meyen, weil wir Argumente brauchen. Deshalb folgt gleich das, was via Anwalt an die obersten Verwaltungsrichter in Bayern ging. Weggelassen habe ich nur die beiden Anhänge — zweimal 20 Seiten, auf denen unsere eigenen Studien zur Tagesschau dokumentiert worden sind. Butscha und die Demos 2020. Die Zusammenfassungen sollten genügen.
Zum anderen hat sich Jimmy Gerum gemeldet und beklagt, dass ich seinen Leuchtturm nicht erwähnt habe und die Verdienste, die er und diese Bürgerinitiative haben. 150 Verfahren, die sich um den Rundfunkbeitrag drehen, viele davon angestoßen und unterstützt durch das, was Jimmy Gerum da vorantreibt — öffentlich sichtbar bei den Mahnwachen, die seit über einem Jahr in vielen Städten laufen und dabei längst nicht mehr nur vor Rundfunkanstalten stehen. Einer meiner Leute war bei der mündlichen Verhandlung in München. Ein übervoller Saal. ARD und ZDF sind den Menschen nicht egal. Sie zahlen dafür und wollen deshalb mitreden. Der Leuchtturm steht für dieses Interesse und kann deshalb gar nicht oft genug erwähnt werden. Nun aber zum Gutachten.
Vorbemerkung 1: Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
§ 26 des Medienstaatsvertrages vom 27. Dezember 2021 sieht die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten genau wie die Gesetzeswerke, die diese Vereinbarung auf Länderebene abgelöst hat, als „Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung“ und verlangt deshalb „einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen“. In Absatz 2 werden dafür vier Kriterien genannt: „die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote“.
Von zentraler Bedeutung ist dabei die Meinungsvielfalt — ein Kriterium, das im Pluralismusmodell wurzelt und damit zum Fundament der allermeisten Demokratietheorien gehört: In der Gesellschaft gibt es viele und zum Teil gegensätzliche Meinungen und Interessen, die prinzipiell gleichberechtigt sind — die Interessen von Einzelpersonen und Außenseitern genauso wie die Interessen, die in Parteien oder Verbänden organisiert sind. Feld der Verständigung ist die Öffentlichkeit, wobei ein Ausgleich nur möglich scheint, wenn die verschiedenen Interessen Artikulationsmöglichkeiten bekommen (1). Von Meinungsvielfalt oder publizistischer Vielfalt kann man folglich sprechen, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen und geistigen Richtungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu Wort kommen und niemand vorherrschende Meinungsmacht erlangt (2).
Die Kriterien Objektivität, Unparteilichkeit und Ausgewogenheit übersetzen diese Forderung für den redaktionellen Alltag. Für die Journalismusforschung ist das Herstellen von Öffentlichkeit ein „gesellschaftlicher Auftrag“ (3). Auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gemünzt, heißt das: Hier müssen möglichst alle zu Wort kommen — alle Themen und alle Perspektiven. § 26 des Medienstaatsvertrages macht daraus einen Auftrag des Gesetzgebers: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss dafür sorgen, dass wir uns über das Geschehen in der Region, im Land und in der Welt selbst ein Bild machen können, weil die Informationen und die wichtigsten Interpretationen für jeden zur Verfügung stehen.
Vorbemerkung 2: Grenzen der Beobachtung
Das Angebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland ist im Wortsinn unüberschaubar. Wäre es noch verhältnismäßig leicht, die TV- und Radioprogramme zu zählen, die von den Anstalten produziert und gesendet werden, scheitert jeder Beobachter spätestens bei den Internetseiten und erst recht bei den audiovisuellen Angeboten, die ausschließlich auf Digitalplattformen zu finden sind. Diese Fülle ist auch eine Folge der schieren Größe des Apparats, der aus den Rundfunkbeiträgen finanziert wird. Zehntausende Menschen, die mit festen Arbeitsverträgen, fest-frei oder freiberuflich für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk tätig sind, müssen zwangsläufig weit mehr Inhalte erstellen, als der Einzelne jemals erfassen kann.
Dies gilt auch für die wissenschaftliche Beobachtung, obwohl automatisierte Texterkennungsverfahren inzwischen in der Lage sind, Medieninhalte in sehr großen Mengen zu verarbeiten und zu analysieren. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk muss jede entsprechende Studie Kompromisse eingehen, da die Inhalte hier in unterschiedlichen Formen (Text, Audio, Bild plus Kombinationen) sowie in unterschiedlichen regionalen Zusammenhängen veröffentlicht werden (Deutschland, Bundesländer, Länderverbünde, mittlerweile auch lokal) und auch für die Forschung zum Teil nur eingeschränkt zur Verfügung stehen.
Vorbemerkung 3: Die Definitionsmacht der Leitmedien
Leitmedien sind Plattformen, die große Gruppen erreichen und die man deshalb auch dort registriert, wo Entscheidungen getroffen werden — in Ministerien und Parteizentralen, im Rathaus, in der Chefetage, in der Hochschulleitung, in der Vereinsspitze. Leitmedien gibt es nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern auch in der Region — etwa: die Nachrichtensendungen der Landesrundfunkanstalten — oder in Gruppen, die sich für ein bestimmtes Thema interessieren; ein frühes Beispiel: „Das Literarische Quartett“ im ZDF für Romanliebhaber.
Die Wucht der Leitmedien entspringt einer Projektion. Diejenigen, die das Sagen haben, glauben, dass alle — im Land, in der Region, in der Gruppe — wissen, was dort mit welchem Tenor gemeldet wurde. Dieser Glaube hat eine zweite Komponente: Leitmedien sind mächtig. Die Forschung hat früh nachgewiesen, dass Menschen von Medienwirkungen ausgehen, zumindest bei anderen, und dass dies bei Entscheidern besonders ausgeprägt ist (4).
Noch einmal anders formuliert: Wir unterstellen, dass alle anderen gesehen, gelesen oder gehört haben, was die Leitmedien berichten, und nehmen gleichzeitig an, dass diese Berichte Auswirkungen auf die Einstellungen, die Gefühle, das Wissen und das Verhalten der Menschen haben. Diese Unterstellung funktioniert — das ist wichtig — nur bei den Leitmedien. Außerhalb sehr spezieller Kreise erwartet niemand, dass wir über YouTube-Hitlisten sprechen können oder über die Trends auf Twitter, wie heiß die Maschine dort auch immer gelaufen sein mag.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat diese Funktion der Leitmedien „Gedächtnis“ der Gesellschaft genannt. Das Mediensystem streue Information „so breit“, „dass man im nächsten Moment unterstellen muss, dass sie allen bekannt ist — oder dass es mit Ansehensverlust verbunden wäre und daher nicht zugegeben wird, wenn sie nicht bekannt war“. Auf diese Weise entstehe eine „zweite, nicht konsenspflichtige Realität“ — ein „Hintergrundwissen“, von dem man bei jeder Kommunikation ausgehen könne. Der Satz, mit dem Luhmann sein Buch über das Mediensystem eingeleitet hat, gehört heute zur Allgemeinbildung:
„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (5).
Die Agenda-Setting-Funktion der Leitmedien gilt auch und sogar in besonderem Maße für den Journalismus selbst. Die Forschung hat vielfach gezeigt, dass sich die anderen Redaktionen an den Leitmedien orientieren, bei der Themenselektion, bei der Recherche — welche Interviewpartner und welche Quellen kann man nutzen und welche nicht, welche Positionen können öffentlich gezeigt werden und welche nicht —, bei der Aufbereitung des Materials und bei der Evaluierung der eigenen Arbeit (6).
Vorbemerkung 4: Bedeutung nationaler Hauptnachrichtensendungen
Die Tagesschau ist zweifellos ein Leitmedium. Die 20-Uhr-Nachrichten im Ersten haben nach wie vor jeden Abend rund zehn Millionen Zuschauer. In den Corona-Jahren 2020 und 2021 stieg diese Zahl auf gut zwölf Millionen. Das sind nicht alle Deutschen, aber darauf kommt es hier nicht an. Diese Sendung wird zum einen in jeder Redaktion registriert — auch in jeder öffentlich-rechtlichen Redaktion — und dort zum Anker für die eigene Arbeit. Zum anderen sind Ausschnitte und Kondensate in vielen Formaten und auf allen Digitalkanälen verfügbar und erreichen dort auch diejenigen, die sich dem linearen Fernsehen oder auch nur den öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen verweigern.
Die Tagesschau wird so zu einem Gradmesser für die Erfüllung des Rundfunkauftrags, wie er in § 26 des Medienstaatsvertrages formuliert ist. Ein Thema oder eine Perspektive auf ein bestimmtes Thema werden in Deutschland erst dann — auch politisch — relevant, wenn sie von den 20-Uhr-Nachrichten im Ersten aufgenommen und dort als legitim markiert werden. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Themen und Perspektiven von der öffentlichen Debatte im Land ausgeschlossen bleiben, wenn sie nicht in der Tagesschau auftauchen oder dort legitimiert werden. Mit gewissen Abstrichen gilt dies auch für die öffentlich-rechtlichen Foren, bei denen nationale Reichweite und damit allgemeine Bekanntheit unterstellt werden kann. Das sind neben den Nachrichtenmagazinen Tagesthemen und heute-Journal vor allem die Abend-Talkshows in den Hauptprogrammen.
Die Komplexität des Programmangebots bringt es mit sich, dass sich Inhaltsanalysen auf ausgewählte Zeiträume, auf einzelne Sendungen und oft auch auf bestimmte Themen beschränken. In diesem Abschnitt werden Studien zusammengefasst, die für das Verfahren gegen den Bayerischen Rundfunk relevant sind, weil sie Auskunft geben über die Erfüllung des Rundfunkauftrages und hier vor allem über die Meinungsvielfalt in solchen Sendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die Leitmediencharakter haben.
Nicht berücksichtigt werden dabei Arbeiten, die von den Anstalten in Auftrag gegeben wurden, und Untersuchungen, die direkt aus ihren Forschungsabteilungen kommen. Solche Studien haben in aller Regel eine medienpolitische Stoßrichtung und zielen entweder auf die Legitimation des Rundfunkbeitrags und eine Abwertung der kommerziellen Konkurrenz oder auf die Genehmigung neuer Onlineangebote.
Corona-Berichterstattung I
Über weite Teile des Jahres 2020 war das Thema Corona omnipräsent und hat noch bis weit in das Jahr 2021 hinein nahezu alle anderen relevanten Fragen aus der Öffentlichkeit verdrängt. Dazu gehörten auch andere Bedrohungen und Risiken — andere Krankheiten, Kriege, der Hunger auf der Welt, die Umwelt.
ARD und ZDF haben ab der zweiten Märzhälfte bis zum Juni 2020 nach den Hauptnachrichten nahezu täglich eine Corona-Sondersendung gebracht. ZDF Spezial zum Beispiel kam 2019 insgesamt auf zwölf Ausgaben. In den zwei Monaten von Mitte März bis Mitte Mai 2020 waren es 42.
Die Literaturwissenschaftler Dennis Gräf und Martin Hennig von der Universität Passau haben in ihrer Untersuchung folgerichtig von einer „Verengung der Welt“ gesprochen — dem Gegenteil von Meinungsvielfalt — und diesen Befund auch damit begründet, dass es in den Sondersendungen von ARD und ZDF so gut wie keine Kritik an der Politik gab. Folgt man der Studie von Gräf und Hennig, dann wurde hier stattdessen eine „Gesellschaft in der Krise“ präsentiert sowie ein Journalismus, der im Gleichschritt mit der Politik marschiert und damit am öffentlichen Auftrag vorbeisendet, der auch in der damals gültigen Version des Rundfunkstaatsvertrages festgeschrieben war (7).
Nicht nur am Rande: Zwei Petitionen, die sich im Herbst 2020 und Anfang 2021 für eine Diskussionsveranstaltung einsetzten, bei der sich Befürworter (Christian Drosten, Lothar Wieler, Karl Lauterbach) und Kritiker der Corona-Politik (Stefan Homburg, Sucharit Bhakdi, Wolfgang Wodarg) nach den Abendnachrichten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen austauschen, blieben ohne Resonanz, obwohl Initiator Bastian Barucker eine sechsstellige Zahl an Unterschriften gesammelt und den Anstalten übergeben hat. Der öffentliche Auftrag wurde nicht erfüllt, obwohl ein nicht kleiner Teil der Beitragszahler dies aktiv und explizit unter Berufung auf die Rundfunkgesetzgebung einforderte.
Corona-Berichterstattung II
Bei dieser Studie, finanziert und veröffentlicht von der Rudolf Augstein Stiftung für Qualitätsjournalismus, wurden neben den Hauptausgaben von Tagesschau und heute sowie ARD-Sondersendungen zur Pandemie auch überregionale Onlineangebote und die Sendung RTL aktuell berücksichtigt. Eingeflossen sind alle Beiträge über die Pandemie, die zwischen dem 1. Januar 2020 und dem 30. April 2021 gesendet wurden — bei den Nachrichtensendungen jeweils über 1.000.
Für das Thema dieser Stellungnahme besonders relevant sind die Befunde zu den Akteuren, die im Untersuchungszeitraum zu Wort kamen. Dass der Forschungsbericht hier nicht zwischen den untersuchten Medienangeboten differenziert, ist kein Problem, weil das normalerweise nur gemacht wird, wenn es signifikante Unterschiede gibt.
Zusammengefasst: Von Meinungsvielfalt kann keine Rede sein. Die Berichterstattung wurde von Politikern und Wissenschaftlern dominiert — im Zeitverlauf nahm die Präsenz von Politikern dabei noch zu. „Betroffene“ und „Corona-Skeptiker“ kamen so gut wie gar nicht vor (1,2 beziehungsweise 1,6 Prozent der überhaupt genannten Akteure). Auch bei den Parteivertretern gibt es mehr als eine Unwucht: FDP, Linke, AfD und Grüne kommen in der Studie auf Werte zwischen null und zwei Prozent, die SPD auf sechs und die Union auf 17. Zitat:
„Der Vollständigkeit halber soll auch hier erwähnt werden, dass die AfD als einzige Partei, die man im weitesten Sinne dem Umfeld der Corona-Skeptiker zuordnen kann, in der Berichterstattung am seltensten vorkam (0,6 Prozent aller Akteursnennungen)“ (8).
Ergänzt werden soll an dieser Stelle, dass „in den Medien ein die Maßnahmen unterstützender beziehungsweise sogar noch weitreichendere Maßnahmen fordernder Tenor vorherrschte“ (9). Es gab zwar Kritik, aber noch etwas häufiger wurde nach Verschärfungen gerufen. Zusammengefasst: Die Studie dokumentiert eine eklatante Verletzung des öffentlichen Auftrags und hier vor allem der gesetzlichen Forderung nach Meinungsvielfalt. Es kamen weder Wissenschaftler zu Wort, die die Ansichten der Regierungen in Bund und Ländern nicht teilten, noch Kritiker aus Politik und Zivilgesellschaft.
Corona in Talkshows
Diese Studie, ebenfalls finanziert und veröffentlicht von der Rudolf Augstein Stiftung für Qualitätsjournalismus, bestätigt das eben Gesagte für die Sendungen mit Maybrit Illner, Anne Will und Frank Plasberg, die in den Hauptprogrammen von ARD und ZDF zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden (Untersuchungszeitraum: Januar 2020 bis Juli 2021). Die wichtigsten Befunde (10):
- Ein Thema — Corona — dominiert alles.
- Die Sprechpositionen werden mit Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten besetzt, „wobei ein recht kleiner Kreis von Personen in diesen Talkshows sehr präsent ist“. Karl Lauterbach kam auf 22 Auftritte, Christian Lindner, Helge Braun, Markus Söder und Olaf Scholz auf je zwölf, Manuela Schwesig auf elf und Melanie Brinkmann auf zehn. Das heißt: Exekutive und Regierungsparteien setzen den Ton.
- Wie in den Nachrichtensendungen gab es deutlichen Rückenwind für die Maßnahmen: 68 Prozent der Bewertungen fielen positiv aus, zehn Prozent ambivalent und nur 22 Prozent negativ.
Ukrainekrieg 2022
Im Auftrag der Otto Brenner Stiftung wurde hier untersucht, wie acht deutsche Leitmedien, darunter erneut die Hauptausgaben von Tagesschau und heute, zwischen dem 24. Februar und dem 31. Mai 2022 über den Krieg und seine Folgen berichtet haben (11). Die beiden Nachrichtensendungen, die für diese Stellungnahme relevant sind, haben in diesem Zeitraum jeweils mehrere Hundert Beiträge zum Thema veröffentlicht.
Insgesamt hat in allen acht untersuchten Medien die Perspektive Deutschlands dominiert (42 Prozent). Rechnet man die 28 Prozent der Beiträge hinzu, in denen die Perspektive der Ukraine eingenommen wurde, wird ein Bias deutlich. Die Perspektive Russlands wurde nur in zehn Prozent der Beiträge eingenommen. Hier sei wiederholt, dass es in solchen Forschungsberichten üblich ist, immer dann auf Differenzierungen zwischen den einzelnen Medienangeboten zu verzichten, wenn es keine signifikanten Unterschiede gibt.
Wie schon bei der Corona-Berichterstattung dominieren politische Akteure die Berichterstattung (rund 80 Prozent aller Nennungen) und hier vor allem Vertreter der Regierungsparteien. Während die Ukraine und Präsident Selenskyj fast ausschließlich positiv bewertet wurden, bekamen Russland und Präsident Putin fast ausschließlich negative Bewertungen. Nahezu alle Beiträge (93 Prozent) schrieben Russland und Putin „die alleinige Verantwortung für den Krieg“ zu. „‚Der Westen‘ wurde in nur vier Prozent als (mit)verantwortlich bezeichnet, die Ukraine noch seltener (zwei Prozent).“ Bei den für den Krieg in den deutschen Leitmedien genannten Gründen „dominierte eindeutig das Motiv des Großmachtstrebens“ (71 Prozent).
Tagesschau und heute haben auch innenpolitisch deutlich Partei ergriffen — für Wirtschaftssanktionen gegen Russland, für eine militärische Unterstützung der Ukraine, für die Lieferung schwerer Waffen und gegen diplomatische Maßnahmen zu einer Beendigung des Konflikts. Von Meinungsvielfalt im oben definierten Sinn kann keine Rede sein.
Russland in der Tagesschau
Diese Masterarbeit, ausgezeichnet mit dem Best Thesis Award des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, untersucht alle 20-Uhr-Ausgaben von Dezember 2016 bis Mai 2017 (12).
Die Befunde nehmen vorweg, was das Forscherteam der Otto Brenner Stiftung fünf Jahre später gefunden hat: In der Tagesschau ist Russland mächtig und böse — der Gegenpol zur friedlichen EU, die sich zugleich um alle kümmern muss, die unter Russland leiden. Die Tagesschau macht Russland und Putin zu Synonymen, lässt Oppositionelle zu Wort kommen und niemanden sonst. Fazit der Forscherin: Die Berichterstattung ist „einseitig und tendenziös“.
Griechische Schuldenkrise
Ein Forscherteam aus Würzburg und Gelsenkirchen hat mithilfe der Otto Brenner Stiftung untersucht, ob die Nachrichtensendungen Tagesschau und heute sowie die ergänzenden Formate Brennpunkt und ZDF Spezial vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2015 bei der Griechenland-Berichterstattung die Kriterien für journalistische Qualität erfüllt haben, die auch damals im Rundfunkstaatsvertrag verankert waren (13).
Die wichtigsten Ergebnisse: Alle vier untersuchten Angebote haben das Neutralitätsgebot verletzt. Während die Reformvorschläge der griechischen Regierung weitgehend ignoriert und damit der öffentlichen Debatte in Deutschland entzogen wurden, bekamen die Fernsehzuschauer ein eindeutig negatives Bild der Athener Politik.
Parteipolitik in Tageschau und heute
Das Unternehmen Media Tenor sitzt in der Schweiz und ist seit vielen Jahren auf quantitative Inhaltsanalysen von deutschsprachigen Angeboten spezialisiert. Unternehmen, Parteien oder Behörden kaufen hier zum Beispiel Studien, die die öffentliche Sichtbarkeit und die Bewertung ihrer Aktivitäten in den Leitmedien dokumentieren. Die Untersuchung, um die es hier geht (14), zielt zwar auf die Legitimation des ZDF — Befund: kaum Eigenleistung —, ist aber wegen der Materialmenge trotzdem relevant (18.805 Beiträge, erschienen von Januar 2021 bis Juni 2022 in Tagesschau, heute und RTL aktuell).
Die Analyse zeigt, dass die Bundestagsparteien in den beiden öffentlich-rechtlichen Formaten sehr unterschiedlich thematisiert und bewertet werden. Auch hier wieder in Kurzform: AfD und Union kommen, in dieser Reihenfolge, am schlechtesten weg. SPD und Grüne haben dagegen ein deutlich besseres Verhältnis von positiven und negativen Einschätzungen.
In der Liste der am häufigsten genannten Politiker stehen bei Tagesschau und heute auf den ersten sechs Plätzen die gleichen Namen (Scholz, Merkel, Laschet, Spahn, Baerbock, Söder). Beim ZDF taucht der erste AfD-Politiker auf Platz 17 auf (Alice Weidel). Bei der ARD hat es niemand aus dieser Partei unter die ersten 20 geschafft. Weidel bekommt von heute fast folgerichtig die negativste Bewertung, vor Laschet, der diese Wertung in der Tagesschau anführt.
Beide Sendungen zitieren die gleichen Ökonomen am häufigsten — Claudia Kemfert und Marcel Fratzscher vom regierungsnahen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung —, und beide übersehen zum Beispiel die Probleme des Rentensystems, dem durch die demografische Entwicklung der Kollaps droht.
Zwischenfazit
Der Gesetzgeber hat dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk via Medienstaatsvertrag den Auftrag erteilt, alle gesellschaftlichen Gruppen und geistigen Richtungen zu Wort kommen zu lassen und so die öffentliche Meinungs- und Willensbildung zu ermöglichen. Das Herstellen von Öffentlichkeit, zu messen vor allem am Kriterium Meinungsvielfalt, legitimiert den Rundfunkbeitrag.
Die hier knapp referierten Studien zu zentralen politischen Themen der jüngsten Vergangenheit zeigen ein strukturelles Versagen der Rundfunkanstalten, weil diese das gesellschaftliche Meinungsspektrum in ihren wichtigsten Sendungen im Wesentlichen auf Regierungs- oder „offizielle“ Positionen beschränken, Gegenstimmen ausblenden oder abwerten und so keine vorurteilsfreie öffentliche Debatte erlauben.
Um den gerade skizzierten Forschungsstand für diese Stellungnahme zu aktualisieren und um weitere Schlaglichter zu ergänzen, wurden an meinem Forschungs- und Lehrbereich an der LMU München zwei Untersuchungen zur Meinungsvielfalt in der Tagesschau konzeptualisiert, die sich mit Ereignissen der jüngeren Vergangenheit beschäftigen.
Studie 1: Butscha in der Tagesschau (29. März bis 6. April 2022)
Untersucht wurden insgesamt zwölf Beiträge: acht, die ab dem 3. April 2022 die Bilder hingerichteter Zivilisten auf den Straßen und in Kellern von Butscha thematisieren, und vier, die sich in den Tagen davor mit Friedensverhandlungen und Truppenbewegungen in der Ukraine beschäftigt haben. 75 Prozent der untersuchten Beiträge wurden von der Redaktion an der Spitze der Sendung platziert (Positionen eins oder zwei) und damit für das Publikum als besonders relevant markiert.
Schon eine rein quantitative Betrachtung verdeutlicht das Ungleichgewicht der Berichterstattung: Es dominiert die Perspektive der Regierungen in Kiew und Berlin. In Kurzform: Schuld hat Russland, die Ereignisse sind mit der NS-Zeit vergleichbar und deshalb nach dem Modell der Nürnberger Prozesse zu ahnden. Die wenigen O-Töne russischer Vertreter beschränken sich auf Dementis. Argumente der Gegenseite werden nicht genannt. Ebenfalls fehlen Akteure, die an der Schuld Russlands zweifeln oder darauf verweisen, dass es weder belastbare Beweise noch eine unabhängige Untersuchung gibt.
Die Tagesschau ignoriert sowohl wichtige Gegenstimmen als auch Kontextfaktoren und hochrangige Meldungen, die vor vorschneller und einseitiger Deutung warnen. Als einzige deutsche Oppositionspartei kommt die CDU zu Wort — für sechs Sekunden und ohne dabei die Regierungsposition in Frage zu stellen. Stimmen der Friedensbewegung fehlen völlig.
In der Tagesschau werden die Ereignisse von Butscha zum einen genutzt, um Russland generell die Verletzung humanitärer Standards in diesem Krieg sowie die Torpedierung von Verhandlungen vorzuwerfen, etwa durch Verletzungen der Waffenruhe. Zum anderen wird Druck in Richtung Sanktionen — Stichwort: Energie —, NATO-Erweiterung und Waffenlieferungen aufgebaut. Mögliche wirtschaftliche Folgen für Deutschland werden nur am Rande erwähnt.
Von einer Erfüllung der vier Qualitätskriterien, die in § 26 des Medienstaatsvertrages genannt werden (Objektivität, Unparteilichkeit, Meinungsvielfalt, Ausgewogenheit), kann im Untersuchungszeitraum beim Gegenstand Ukrainekrieg keine Rede sein. Dies ist besonders fatal, weil die skizzierte Deutung der Ereignisse von Butscha genutzt wurde, Verhandlungen abzulehnen oder abzubrechen und Deutschland auf einen längeren Krieg mit allen damit verbundenen Einschränkungen und Opfern einzustimmen.
Studie 2: BLM- und Querdenken-Demos in der Tagesschau
Diese qualitative Inhaltsanalyse vergleicht auf Basis des Framing-Ansatzes die Berichterstattung über zwei Demonstrationstypen: Black Lives Matter (BLM) im Frühsommer 2020 und Querdenken am 1. August 2020 in Berlin. Die Ergebnisse zeigen zum Teil deutliche Abweichungen von den Vorgaben des Medienstaatsvertrags.
Die BLM-Proteste werden neutral bis wohlwollend dargestellt. Kritische Positionen waren ob der Kernforderung der Bewegung — gegen rassistisch motivierte tödliche Polizeigewalt — kaum zu erwarten. Es fehlt aber jede Stimme, die die Vorwürfe der Demonstranten einordnet. Der ursprüngliche Gegenstandsbereich der BLM-Bewegung wird unreflektiert für andere Sachverhalte anschlussfähig und somit für die Bundesrepublik relevant gemacht. Diese Öffnung durch die konzeptionelle Trennung von Polizeigewalt und Rassismus bereitet der willkürlichen Unterordnung von Themen ein Feld, das kaum mehr bestellbar ist.
Der Protest gegen die Coronamaßnahmen wird dagegen bereits auf inhaltlicher Ebene scharf kritisiert. In der Tagesschau wurde, auch mithilfe der zitierten Funktionseliten, ein Feindbild konstruiert, das dem gesellschaftlichen Gemeinwesen unzuträglich ist und die Ziele des Medienstaatsvertrages geradezu konterkariert. Besonders negativ fällt die einseitige Bewertung von O-Töne der Demonstranten auf. Während Kritiker der Kundgebung — hier: Politiker von Union und SPD sowie Bundespräsident Steinmeier — unkommentiert eine Bühne bekamen, wurden Pro-Aussagen von Tino Chrupalla (AfD) moralisiert und in der Sache angegriffen.
Ein ähnlicher Gegensatz zeigt sich bei der Bewertung des Umgangs mit den seinerzeit geltenden Pandemie-Regeln. Während die Tagesschau in den Beiträgen über die Anti-Maßnahmen-Kundgebung mehrfach auf die Missachtung dieser Regeln verweist, die Polizei zeigt und von juristischen Konsequenzen für Teilnehmer und Organisatoren spricht, liefert sie bei den BLM-Demonstrationen ein anderes Bild. Verstöße gegen die Corona-Regeln galten der Redaktion hier als notwendiges Übel beim Protest für einen guten Zweck.
Die Berichterstattung läuft den Grundsätzen des Medienstaatsvertrags zum Teil fundamental zuwider. Die moralisiert-tendenziöse Aufbereitung der redaktionellen Inhalte ist unübersehbar. Die Redaktion der Tagesschau scheut dabei nicht einmal davor zurück, ihr Ausgangsmaterial sinnentstellend zu verzerren und aus dem Zusammenhang zu reißen, hier: Äußerungen der US-Politiker Trump und Walz.
Fazit
Beide Fallstudien bestätigen und differenzieren den Tenor der zuvor referierten Forschungsliteratur. Weder in der Berichterstattung über wichtige Demonstrationen 2020 noch bei den Ereignissen von Butscha im Frühjahr 2022 erfüllt die Redaktion der Tagesschau die Kriterien, die die Rundfunkgesetzgebung nennt. Von Objektivität, Unparteilichkeit, Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit kann keine Rede sein. Dieser Befund lässt sich mit einem Hinweis auf die Selektivität der Materialauswahl, die keine Untersuchung vermeiden kann, nicht relativieren.
Die öffentliche Wahrnehmung beider Ereignisse hatte Folgen, die weit über den Tag hinauswiesen und zum Teil bis heute zu spüren sind. Das gilt für die öffentliche Delegitimierung der Proteste gegen die Corona-Politik 2020 genauso wie für die Schuldzuweisung an Russland und die daraus abgeleiteten politischen Forderungen und Weichenstellungen 2022.
Die Fülle an Nachweisen, die in diesem Gutachten nur angedeutet werden kann und durch weitere Untersuchungen zu erhärten sein dürfte, erlaubt es, von einem strukturellen Versagen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sprechen. Bei den hier betrachteten Fällen handelt es sich um Ereignisse von überragender Bedeutung, die für den politischen Kurs des Landes genauso wegweisend waren wie für die Atmosphäre im Land und damit für die Lebensqualität. Bei all diesen Ereignissen hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk über Themensetzung, Sprache, Zitate, Weglassen und Framing Partei ergriffen und Gegenpositionen ausgeblendet oder delegitimiert. Damit entfällt die Basis für die Finanzierung durch einen Rundfunkbeitrag.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Günther Rager und Bernd Weber: Publizistische Vielfalt zwischen Markt und Politik. Eine Einführung. In: Günther Rager und Bernd Weber (Herausgeber): Publizistische Vielfalt zwischen Markt und Politik, Econ, Düsseldorf 1992, Seite 7 bis 26
(2) Vergleiche Udo Branahl: Publizistische Vielfalt als Rechtsgebot. Ebenda, Seite 85 bis 109
(3) Horst Pöttker (Herausgeber): Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag, UVK, Konstanz 2001
(4) Vergleiche W. Phillips Davison: The Third Person Effect in Communication. In: Public Opinion Quarterly 1983, Seite 1 bis 15, sowie Albert C. Gunther und J. Douglas Storey: The Influence of Presumed Influence. In: Journal of Communication 2003, Seite 199 bis 215
(5) Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, Seite 9
(6) Vergleiche Carsten Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003
(7) Dennis Gräf, Martin Hennig: Die Verengung der Welt. Zur medialen Konstruktion Deutschlands unter Covid-19 anhand der Formate ARD Extra — Die Coronalage und ZDF Spezial. Universität Passau, August 2020
(8) Marcus Maurer, Carsten Reinemann, Simon Kruschinski: Einseitig, unkritisch, regierungsnah? Eine empirische Studie zur Qualität der journalistischen Berichterstattung über die Corona-Pandemie. Rudolf Augstein Stiftung, Berlin 2021, Seite 29
(9) Ebenda, Seite 45
(10) Thorsten Fraas, Mona Krewel: Corona-Sprechstunde mit Maybrit Illner, Anne Will & Frank Plasberg. Parteilich & oberflächlich oder ausgewogen & informativ? Rudolf Augstein Stiftung, Berlin 2021
(11) Marcus Maurer, Jörg Haßler, Pablo Jost: Die Qualität der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg. Otto Brenner Stiftung, Bonn 2023
(12) Daria Gordeeva: Russlandbild in den deutschen Medien — Deutschlandbild in den russischen Medien. Masterarbeit, LMU München, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung 2017
(13) Kim Otto, Matthias Degen, Max Olgemöller, Andreas Köhler: News Coverage of the Greek Sovereign Debt Crisis in German Public Service Broadcasting: A Case Study Analysis in Tagesschau, Heute, Brennpunkt and ZDF Spezial. In: Journalism Practice 2021, Seite 1012 bis 1032
(14) Media Tenor: Informationsqualität 2023. Rapperswil 2023
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