Gute dreihundert Jahre sind vergangen, seit ein Zeitalter anbrach, das Licht bringen und auch noch die letzte finstere Ecke menschlicher Unmündigkeit ausleuchten wollte. Muss auch hier eine Parusieverzögerung angenommen werden? Falsch überhaupt die Erwartung, der Anspruch zu maßlos? Allenfalls glimmt noch eine Funzel der ursprünglichen Idee und spendet matten Schein. Denn da ist sie wieder — die Sache mit dem Glauben.
„Und hier beginnt mein Ekel“, bekenne ich sogleich mit Nietzsche, denn: „Unsre Zeit ist wissend“, befand er. Unsere Zeit könnte wissend sein, so ist heute zu revidieren, das erfordert allerdings Vernunft und Bereitschaft zur Streitkultur. Ein Rückschritt also. „Was ehemals bloss krank war, heute ward es unanständig“ — ein Rückschritt wiederum. Brandaktuell bleibt jedoch Nietzsches Analyse mit Blick auf Gesellschaft, Politik und Wissenschaft:
„Ich sehe mich um: es ist kein Wort von dem mehr übriggeblieben, was ehemals ‚Wahrheit’ hiess“.
Aktualität verweist immer auf eine Vorgeschichte. Wir halten diese offenbar nicht mehr aus, inzwischen fehlt es wohl auch an nötiger Bildung.
Wie sonst ist „eine solche Gesamt-Abirrung der Menschheit von ihren Grundinstinkten“ erklärbar, die mit Ausrufung des nahezu weltweiten Corona-Wahns, einer Pandemie der Verblödung, eintrat?
Ein einzelner Mensch mit dem Maulkorb — euphemistisch und politisch korrekt auch Maske benannt — auf dem Fahrrad auf einer menschenleeren Dorfstraße ist wohl nur noch als instinktlos aufzufassen, ein solcher morgens um sechs Uhr an einer Straßenbahnhaltestelle irgendwo auf dieser Welt ebenso. Dabei stand doch schon längst außer Frage: „Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein“ (1).
Das Resultat jedenfalls ist augenfällig, somit unübersehbar: schiere Erschöpfung, Missmutigkeit, Ekel am Leben, abgrundtiefe Müdigkeit, epidemische Erkrankung zur Angstpsychose und der grundsätzliche Mangel an Lebenslust.
„Tolle“ Menschen, „woke“ Wissenschaftler
Jahrhundert um Jahrhundert hallte es vielstimmig durch die christlichen Kirchen: „Wir glauben all an einen Gott.“ Jahrhundert um Jahrhundert lichteten sich in eben diesen Kirchen aber auch die Bankreihen. Es reifte unterschwellig die Erkenntnis:
„Christenthum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Ueberdruss des Lebens am Leben“ (2).
Unaufhaltsam vollzog sich der moralische und spirituelle Bankrott. Spätestens mit der Renaissance verflüchtigte sich auch der Glaube an den einen Gott, der freilich ohnehin nie ganz allein war, Sohn und Heiliger Geist komplettierten ihn irgendwie und machten aus der Trinität die Einheit: „Wir glauben all an einen Gott.“ Bald hieß es dann allerdings auch: „Gott ist tot!“.
Doch das sich daraufhin einstellende apokalyptische Gefühl war unheimlich, nicht aushaltbar. Aller Optimismus, der sich spiegelte in Mathematik und Astronomie, Galileo wie Leonardo, in der Kunst des Buchdrucks und so manche Erkenntnis, etwa, dass sie doch keine Scheibe sei, die Erde, änderte nichts. Berechnen, Beobachten, Überprüfen, Beweisen führten zwar zur Aufklärung mit ihrer „Maxime, jederzeit selbst zu denken“, so Immanuel Kant, führten zu Atomphysik, 1888 bereits zum ersten Elektro-Auto, zur Transplantationsmedizin und zum Mond.
Das sapere aude aber erweist sich zunehmend als anstrengend. Fortan selbst zu denken, dem Irrtum dabei unterliegen zu können und in beständige Diskussion einzutreten, wird immer häufiger als Bedrohung empfunden. War es vor wenigen Jahren noch eine Voraussetzung, dass es Wahrheit gäbe, die durch Falsifizierung zu ermitteln sei, so tönt es gegenwärtig immer häufiger aus philosophischen und medialen Elfenbeintürmen:
„Wahrheit“ gibt es nicht. So huldigen statt Nietzsches „tollem Menschen“ nun „tolle“ Philosophen und „woke“ Wissenschaftler grenzenlosem Relativismus.
Wahr und falsch sind keine Kriterien mehr. Erkenntnis hängt nun daran, ob das Vorgebrachte reaktionär oder progressiv sei, ob es spaltend oder verbindend, elitär oder egalitär ist.
Diverse „Regime der Wahrheiten“ begegnen sich jetzt, die ihre Wurzeln in der Macht haben, so will es ein Michel Foucault in seinem Werk Die Ordnung der Dinge. Ein „Sprachspiel“ nur sei die Wissenschaft, mutmaßt ein weiterer Franzose, der Philosoph Jean-François Lyotard. Wer von „Wissen“ spricht, geht den Mächtigen auf den Leim, die dieses „Konstrukt“ erfanden, um die Anderen zu unterdrücken. Gleichgültig sind Objektivität und Subjektivität, Idee oder Realität, entscheidend bleibt allein der „strategische Nutzen“. Es wird geschliffen, was nur irgend geschliffen werden kann. Der Mann aus dem Untergrund poltert bei Dostojewski recht modisch:
„Herrgott, was gehen aber mich die Gesetze der Natur und der Arithmetik an, wenn mir aus irgendeinem Grunde diese Gesetze und das Zweimal-zwei-ist-vier nicht gefallen? … fortwährend und am meisten beleidigten … mich doch diese Naturgesetze.“
Und so treten sie denn ab, die Araber mit ihrem Logarithmus und der Null, Pythagoras mit seinem Satz und Newton. „Zweimal-zwei-ist-vier — das ist meiner Meinung nach nichts als eine Frechheit!“, sagte schon Dostojewskis Mann aus dem Untergrund und fährt fort:
„Ich gebe ja widerspruchslos zu, daß dieses Zweimal-zwei-ist-vier eine ganz vortreffliche Sache ist; aber wenn man schon einmal alles loben soll, dann ist auch Zweimal-zwei-ist-fünf mitunter ein allerliebstes Sächelchen“ (3).
Doch was sollte auf solch desaströse Dekonstruktion schon folgen können als gläubiger Nachhall eben?
Gläubige sind wir geblieben oder werden es nun wieder neu.
Ein paar — wenigstens — gefühlte Vertrautheiten, Gewissheiten, Überzeugungen müssen doch verbleiben, so hallt es nach und lässt neuerlich rufen:
„Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ (4).
Neue Götter braucht der Mensch
Der moderne Mensch wird fündig. Neue Heilslehren, neue Götter zuhauf.
- Staat,
- Gender,
- Klimaschutz,
- Ernährung,
- Energiewende,
- politisches Korrektsein ...
...sind nur einige der kursierenden weltlichen Heilslehren. Gesundheit sei dabei nicht vergessen, Gesundheit vor allem. Und wie im antiken Himmel zeigt sich ein reiches Spektrum an Gottheiten, die an die Globalisierung, die Digitalisierung, die Integration und Inklusion Glauben machen, an Lockdowns, an Feinstaubwerte, vor allem nun aber auch an die Impfung, die (Anti-)Corona-Impfung.
Die neuen Götter allerdings sind im Gegensatz zu ihren antiken Kollegen jedoch sehr spröde und zeigen sich auch untereinander wenig versöhnlich. Freilich, so ganz harmonisch und traulich war es auch im Olymp nicht. So hatte Argus der Sage nach im Auftrag der Göttergattin Hera ein Auge auf Göttervater Zeus zu werfen, denn der nahm’s hinsichtlich der ehelichen Treue etwas locker, auch dort war eben viel Eifersucht.
Näher stehen die modernen Gottheiten wohl dem alten Gott Jahwe, der zeigte schließlich Kante und machte ganz unmissverständlich klar: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott“ und fügte zur geflissentlichen Beachtung hinzu: „der die Schuld der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Geschlecht“. Auch mit Wiederholungen und Verschärfungen sparte er nicht: „Denn der Herr, dein Gott, ist ein verzehrend Feuer und ein eifersüchtiger Gott“ (5).
Ein wenig ermattet vom beständigen Wiederholen schickte er dann noch seinen Propheten Josua on tour und der verkündete mit prophetischem Geifer: „Ihr könnt Jahwe nicht dienen, denn er ist ein heiliger Gott, er ist ein eifersüchtiger Gott, der euch eure Vergehen und eure Sünden nicht vergeben wird“ (6), denn schließlich braucht es auch die Schuld und die Angst. Schuld wie Angst sind einfach unverzichtbar, keine alte oder neue Heilslehre gibt es ohne den Verweis zur Schuld, keine ist ohne Angsteinflößung, kein alter oder neuer Kult ohne Schuld.
Und so mancher der neuen Heilsbringer, heißen sie nun Baerbock, Göring-Eckardt, Habeck, Merkel, Söder, erinnert sich der eigenen christlichen Sozialisation und an das Jahwe-Wort: „und die Furcht vor mir werde ich ihnen ins Herz legen“ (7) — ein Wort, das sich zu jeder Panik, Pandemie, Katastrophe, Krise brauchen lässt, verschärfend noch die Zwingung: „dass sie nicht von mir weichen“.
Und so kann auch im Blick auf die neue Götterschar nur gelten, was der Alttestamentler Georg Fohrer hinsichtlich des alten Gottes schrieb: „Ist Jahwe der Herr, so der Mensch sein Sklave, Knecht.“ Und natürlich brauchte es immer Haltung: „die richtige Haltung, in der dieses Dienen geschehen soll, ist Furcht … Dazu tritt der Gehorsam“ (8). Furcht und Gehorsam sind grundlegend auch für das neue Gottesverhältnis. Nur die bedingungslose Unterordnung ermöglicht überhaupt das Überleben der Menschheit. Habt als Zeichen die Bundes-Raute!
So bunt ist unser Glaube — aber …
Freilich wäre spätestens hier der Punkt erreicht, sich endlich zu erinnern, dass man selbst der Souverän ist, die sich als Heilsbringer Verstehenden nur Abgeordnete, eben Volksvertreter, sind, betraut, politische Aufgaben abzuarbeiten. Der neue Götterhimmel sollte jeden einigermaßen kritischen Zeitgenossen aufmerken lassen und brüskieren, denn er ist der Feind jeglicher Freiheit.
„Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelicatesse gegen uns Denker“, warnte Nietzsche und kommt nicht umhin, im Gottesbegriff überhaupt die Grundlage des Denkverbotes auszumachen:
„Gott … im Grunde … ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken!“ (9). Ihr sollt nicht denken!? War da nicht etwas dieser Tage?
Vergessen sei nicht: Aktualität hat immer eine Vorgeschichte! Tatsächlich, da wurde in „einfacher Sprache“ eine zeitgemäße Übersetzung durch Ursula von der Leyen geliefert:„Vertrauen Sie den Gesundheitsbehörden, vertrauen Sie der Weltgesundheitsorganisation, vertrauen Sie dem gesunden Menschenverstand und journalistischer Sorgfalt in den Qualitätsmedien“ (10). In der DDR hieß es ein wenig grober: „die Partei, die Partei, die hat immer recht …“
Vielleicht hat es der neue Glaube auch deshalb so einfach und ist mit seiner Rhetorik erfolgreich, weil er es schafft, die Terminologie einer technologisierten Gesellschaft einzusetzen.
Man bedient sich eines aufklärerisch anmutenden Jargons, um das kritische Bewusstsein einigermaßen in den Dämmerzustand zu versetzen.
Schließlich hat man jederzeit noch einen „Experten“ in der Hinterhand, der verkündet: Wer die Grenzwerte einhält, wer der Wissenschaft vertraut, der wird erlöst. Völlig zur Nebensache wird es, ob dabei an Temperaturen, CO2-Werte, Inzidenzen oder das schlimme Cholesterin zu denken ist. Die Erlösung kommt mit dem jeweiligen Experten und seiner Zahl.
Die Zahl — kühl, neutral, klar oder doch ideologisch anfällig? Die Zahl ist im wissenschaftlichen Modell jedenfalls nicht mehr unschuldig, sie konstruiert Wirklichkeit. Natürlich zwingt der Experte dann zur Entscheidung. Doch wie fällt die Wahl schon aus, ist man nicht gänzlich lebensmüde, hört man eben von zwei Getränken, von denen das eine vergiftet sei und bestenfalls nur krank mache, das andere aber stärke und gesund mache?
Der neue Glaube ist in der Tat ein bunter und assimiliert aus alten Tagen, was brauchbar scheint.
Am Ende wandelt sich die Buntheit chamäleonartig in das herkömmliche Schwarz-Weiß, das auf uns aus dem alten Persien kam. Dort lehrte der Priester Zarathustra, es seien zwei kosmische Gewalten: Licht und Finsternis, Gut und Böse. Spuren dieses Dualismus lassen sich auch im Christentum finden, spricht man hier von den Kindern des Lichts und denen der Finsternis und alternativlos und modern donnert Jesus: „Wer nicht für mich ist, der ist wider mich“ (11).
Im dritten Jahrhundert versucht der Perser Mani eine Symbiose von Christentum und der Lehre des Zarathustra und sie erscheint als — Manichäismus. Die Kirche erkannte auf Ketzerei und der Manichäismus verschwand als Religion. Lebendig aber blieb Zarathustras und Manis Lehre in verschiedenen Ideologien, denen Geschichte Kampf bedeutet, Kampf zwischen den Kräften des Guten, des Lichts, und des Bösen, der Finsternis. Diese großartige Simplifizierung noch der kompliziertesten und verwirrendsten Probleme schafft wohl auch die dauerhafte Anziehungskraft dieser Idee.
So erscheint das Gute als evident, ohne Wenn und Aber ist an ihm festzuhalten. Was an unbequemen Tatsachen daherkommt, wird unbeachtet gelassen oder geleugnet, als unentbehrliches Hilfsmittel hat sich auch die Fälschung der Geschichte erwiesen, unbequeme Tatsachen oder Argumente werden durch Verweis auf die Kräfte des Bösen abgeräumt. Mephisto mag da lachen, doch der Gute lässt an seinem Schlaf nicht rütteln. Wundert es tatsächlich noch, dass der Manichäismus vor allem in Zeiten der Krise seine Hochzeiten erlebt?
Mut zum Zweifel
Längst ist nicht mehr zu leugnen: Sie kommen aus der freien Gesellschaft, die neuen Feinde der Freiheit, kommen aus einem Teil einer sich als „aufgeklärt“ verstehenden Elite, die großen Teilen der Menschheit — und sogar den eigenen Mitbürgern — die bürgerlichen Grundrechte verwehren will:
„Die Nicht-Geimpften haben nicht die Freiheit, ihre Maske abzulegen. Sie dürfen nicht ins Stadion, nicht ins Schwimmbad und nicht ohne Maske im Supermarkt einkaufen. Ungeimpfte dürfen nicht mehr reisen“, so hetzt beispielsweise der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz, Dr. Peter Heinz (12).
Ein seltsames Verlangen tritt da hervor — nach Ende des Dritten Reiches und dem Fall der Berliner Mauer. Funktionierte unsere Demokratie selbst nur noch ansatzweise, dann wäre der Rücktritt eines solchen Funktionärs kaum eine Frage von Stunden gewesen. Doch sein Verlangen stößt im Gegenteil auf positives und breites Echo in der sogenannten politischen Diskussion.
Die Medien wissen schon lange, dass das Lebensgefühl der Gegenwart nach Erlösung strebt und so stürmen sie voran und stemmen sich gegen das Empfinden der Sinnleere. Der Ton kann ihnen nicht scharf genug sein: „Alle wesentlichen Forderungen müssen mit einer brutalen Deutlichkeit, d.h. tausendfach übertrieben gestellt werden“, so wusste es längst auch Friedrich Nietzsche (13).
Ungemein erschreckend ist es deshalb, wenn der Vorsitzende der Bundestagsfraktion von CDU/CSU Ralph Brinkhaus im Interview mit der Fuldaer Zeitung ungeniert schwadroniert:
„Es werden zwei Sachen passieren. Erstens werden die Geimpften allmählich sauer auf die Ungeimpften. Hier entsteht ein Gruppendruck … Dann wird sich einiges schon von selbst regeln. Wer sich nicht impfen lässt, was ja sein gutes Recht ist, wird dann eben mit den Konsequenzen leben müssen“ (14).
Mit Recht darf hier nachdrücklich die Frage nach dem zugrunde liegenden Menschenbild gestellt werden. Spricht sich hier das „C“, das namentlich für christlich steht, noch einmal gänzlich ungeschminkt bei Brinkhaus aus? Bricht es hier nun an, das von Jesus verheißene „Heulen und Zähneklappen“? Die Selbstsucht des Individuums entspricht durchaus jesuanischer Predigt, denn der Jesus der Evangelien appelliert an das Ego. Wer aber nicht glauben will oder kann, der soll verflucht und verdammt sein. Letztlich wird der Ungläubige durch den neutestamentlichen Jesus in Sippenhaftung genommen:
„Wehe dir Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! … Und du, Kapernaum, wirst du bis zum Himmel erhoben? Du wirst bis in die Hölle hinuntergestoßen werden … Doch ich sage euch: Es wird dem Land der Sodomer erträglicher gehen am Tage des Gerichts“ (15).
Und wenn ich schon nichts weiß, hinsichtlich der Immunität der Geimpften, deren eventueller Andauer, wenn ich nichts weiß über Risiken und Nebenwirkungen, nichts auch über Spätfolgen, denn es mangelt an etwaigen Langzeitstudien, nichts über Sinn oder Unsinn von Nachfolgeimpfungen, nichts über die Auswirkungen bei den Nachkommen, dann muss — gemäß dem selbstermächtigten Narrativ — der Glaube jedenfalls bedingungslos sein. Ob ein Brinkhaus und seinesgleichen nun diesem oder jenem Glauben anhängt, ist letztlich bedeutungslos, denn Konsens herrschte schon in der Antike: „Man muß das Göttliche ehren — niemand widerspricht dieser Mahnung, es sei denn, er wäre zuvor verrückt geworden“ (16).
Die Gesellschaft aber wird weiter in Furcht und Zerrissenheit getrieben, der Einzelne verliert sich, kennt nur noch die Sorge um das eigene Befinden.
Bindungen gehen verloren, dieses Herausgerissensein ängstigt, es scheint darum ein weiter Weg hin zum „positiven Einsamkeitsbedarf“, den der Philosoph Odo Marquard für unbedingt notwendig erachtet. Es mangelt jedoch an einer Erziehung zur Realität. Gleichheit, Nachhaltigkeit, Toleranz, Diversität — so tönt es seit Jahrzehnten von der Kita, über die Schule und die Universität zu den Heranwachsenden und fördert die Auslieferung an Gesinnungsdiktate. Angepasstheit und Mitläufertum sind die Folgen.
„Hört ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder …“, so Heinrich Heine. Immer aber ist der Verzicht auf Autorität bei der Erziehung zu gewährleisten, fordert eine zeitgenössische Pädagogik. Diese Art der Erziehungslosigkeit beraubt den Heranwachsenden allerdings der Erfahrung des Zurückgewiesenwerdens. Dem sich entwickelnden Ich wird Allmacht imaginiert. Wird die kindliche Phantasiewelt durch sozial- wie umweltbedingte Erfordernisse der Realität gestört, bedroht oder auch nur belästigt, so zeigen sich Frustrationserlebnisse wie Protest, Zorn und Unwillen. Nur wer überhaupt Grenzen erfährt, kann sich mit ihnen reflexiv auseinandersetzen, wird durch sie erst in die Lage versetzt, Fantasie und Realität zu unterscheiden. Entfällt dieser Schritt in der Entwicklung, wird der spätere Erwachsene häufig kindliche Reaktionen äußern.
Das Reaktionsgebaren heutiger Politiker, Journalisten, Kleriker, NGO-Granden entspricht nur zu häufig dem eines Kindes, das von seiner Wirklichkeit überfordert ist. Jede TV-Diskussionsrunde legt Zeugnis solchen Gebarens ab, sitzen dort ohnehin, gleichgültig ob in den öffentlichen oder privaten Sendeanstalten, die Vertreter des links-grünen Gesinnungsprimats nur einer Minderheit von Kritikern, häufig nur einem einzelnen Andersdenkenden, gegenüber. Sofort erhebt sich der geballte Aufruhr, wird am eigenen Dogma auch nur zart gerüttelt. Die Reaktionen sind gleich denen von trotzigen Kindern, denen ihr Spielzeug entzogen wurde, werden sie auch nur in Ansätzen mit einem Zweifel konfrontiert.
„Der Gläubige läßt sich seinen Glauben nicht entreißen, nicht durch Argumente und nicht durch Verbote … Wer durch Dezennien Schlafmittel genommen hat, kann natürlich nicht schlafen, wenn man ihm das Mittel entzieht“ (17).
Das in Rage versetzte Kind greift somit zum nächstbesten Gegenstand und bewirft den Zweifler, den Störenfried. Und zu werfende Gegenstände finden sich ja en masse im Spielzimmer der Gesinnungswächter: Die verbotenen Worte mit „K“, „B“, „Z“, ganz besonders übel natürlich auch das „N-Wort“, werden dem Kritiker um die Ohren geschlagen, es fehlt ferner kaum der Nazi, der Rassist, neuerdings auch der Querdenker, der ohnehin nur rechts steht und verloren ist. Auch mit dem Mohren noch lässt sich werfen — doch hatte der seine Schuldigkeit nicht längst getan?
Erschlagen aber kann man die Ungläubigen allesamt mit dem freilich erst zu schaffenden Klimaschutzministerium, dem „größenwahnsinnigen Plan der Grünen“, wie Cora Stephan es trefflich benennt, „das mit einem Veto-Recht gegenüber den anderen Ressorts ausgestattet (ist), sollten Gesetze vorliegen, die nicht Paris-konform sind“ (18).
Überhaupt: Vetorechte sind immer ausbaubar, das lernt man schon im Kinderzimmer und hebt zum Plärren an. Der Kritiker und Zweifler hat es in Zeiten des andauernden pädagogischen Desasters nicht leicht, er hat es nicht leicht mit seinem dezenten Hinweis auf die Realität, wenn er etwa auch die „Stimme der Provinz“ zitiert, auf Konsequenzen verweist, rezente Vorgänge analysiert und eine Zeitdiagnose formuliert. Denn das ist dem Mainstream doch ein Zuviel des Schlechten, sind die Fundamente der Schutzkirche der Heiligen Welt der Fiktion schließlich noch nicht einmal trocken.
Es nützt jedoch nichts. Der Ungläubige, der Zweifler, der Kritiker braucht einen langen Atem, mithin — auch wenn das Wort unendlich strapaziert ist — Geduld und Emphase: Denn auch der Gläubige kann wieder Zweifeln lernen und eine Kultur des Zweifels ist das Gebot der Stunde, um der „faustgroben Antwort“ der alten und neuen Götter zu entkommen. — „Sapere aude!“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe (KSA), Band 6, München, S. 210 und KSA, Bd. 13, S. 69
(2) Friedrich Nietzsche, KSA, Bd. 1, S. 18
(3) Fjodor M. Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Untergrund, in: Der Spieler, München, Zürich, 1996, S. 467, 446
(4) Friedrich Nietzsche, KSA, Bd. 3, S. 480
(5) Exodus 20,5; Deuteronomium 4,24
(6) Josua 24,19
(7) Jeremia 32,40
(8) Georg Fohrer, Geschichte der israelitischen Religion, Freiburg, 1992, S. 185
(9) Friedrich Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 279
(10) https://www.greenpeace-magazin.de/ticker/bleichmittel-gegen-corona-von-der-leyen-warnt-vor-falschnachrichten-0
(11) Matthäus 12,30 und Lukas 11, 23
(12) https://www.rhein-zeitung.de/region/rheinland-pfalz_artikel,-rheinlandpfaelzischer-kassenaerztechef-im-interview-ungeimpfte-duerfen-nicht-mehr-reisen-_arid,2281302.html
(13) Friedrich Nietzsche, KSA, Bd. 13, S. 448
(14) https://www.fuldaerzeitung.de/fulda/bundestagswahl-ralph-brinkhaus-impfung-freiheit-corona-cdu-fraktionsvorsitzender-fulda-90907374.html
(15) Matthäus 8,12 und 11, 20-24. Siehe ausführlicher dazu: Ralf Rosmiarek, Das Christentum — die Religion der Liebe und der Leitkultur, in: Aufklärung und Kritik, Heft 4, 2018, S. 241
(16) Zitiert nach: Walter Burkert, Kulte des Altertums, München, 1998, S. 17
(17) Sigmund Freud, XIV, S. 372
(18) https://www.achgut.com/artikel/cora_stephan_die_stimme_der_provinz._worueber_wir_nicht_reden
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