Die Gewalt ist in der Natur, in der Evolution des Lebens und in der Geschichte des Menschen ein so hervorstechendes und vieldeutiges Phänomen, dass man geneigt sein könnte zu fragen, ob ihr im universellen Gesamtgeschehen des Lebendigen nicht doch ein vornehmerer Platz zukommt, als ihr unsere erschreckten Seelen zugestehen möchten. In diesem Zusammenhang wäre vielleicht darauf zu achten, ob hinter dem Wunsch nach Gewaltlosigkeit mehr die eigene Angst steht oder eine wirklich fundierte, durchdachte und realistische Vision des menschlichen Zusammenlebens.
Das Problem der Gewalt ist auf jeden Fall noch lange nicht zu Ende gedacht, weil es sofort in ideologische Systeme hineingerät, die in der Hauptsache von emotionellen Kräften gesteuert sind und entweder der persönlichen Angstentlastung dienen oder der Verteidigung der eigenen Lust an der Gewalt.
Die beiden Hauptaspekte des Problems — Gewalt als Grundelement des Lebendigen und Gewalt als Folge der Triebunterdrückung, Friedrich Nietzsche und Wilhelm Reich — müssen lange und klar genug gesehen werden, ehe man den einen dem anderen überordnet.
Wir haben oft beobachtet, wie eine Katze blitzartig hellwach wird, wenn sich in ihrer Nähe etwas zu bewegen scheint, und wie sie sich dann daraufstürzt, um es zu vernichten. Wenn wir uns diesen Vorgang lange genug vor die Seele halten, machen wir eine erstaunliche Entdeckung: Wir verstehen ihn. Kraft einer tief verwurzelten Identifikationsmöglichkeit mit dem Raubtier erfassen wir seinen Beuteinstinkt. Falls wir dies zulassen — falls die innere Zensur diesen Instinkt in uns freigibt —, machen wir in der Beobachtung des Tieres eine Entdeckung über den Menschen.
Das Bemerkenswerte dieser Entdeckung reicht weit. Wir verstehen zum Beispiel, dass wir das Kaninchen, das wir in den Arm nehmen, eigentlich auch jagen und zerreißen könnten. Der Mensch war in der bisherigen Geschichte so leidenschaftlich ein Jagender und Zerreißender, dass es nicht einleuchtet, warum diese Eigenschaft heute ganz und gar aus seinem Instinktleben verschwunden sein sollte.
Das biologische und historische Phänomen der Gewalt zwingt uns — im Namen einer neuen, lebensgesetzlichen Kultur — zu einigen Konsequenzen, durch die sich eine zukünftige Lebensanschauung und Ethik von der derzeit üblichen abzuheben hätte. Erstens: Die Natur steht jenseits unserer Kategorien von Gut und Böse. Zu ihr gehört die geheimnisvolle Tatsache, dass Leben aufs Engste mit dem Tod verbunden ist und Lust oft mit Vernichtung. Zweitens: Um diese Tatsache in ihrem ganzen Umfang sehen und akzeptieren zu können, bedarf es einer anderen psychischen Ausrüstung, als sie in unserer Kultur üblich ist, vor allem eines anderen, angstfreien Verhältnisses zu Schmerz und Tod. Die letzten Auskünfte zur Gewaltfrage werden erst auf einer anderen Kulturstufe möglich sein, wo der Mensch eine Daseinsweise erworben hat, die ihn angstlos mit dem Tod vertraut macht.
Wenn wir auch die Gewaltfrage noch lange nicht bis zu Ende klären können, so können wir für uns doch zu einer verbindlichen Entscheidung kommen. Es kann sein, dass Nietzsche recht hat mit seiner Theorie von der immanenten Grausamkeit des Lebens, zu der dann noch die aus der menschlichen Triebunterdrückung resultierende Grausamkeit hinzukäme.
Um so mehr sehen wir uns herausgefordert zu der Aufgabe, ein soziales Lebenssystem zu entwickeln, in dem die Gewalt, die körperliche wie die seelische, ohne Verdrängung in konstruktive Energie transformiert werden kann.
Wir sind entsetzt von der Gewalt, die alltäglich an Völkern, an Minderheiten, an Frauen, Kindern, Tieren verübt wird. Wir sind weder Heroen noch Zyniker und wünschen deshalb den Frieden. In den Zentren der neuen Kultur soll es Frieden, Heimat, Nestwärme und kontinuierliche Entwicklung geben. Wenn sie wirklich von innen her gewärmt sind durch die Liebe zum Lebendigen, dann werden die Mitmenschen und anderen Mitgeschöpfe diese Wärme auch zurückstrahlen. Gewalt kann sich dann nicht mehr so leicht verselbstständigen.
Wo dieser Wunsch nach Frieden ernsthaft und radikal geworden ist, da weiß man langsam, dass nur eines ihn wird realisieren können, nämlich die restlose Überwindung all derjenigen Lebensstrukturen, die latente Gewalttätigkeit dadurch erzeugen, dass sie den Menschen zu Triebunterdrückung und emotioneller Bremsung veranlassen.
Wo Gewalttätigkeit auf das Konto blockierter Lebensenergien geht, da müssen diese Energien befreit werden, auch die Energien der Aggression. Denn hier steht über allen anderen Wahrheiten diese: Wer Frieden will, muss aufhören, Aggressionen zu unterdrücken.
Es hat keinen Sinn mehr, an der psychischen Realität vorbeizusehen, die in jeder psychologischen Selbsterfahrungsgruppe so glasklar in Erscheinung tritt: an der Realität unserer gestauten Aggressionen. Hinter den Folien der Höflichkeit, der Zärtlichkeit, der Zurückhaltung, der Schüchternheit und Ängstlichkeit liegt gewöhnlich eine solche Riesenmenge von gestauter und gelähmter aggressiver Energie, dass wir diese latente Aggressivität als ein Hauptproblem bei der Humanisierung des Menschen und der Entstehung neuer Gemeinschaften ansehen müssen.
Latente Aggressivität, entstanden aus nicht ausgelebten Emotionen und Impulsen, erzeugt einen großen Teil jenes lustlosen Lebens von Kommunikationsunfähigkeit, Langeweile, Müdigkeit und Impotenz, dem sich heute schon Millionen hoffnungslos ergeben haben. Es hat keine Bedeutung, wenn eine Gruppe von müden und resignierten Kriegern die Gewaltlosigkeit auf ihre Fahnen und Broschüren schreibt — der psychische und energetische Zustand, in dem sie sich befinden, zeigt, dass sie das eigentliche Gewaltproblem, um das es heute geht, völlig ungelöst mit sich herumtragen.
Der „Sozialcharakter“ unserer Zeit, das heißt die den meisten Zeitgenossen gemeinsame Grundformation des Charakters, besteht aus vier verschiedenen psychischen Schichten, die nach und nach im Individuum entstanden sind als Folge seiner nicht auslebbaren Triebe und Bedürfnisse. Die äußerste Schicht und zuletzt entstandene ist die Schicht der Höflichkeit, der guten Sitte und des unauffälligen Verhaltens. Dahinter liegt als nächste Schicht die Angst. Hinter ihr steckt meistens eine ungeheure, biologisch voll verständliche und berechtigte Wut. Und erst hinter dieser Wut, tief versteckt und meistens bestens getarnt, liegt eine ganz kindliche und verletzliche Schicht der Liebe und des Verlangens nach Liebe. Dies ist der reale psychologische Zusammenhang, in dem das Problem der Gewalt zu sehen und zu lösen ist. Die in der Wut liegende Neigung zur Gewalttätigkeit kommt in der Regel gar nicht zur Erscheinung, weil sie durch Angst gelähmt und durch konventionelle Artigkeit getarnt ist.
Diese psychische Allgemeinstruktur ist natürlich eng verbunden mit einer ideologisch-moralischen und einer sozialen.
Sinnlose Wut und Gewalttätigkeit haben wie die Angst meistens etwas mit dem Zustand der Enge zu tun. Sie ist das Resultat einer inneren und äußeren Lebenssituation, die zu eng ist, um den Lebensgeistern Raum zu geben.
Eine betonierte Stadtwelt, die den Kindern wenig Betätigungsanreiz gibt ... ein Berufssystem, dessen Arbeitsteilung zur sinnlosen Monotonie zwingt ... ein Bildungs- und Ausbildungssystem, das den wirklichen Interessen und Neugierden keine Betätigungsmöglichkeit und keinen Stoff liefert ... ein sexuelles System, welches die sexuellen Liebesenergien immer noch in die alten Käfige sperrt — das sind Ursachen der immanenten Aggressivität und Gewalt in unserer derzeitigen Kultur und Gesellschaft.
Könnten wir sehen, wie viel liebenswertes und quicklebendiges Leben, wie viel Charme und natürliche Schönheit, wie viel Geradheit und Mut und Ehrlichkeit, wie viel Vertrauen und menschliche Einsatzbereitschaft tagtäglich an Kindern und Jugendlichen verraten, verkauft und zerstört werden, wir würden uns auf der Stelle auflösen in einen Ozean von Tränen. Und nicht einmal die große biologische Wut, die hier entsteht, hat eine Chance, sich sinnvoll auszuleben. Die Menschen, die in diesem System aufwachsen, müssen im emotionellen Bereich so viel Sinnloses und Schlimmes tun, dass sie sich bald selbst nicht mehr achten können. Der Verlust der Selbstachtung ist dann die beste Voraussetzung für jeden weiteren Wahnsinn.
Ich übertreibe nicht, ich verharmlose eher. Wenn das Wort „Friede“ nicht inzwischen einen so kläglichen und verlogenen Klang erhalten hätte, würde ich sagen: Die Werkstätten der neuen Kultur müssen Werkstätten des Friedens sein. Und Friede wird erst sein, wenn Menschen gelernt haben, so zu leben, dass sie sich selbst und gegenseitig bejahen können.
„Gewalt ist die Eruption blockierter Lebensenergien. Pazifismus ist nicht die sanfte Beschwichtigung der Gewalt und nicht die Beilegung von Konflikten durch Appelle zum Frieden. Wirklicher Pazifismus ist der radikale und intelligente Selbsteinsatz des Menschen für die Befreiung aller in ihm liegenden Lebensenergien und Schöpferkräfte. Pazifismus ist der fundamentale Kampf gegen jede Art von Unterdrückung der menschlichen Sehnsucht. Pazifismus ist kompromisslose Parteinahme fürs Lebendige. Pazifismus ist Militanz, nicht unbedingt politische Militanz, aber Militanz in der Erringung innerer Wahrhaftigkeit und Freiheit, denn Pazifismus ist die Versöhnung des Menschen mit sich selbst“ (Dieter Duhm).
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