„(Der Mensch) kam aus dem Meer / die Couch ist sein Ende“
— Prinz Pi: „Der moderne Höhlenmensch“.
Jäger und Sammler gibt es noch heute. Gejagt werden jedoch keine wilden Tiere, sondern Schnäppchen, und statt Früchten und Beeren werden Payback-Punkte gesammelt. In der Zivilisation hat sich der Mensch ungemein von seinen indigenen Wurzeln entfremdet, was in zahlreichen anthropologischen Werken sattsam beschrieben wurde. Doch seit wenigen Jahren überschreitet die Form der Entfremdung eine neue Schwelle. Unterscheidet sich als Ort der Nahrungsbeschaffung etwa eine ALDI-Filiale wesentlich von einer wilden Steppe, so ist doch beiden Örtlichkeiten gemein, dass der Mensch sich von seiner Bleibe aus nach dorthin aufraffen muss(te). Und unumstritten ist der Kraftaufwand deutlich geringer, einen prall gefüllten Einkaufswagen durch einen klimatisierten, hell erleuchteten Supermarktgang zu schieben, als ein Raubtier zu erlegen. Doch beides bedarf der Bewegung.
Doch selbst dieses letzte Überbleibsel physischen Einsatzes zur Nahrungsbeschaffung ist zunehmend im Schwinden begriffen, beziehungsweise verlagert sich der körperliche Einsatz für die Nahrungsbeschaffung asymmetrisch, sodass wenigen diese Last für ganz viele aufgebürdet wird. Die Rede ist hier von den sich heuschreckenartig ausbreitenden Lieferservice-Diensten. Da wären zum einen die schon länger bekannten Anbieter wie Lieferando und die ihnen angeschlossenen Partner — meist kleine Restaurants und Imbisse — und zum anderen die sich seit dem Ausnahmezustand vermehrenden, aggressiven Anbieter wie Gorillas oder Flink.
Die Filialen nisten sich wie Karies in die Häuserfassaden-Zahnlücken leerstehender Geschäftsräume, in welchen sich vormals redliche Einzelhändler befanden, die durch den Lockdown ruiniert wurden.
Und die Fahrradfahrer — bei Gorillas euphemistisch „Rider“ genannt — surren vermummt auf ihren E-Bikes und mit dicken Rucksäcken auf dem Rücken durch die Straßen, um ihren Kunden die vom Sofa georderte Ware binnen der versprochenen 10 Minuten zu liefern. Anhand der Allgegenwart der Fahrer und der überall herumliegenden Gorillas-Tüten kann man erahnen, wie viele Menschen diese „Dienstleistung“ mittlerweile in Anspruch nehmen.
Wahrlich ein Jammer! Unsere Fähigkeit, als Menschen der Zivilisation in der Wildnis zu überleben, ist uns schon lange verloren gegangen — nun verlernen wir sogar, Einkaufstüten zu tragen.
Diese Entwicklung stellt weitaus mehr dar als ein weiteres Phänomen einer immer fauler werdenden Gesellschaft und mehr noch als eine weitere Sparte von Bullshit-Jobs. Das regelmäßige, wenn nicht gar zunehmend ausnahmslose Sichbeliefernlassen ist ein weiterer Schritt in Richtung Unmündigkeit und Freiheitsverlust.
Die wechselseitige Entwürdigung
Vorweg soll festgehalten werden, dass Lieferdienste per se nichts Schlechtes sind. Es gibt Teile der Gesellschaft, die schlicht und ergreifend auf solche Dienstleistungen angewiesen sind und diese nicht aufgrund von Trägheit in Anspruch nehmen. Dazu zählen ältere Menschen, die Einkäufe mangels körperlicher Kraft nicht mehr selbst bewältigen können. Auch alleinerziehenden Müttern oder Vätern, die mehreren Jobs nachgehen müssen, fehlt es häufig an der Zeit, selbst einkaufen zu gehen, und ebenso Nacht- oder Überstunden schiebenden Berufstätigen. Für diese und auch andere Menschengruppen sind solche Dienstleistungen ein Segen.
Wobei natürlich die Frage direkt hinterhergeschoben werden muss, warum unsere Gesellschaft mittlerweile so beschaffen ist, dass diese Tätigkeit von Privatunternehmen verrichtet werden muss, statt dass sich die Menschen selbst, beziehungsweise die Menschen in ihrem persönlichen Umfeld, dieser Aufgabe annehmen können. Wo ist der zwischenmenschliche Zusammenhalt in Institutionen wie der Familie?
Warum müssen Menschen so viel Zeit für den Lohnerwerb aufbringen, dass ihnen für Einkäufe die Zeit fehlt?
Warum wird in dieser Gesellschaftsform das Versorgen der eigenen Familie durch Einkäufe nicht als Arbeit honoriert und angesehen? Die genannten Lieferdienste fahren Gewinne ein, indem sie Aufgaben verrichten, die vor nicht allzu langer Zeit durch die Familie selbst bewerkstelligt wurden. Diese Dienste sind die Lösung für ein Problem, welches das Wirtschaftssystem selbst hervorgerufen hat.
Vor diesem Hintergrund sollte klar sein, dass es hier nicht um die Verurteilung jener geht, die solche Dienstleistungen beanspruchen. Vielmehr soll es hier um die Frage gehen, wie es überhaupt dazu kommen konnte und was diese Abhängigkeit beim Einzelnen und in letzter Konsequenz gesamtgesellschaftlich bedeutet.
Die Auslagerung — oder wie man im neoliberalen Sprech auch sagen würde: „Outsourcing“ — des Einkaufengehens an Privatanbieter bringt eine wechselseitige Entwürdigung mit sich. Sowohl der Inanspruchnehmer als auch der ausliefernde (Fahrrad-)Fahrer werden bei jeder Bestellung entwürdigt. Ersterer — gerade wenn er nicht zu den oben aufgeführten Gruppen der Bedürftigen gehört — nimmt diese Entwürdigung häufig nicht bewusst wahr. Letzterer muss sie notgedrungen in Ermangelung an Job-Alternativen zähneknirschend hinnehmen.
Am deutlichsten sichtbar wird die Entwürdigung auf der Ebene des Körpers. Beim einzelnen Dienstleistungsempfänger, der sich seine Güter des täglichen Gebrauchs aus Bequemlichkeit bestellt, äußert sich die (Selbst-)Entwürdigung so, dass sich dieser Mensch in einen Zustand der Passivität begibt, und zwar körperlich sichtbar, wenn er auf dem Sofa fläzt und parallel zum Netflix-Gucken seinen täglichen Bedarf per App liefern lässt. Mehr als das Betätigen der Finger ist im Grunde genommen nicht vonnöten. Freilich muss die eigene Physis aufgerappelt werden, wenn es dann an der Tür klingelt. Aber das klappt ja für den Toilettengang genauso. Erspart bleibt indes der Gang an die frische Luft, das Betätigen der Muskeln beim Tragen der Einkaufstaschen. Wer etwa im Heimbüro arbeitet und nicht einmal mehr für die täglichen Erledigungen da Haus verlässt, schwächt sich selbsterklärend körperlich.
Ganz anders verhält es sich bei den Menschen, die bei ebendiesen Lieferdiensten angestellt sind. Während ihre Kunden gewissermaßen für sich einkaufen lassen, tragen die Mitarbeiter den Einkauf für Hunderte Menschen. Die asymmetrische Verteilung des körperlichen Kraftaufwandes der Einkäufe wird am besten verdeutlicht, wenn man diese Überlegungen auf die Lieferung von Getränken überträgt, etwa bei Anbietern wie den Lieferhelden. Vielleicht haben Sie selbst schon des Öfteren bemerkt, dass Sie relativ schnell ins Schwitzen kommen und Ihr Bizeps brennt, wenn Sie sich beim Getränkemarkt einen Kasten Bier kaufen und diesen nach Hause schleppen. Für den eigenen Bedarf vermögen Sie das noch zu bewältigen. Aber nun stellen Sie sich vor, Sie müssten für Dutzende anderer Haushalte den Kauf beziehungsweise das Austragen dieser Kästen bewerkstelligen. Das ist durch und durch Schwerarbeit, die langfristig auf Knochen und Gelenke geht.
Kurzum: Die Körper der Servicekunden erschlaffen, während die Körper der Serviceleister vollkommen überlastet werden.
Und da wäre noch die Sache mit der Würde, die teils auch mit dem Körper in Verbindung steht. Von welcher Würde ist in diesem Kontext die Rede? Es ist die verlorene Würde der Autonomie einerseits und andererseits die Entwürdigung, die daraus erwächst, dass die Dienstleister die Aufgaben derer, die sie beliefern, um das Vielfache übernehmen müssen.
Betrachten wir zunächst die — von den Dienstleistungskunden meist unbemerkt — abhanden gekommene Würde der Autonomie. In den meisten Fällen sahen wir diese schwindende Autonomie bis vor wenigen Jahren überwiegend bei älteren Menschen, bei denen durch die nachlassende Leistungsfähigkeit der Physis manche Dinge nicht mehr gehen. Dazu zählt zuweilen auch das Einkaufen. Wie viele Menschen im hohen Alter klagen darüber, dass sie vieles nicht mehr so machen können wie früher? Dass sie sich bei Alltäglichkeiten helfen lassen müssen, die sie früher ganz alleine und wie selbstverständlich gemeistert haben? Besonders schlimm wird es für Menschen dieser Altersgruppe, wenn sie die Pflege des eigenen Körpers nicht mehr selbstständig bewerkstelligen können. Von da an erfüllt sie all das mit Stolz, was sie noch selbst und ohne die Hilfe anderer meistern können.
Die Generationen Y und Z, also die Millenials und Post-Millenials, haben nun viele Individuen hervorgebracht, die diese Autonomie einfach aufgeben. Statt „im Saft zu stehen“, bestellen sie ihn lieber. Sie könnten theoretisch selbst einkaufen gehen, tun es aber aus Bequemlichkeit und aus Zeitgründen nicht. Dabei ist Letzteres nicht dem Umstand geschuldet, dass sie Besseres als einzukaufen zu tun hätten, sondern der Tatsache, dass die durch das Bestellen gewonnene Zeit für „hedonistische“ Tätigkeiten verwendet werden kann.
Im Grunde genommen lässt man sich durch die Privatwirtschaft bemuttern. Man zieht vom „Hotel Mama“ in das „Hotel Lieferapp“. Vielleicht bräuchte es eine gefakte Guerilla-Marketingkampagne, die mit dem Corporate Design einschlägiger Lieferdienste dafür wirbt, dass auf Wunsch die gelieferten Lebensmittel zu einem Smoothie zusammengepanscht und von den Lieferfahrern per Nuckelflasche in die Münder der Konsumenten geträufelt werden. Vielleicht würde eine solch heillose Überspitzung die obige Thematik sichtbar werden lassen.
Und letztlich muss über die stark angekratzte Würde der Auslieferer nicht viel gesagt werden, da sich dies nahezu von selbst erklärt. Man wird so gesehen zu einem digitalen Knecht, der sich für einen lächerlichen Lohn auf dem Rad bei Wind und Wetter abstrampeln muss, um den ungeduldig wartenden Kunden zu beliefern. Dabei befinden sich beide auf unterschiedlich hohen Sprossen der gleichen Ausbeutungsleiter. Die Grenze verläuft hier zwischen mehr und noch mehr Ausgebeuteten.
Wohin die Lieferreise geht
„Ich hol mir den Supermarkt an die Haustür“ — so bewirbt Bringmeister seinen Lieferservice auf eine sehr ehrliche Art und Weise. Man geht nicht mehr in den Supermarkt, der Supermarkt kommt zu einem selbst. Dieses Versprechen versinnbildlicht das zunehmende Absterben des öffentlichen Raumes zwischen Haustüre und Supermarkt.
Und im Supermarkt selbst — wie auch in anderen Läden — hat das Einkaufen als solches seine soziale Komponente weitestgehend eingebüßt. Der nette Plausch mit den Verkäufern ist mittlerweile die Ausnahme. Nur allzu häufig stehen Menschen apathisch, mit Schnabelmaske im Gesicht und AirPods in den Ohrmuscheln, vor einer Plexiglasscheibe, grüßen nicht, raunen lediglich ein „Karte bitte“ durch den weißen Staubschutzkaffeefilter, halten dann ihre Karte, ihr Telefon, ihre Smartwatch — und bald vielleicht auch die gechippte Hand — an das Lesegerät, packen ebenso wortlos die restliche Ware in ihre Tüte und machen sich wie Roboter von dannen.
Natürlich könnte man nun diesen ganzen Lieferservice-Trend als etwas betrachten, mit dem man selbst nichts zu tun haben muss. Als etwas, das „die anderen“, die „unkritische Masse“ macht, aber man selbst nicht. Man mag selbst noch in die Einkaufsläden gehen und da einfach nicht mitmachen. Dabei wird jedoch ein wesentlicher Punkt in der Rechnung übersehen: Firmen wie Flink oder Gorillas sind Lockdown-Gewinner. In einer Zeit, da sich fast alle zu Hause eingesperrt im Heimbüro befanden oder die Außenwelt fürchteten, war für derlei Unternehmen die große Stunde gekommen. Als „Gelockdownter“ ließ man sich schnell und kontaktlos beliefern, um nicht raus in die verkeimte Welt zu müssen.
Das galt natürlich nicht für alle, und genau hier ist der springende Punkt. Für viele Freiheitsliebende war das Einkaufen einer der verbliebenen Freiräume. In manchen Ländern durfte man gar nur zu diesem Zweck das Haus verlassen. Doch in einem weiteren Lockdown könnte nun genau das wegfallen. Warum sollte man für Einkäufe das Haus verlassen dürfen, wenn man sie sich doch — teils von den Supermärkten selbst — liefern lassen kann? Warum Affenpocken riskieren, wenn man von Gorillas versorgt werden kann?
Im Grunde genommen ebnen diese Lieferdienste den Weg hin zu einem Hardcore-Lockdown, wie wir ihn aus Schanghai kennen. In einem solchen Szenario würden selbst jene mit diesem „Service“ zwangsbeglückt werden, die ihn aus tiefstem Herzen ablehnen.
Dass — so ganz nebenbei bemerkt — sämtliche intime Daten über die Einkäufe, die persönlichen Präferenzen und Ernährungsgewohnheiten, der hungrigen Datenkrake des Überwachungskapitalismus zum Fraß vorgeworfen werden, ist für die Lockdown-Profiteure ein äußerst dankenswerter Zusatzgewinn. Wer bei einem solchen Total-Lockdown auf Dauer hungrig bleiben dürfte, ist ein beachtlicher Teil der Menschen. Der Lieferinfrastruktur zum Trotz werden nicht alle adäquat beliefert werden können, wie wir das auch schon in Schanghai gesehen haben. Die drohende Lebensmittelkrise trägt dazu ihr Übriges bei. Man sollte sich jedoch nicht der Illusion hingeben, dass das in der politmedialen Kaste irgendjemanden groß kümmern würde. Wer Tote durch die Genspritze und durch Energiemangel billigend in Kauf nimmt, wird sich um Hungertote einen feuchten Kehricht scheren.
Ein erster Schritt, ein solches dystopisches Szenario abzuwenden, besteht in der Deinstallation jedweder Lieferservice-App.
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