„Gegen die Verdrehung der Geschichte“, — diese Worte trugen antifaschistische Gegendemonstranten am 22. Dezember 2021 auf dem Münchner Odeonsplatz vor sich her. Es ist ein sehr guter Slogan. Er setzt Geschichtskenntnis und -bewusstsein sowie die Reflexion der eigenen Rolle voraus. Er setzt die Kenntnis voraus, wie sich das Gift des Antisemitismus, wurzelnd in der Antike, mithilfe der katholischen Kirche, dem mittelalterlichen Machtapparat schlechthin, und ihren Erfüllungsgehilfen seit Jahrhunderten durch Europa und die Welt brennen konnte.
Im Jahr 1391 begann eine beispiellose Vertreibung der Juden, die die christliche Taufe verweigerten, aus Spanien und Portugal. Jedoch schon lange zuvor hatte man die Juden der Verschwörung gegen Christen bezichtigt, ihnen angedichtet, Seuchen einzuschleppen, Zinswucher, Brunnenvergiftung und Ritualmorde zu begehen. Man machte sie verantwortlich für den „Schwarzen Tod“, die mittelalterliche Pestpandemie zwischen 1346 und 1353 mit mutmaßlich 25 Millionen Todesopfern. Legitimiert durch diese Mythen breitete sich die Judenverfolgung ausgehend vom spanischen Sevilla über die iberische Halbinsel und bald über ganz Europa aus.
Pogrome, Zwangstaufen, Vertreibungen waren nur der Anfang. Die Zwangsbekehrungen befriedeten die Situation nicht, sondern zogen weiteren Hass und Gewalt gegen Juden und die konvertierten Conversos nach sich. 1449 erließ man die „Blutreinheitsgesetze“ von Toledo. Nicht getaufte Juden ohne „Reinheitsnachweis“ wurden mit Kontaktbeschränkungen, Berufsverbot oder Kerkerhaft belegt oder auf offener Straße ermordet. Mit dem Alhambra- oder Vertreibungsedikt von 1492 beschlossen die katholischen Machthaber, endgültig alle Juden aus Spanien zu vertreiben. Gleichzeitig verhängte man eine generelle Taufpflicht.
Die politische Lage im Europa des Hochmittelalters war gespannt und unübersichtlich. Durch einen wirtschaftlich und kulturell im Wachsen begriffenen Kontinent schlugen Auseinandersetzungen um die religiöse Macht blutige Schneisen. Ihre Spuren reichen bis in heutige Tage.
Begonnen hatte die Inquisition bereits 1268 im Königreich Neapel, um Häretiker — konvertierte Juden und Muslime, die ihren Glauben heimlich ausübten — zu verfolgen. Der Druck war so immens, dass ganze jüdische Gemeinden geschlossen zum Christentum übertraten. In den Augen der Kirche blieben sie jedoch Häretiker und unrein.
Mehr als 350 Jahre fraß sich die Inquisition der römisch-katholischen Kirche durch die Menschheitsgeschichte und gelangte bis nach Indien und Mexiko. Was mit der Weigerung Andersgläubiger, sich taufen zu lassen, begann, wurde zu einem Schwelbrand des Aberglaubens, der apokalyptischen Angstpropaganda, religiöser Verblendung, Barbarei und mithin auch der Hexenverfolgung. Allein in Deutschland fielen zwischen 40.000 und 60.000 Menschen dem Wahn zum Opfer. Er erfasste bald sämtliche Lebensbereiche. Frauen, Kinder, sogar Haustiere wurden in absurden Prozessen und Tribunalen abgeurteilt und öffentlich hingemetzelt.
Im Auftrag der Macht: Dogmatismus und gekaufte Wissenschaft
Magische Denkmuster, gut und böse, und überbordender Moralismus gepaart mit widersinnigen Strafen, Schutz- und Bußritualen trafen auf eine ungebildete Bevölkerung, die sich nur allzu leicht zum Vollstrecker machen ließ und die Schuld für Krankheiten, Missernten und Hungersnöte und die Kleine Eiszeit den von den Kanzeln gepredigten Sündenböcken anlastete. Das mittelalterliche Denken war durch Dogmen korrumpiert. Wissenschaft durfte nur im Rahmen der Glaubenslehre und im Dienst der Machthaber stattfinden. Nicht selten bezahlten Skeptiker und Kritiker ihren Mut mit dem Leben. Der Universalgelehrte Galileo Galilei musste seine Erkenntnisse widerrufen. Der italienische Philosoph Giordano Bruno endete auf dem Scheiterhaufen. Das letzte Todesurteil der Spanischen Inquisition fiel am 31. Juli 1826 in Valencia.
Erst durch die Reformation, in deren Folge die Kopernikanische Wende ein neues rationaleres Weltbild hervorbrachte, und schließlich durch die Aufklärung gelang es, sich aus dem Würgegriff der menschenverachtenden Kirchenfürsten zu befreien.
Der Faschismus setzte das Werk der Kleriker fort
Doch der Judenhass schwelte weiter.
Auf dem kulturellen und religiösen Fundament des Mittelalters aus Dogmen, Antisemitismus und Hass hatten die Nationalsozialisten leichtes Spiel, die alten Hasserzählungen zu reaktivieren. Auch sie proklamierten den Seuchenschutz als Rechtfertigung für Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich Massenmord.
Wieder sollten die Juden für die Verbreitung von Seuchen, namentlich des Fleckfiebers (Typhus), herhalten.
Wissenschaftler und Mediziner unter Federführung des schon damals existierenden Robert Koch-Instituts lieferten die „Beweise“. Sie waren Wegbereiter, Handlanger und Vollstrecker des dunkelsten Kapitels der deutschen Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. Im Sinne der Volkshygiene forderten Nazi-Ärzte Kontaktverbot, ließen „Seuchenmauern“ um jüdische Wohnviertel errichten und erklärten sie zu Quarantänezonen.
Gettos entstanden, vermeintlich um die „Durchseuchung des Volkskörpers“ abzuwehren. In ihrer Historie fanden sich bereits Menschenversuche mit unzähligen Todesopfern in den Kolonien des 19. Jahrhunderts, Rassentheorie, Eugenik und Versuche an Behinderten und Waisen. Den Menschenversuchen in den Konzentrationslagern der Nazis und der Beseitigung ihrer Opfer in den Gaskammern war moralisch längst der Weg bereitet.
Neben dem Kampf gegen Seuchen reaktivierten die Nazis die antisemitischen Stereotype „jüdische Weltverschwörung“ und „internationales Finanzjudentum“, deren Wurzeln ins Mittelalter zurückreichen. Der Vorwurf der Verschwörung richtete sich historisch gegen Juden und legitimierte ihre Verfolgung. Er führte zusammen mit anderen antisemitischen Stereotypen zu größten Menschheitsverbrechen.
Staatstragende und strukturell antisemitische Linke
Heute erheben sogenannte Linke den Vorwurf gegen die Kritiker der staatlichen Zwangsmaßnahmen, sie seien Verschwörungstheoretiker, -mystiker oder -ideologen, verknüpfen damit den Vorwurf des Antisemitismus und rechtfertigen so das staatliche Vorgehen gegen die Verteidiger von Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit. Historisch kann man diese Herleitung nur als eine absurde Verdrehung bezeichnen. Denn die Unterstellung von Verschwörung, der Verbreitung von Seuchen und Unreinheit, gegen die eine Volksgesundheit durch Maßnahmen zu schützen sei, beinhaltet per se die originären Narrative des Antisemitismus und Nationalsozialismus. Wenn überhaupt, dann machen sich derzeit Linke selbst des Tatbestandes schuldig, antisemitische Stereotype auf ihre Gegner zu projizieren.
Die unbestreitbar wichtige Vermeidung antisemitischer Stereotype hat im Laufe der Aufarbeitung des Hitlerfaschismus zu einer Tabuisierung und einem Dilemma geführt:
Linke müssten ihrem Selbstverständnis und ihrer historischen Verortung gemäß den Kapitalismus, die Finanzwirtschaft und die Verteilungsfrage kritisch diskutieren. Aber sie können es nicht, da immer der Vorwurf des Antisemitismus im Raum steht.
„Die Pandemie bietet einen fruchtbaren Boden für antisemitische Verschwörungsmythen“, schreibt die Amadeu Antonio Stiftung. Und weiter: „Solche Krisen werden seit Jahrhunderten antisemitisch aufgeladen.“ Historisch betrachtet ist diese Feststellung korrekt. Die Schlussfolgerung ist allerdings unscharf, verallgemeinernd, nicht widerlegbar und daher unwissenschaftlich und manipulativ. Sie hat quasi die gleiche „Beweiskraft“ wie ein mittelalterlicher Hexenprozess: „Eine Verschwörungsideologie ist daher, zumindest strukturell, immer antisemitisch.“
Wie erkennt man eine Verschwörungstheorie? Dazu die Amadeu Antonio Stiftung:
- Verschwörungstheorien nehmen immer Kollektive ins Visier.
- Wird ein Weltbild mit klaren Rollen von „gut“ und „böse“ gezeichnet?
- Wird die Ursache des Problems personalisiert?
- Wird eine einfache Erklärung für eine komplexe Situation angeboten?
Diese Kriterien treffen nicht nur perfekt auf das Pandemie-Narrativ, sondern tatsächlich auf einige Kritiker der Geschehnisse zu. Es existieren abstruse Thesen zur „Corona-Pandemie“, die man als Verschwörungstheorie bezeichnen kann. Aber der Umstand, dass sie Verschwörungen vermuten, rechtfertigt nicht die pauschale Unterstellung von Antisemitismus gegenüber der gesamten legitimen Protestbewegung. Der Vorwurf der Verschwörung gepaart mit Seuchenverbreitung und Unreinheit richtet sich nie gegen Mehrheiten und geht immer von Machthabern und ihren Gehilfen aus. Er wird immer benutzt, Sündenböcke zu konstruieren und eine unangepasste störende Minderheit aus dem Weg zu räumen.
Man erkennt Faschismus, indem man ihn mit Faschismus vergleicht
Totalitäre Regime jeglicher Couleur bedienen sich immer des gleichen Instrumentariums. Doppelmoral, Orwell‘scher Neusprech, Tatsachenverdrehung, Framing, Diffamierung und Cancel Culture sind die postmodernen Erscheinungsformen althergebrachter totalitärer Weltbilder.
Die Verknüpfung von jeglicher Regierungs- und Maßnahmenkritik, inklusive der gebotenen Skepsis vor neuartigen notfallzugelassenen Gentherapien mit Verschwörungstheorie bis hin zum Rechtsradikalismus und Holocaustleugnung ist ahistorisch. Sie fällt hinter die Werte der Aufklärung zurück.
Aber nicht nur das: Sie führt die Aufarbeitung des Faschismus ad absurdum, wenn sich in ihrem Namen ein neuer Totalitarismus Bahn bricht mit „Antifaschisten“ als Steigbügelhaltern.
Wer 2021 die Zeichen der Zeit als Symptome eines beginnenden Faschismus benennt, dem werfen die Regierenden und ihre Helfer Verhöhnung der Opfer vor. Das ist nicht neu. Seit einigen Jahren oder vielleicht schon Jahrzehnten kann man eine zunehmende Instrumentalisierung von Opfern auf einer rein moralisierenden Ebene beobachten, wenn es um die Ablenkung von Tätern geht. Und immer dann sitzen die Täter an den Schalthebeln der Macht, gerieren sich als die Guten und spielen Mitgefühl mit Menschen vor, die ihnen bis dahin sehr gleichgültig waren. Aber um Gewalttaten bis hin zum Faschismus zu verhindern, muss der Fokus auf den Tätern und ihren Methoden liegen. Stattdessen erleben wir eine ungeheuerliche Täter-Opfer-Umkehr und Instrumentalisierung, um eine nie da gewesene Machtergreifung zu rechtfertigen. Und wieder sind verführte Massen eilfertig zu Diensten.
Es ist ein Hohn, wenn Menschen mit dem Grundgesetz in der Hand als Nazis diffamiert werden. Respekt vor Opfern heißt Verantwortung. Den größten Respekt erweisen wir ihnen, wenn wir die unveräußerlichen Menschenrechte bewahren und die Täter an ihrem Tun hindern. Wir schulden den Opfern nicht selbstgerechtes Mitleid. Das Einzige, was wir den Opfern wirklich schulden, ist, Faschismus zu verhindern — unter welchem Vorzeichen er auch daherkommt.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst am 8. Januar 2022 unter dem Titel „Ablenkung von den Tätern“ in der Wochenzeitung Demokratischer Widerstand, Ausgabe Nummer 75.
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