Die gegenwärtige Lage im geschundenen Syrien
Seit 2011 versuchen fremde Mächte, in Syrien entscheidenden Einfluss zu gewinnen. Nicht nur seit dieser Zeit ist es die Regel, derlei Bemühen mit harmlos-freundlichen Worten zu kaschieren. Damals nannten sich die bemühten Okkupanten — zu denen neben den USA Jordanien, Katar, Saudi Arabien, den Vereinigten Emiraten, Ägypten, der Türkei auch Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien gehören — heuchlerisch „Freunde Syriens“. Diesen „Freunden“ ging und geht es aber nie um Hilfe für die syrische Bevölkerung, „sondern um Einflussnahme auf die Neugestaltung des Landes nach einem voraussichtlichen Sturz des derzeitigen Regimes, obwohl man mit diesem bisher stets gut zusammenarbeiten konnte.
„Mehrere, seit längerem geplante, für den Westen wichtige Öl- und Gaspipelines stehen auf dem Spiel, die Saudi Arabien und Katar mit dem östlichen Mittelmeerraum und der Türkei verbinden und deshalb partiell durch syrisches Gebiet führen sollen.“
So zu lesen am 24. Juli 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) unter dem Titel: „Und ihr denkt, es geht um einen Diktator“. Das ist lange her und leider längst vergessen.
Heute, sieben Jahre sowie mehrere Hunderttausend Tote und Millionen von Vertriebenen später, ist das Erreichte einem dieser „Freunde“, der Türkei, zu wenig. Deshalb ließ Präsident Recep Tayyip Erdoğan am 9. Oktober 2019 sein Militär ganz offiziell in nordsyrisches Staatsgebiet einmarschieren, um einen Teil des Territoriums zu annektieren.
Die kurdische Miliz YPG bedrohe türkisches Staatsgebiet, so die Begründung. Seiner Aktion gab er den euphemistischen Namen „Operation Friedensquelle“ und beweist damit, dass es zu den üblichen Gepflogenheiten gehört, mit zynisch-verlogener Wortwahl auch ganz offensichtliche völkerrechtswidrige Vorhaben zu kaschieren. Natürlich sprudelt aus dieser Quelle kein Frieden. Zumal Erdoğan bei seinem Unternehmen auf fremden Territorium nicht nur türkisches Militär einsetzt, um die Kurden aus dem Grenzgebiet zur Türkei zu vertreiben, sondern auch islamistische Terrormilizen. Die werden zwar offiziell bekämpft, jedoch gern auch als Verbündete genutzt und dabei verbal in „Rebellen“ oder neuerdings auch in „Freischärler“ umgetauft.
Das aktuelle Vorgehen unserer türkischen NATO-Verbündeten müsste eigentlich für weltweites Entsetzen sorgen, verüben sie doch schlimme Verbrechen. Doch in der Berichterstattung unserer Medien werden selten verstörende Bilder der „Operation Friedensquelle“ gezeigt.
Bisher wurden bereits eine größere Anzahl Zivilisten getötet und laut UN-Angaben mehr als hunderttausend Menschen vertrieben. Unter den Ermordeten ist auch die 35-jährige kurdische Frauenrechtlerin und Generalsekretärin der Partei Zukunft Syriens (FSP) Hevrin Khalaf, die am 12. Oktober 2019 auf der Überlandstraße M4 zwischen den nordsyrischen Städten Kamischli und Manbidsch von islamistischen Terroristen der Dschihadistenmiliz Ahrar al-Sharqiya aus ihrem Auto gezerrt und gemeinsam mit ihrem Fahrer regelrecht hingerichtet wurde, wie ich am 15. Oktober im Hamburger Abendblatt lesen konnte.
Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete die türkische Militäroperation gegen die Kurdenmiliz YPG in ihrer Regierungserklärung im Bundestag als ein „humanitäres Drama“ und erklärte, dass die Bundesregierung „unter den jetzigen Bedingungen“ keine Waffen mehr an die Türkei liefern werde.
Doch ist das eben nicht die Wahrheit: Die Bundesregierung erteilt nur keine neuen Genehmigungen für Rüstungsexporte, was im Klartext bedeutet, dass aktuell weiterhin Waffen geliefert werden. Auch erwähnt Merkel die brutale Ermordung Hevrin Khalafs mit keinem Wort. Die anderen europäischen Staaten und die USA nehmen dieses Verbrechen ebenfalls kaum zur Kenntnis — von ihnen wird weder der Mord an Hevrin Khalaf beklagt, geschweige denn mit Sanktionen geahndet. Es gibt es keinen Aufschrei, nirgendwo! Für die Weltpolitik ist der Mord an einer namhaften Politikerin belanglos unter den Tisch der westlichen Wertegemeinschaft gefallen.
Unterschiedliche Bewertung der Menschenrechte
Wie anders war doch da die Reaktion auf den Giftanschlag an dem ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal im englischen Salisbury. Sofort war der einzige — für die Inszenierung weltpolitischer Spannungen — Schuldige zur Hand. Weltweit kochte die Empörung wochenlang hoch.
Ohne zu zögern, verlautbarte das Weiße Haus, der Vorfall passe „zu einem Verhaltensmuster, in dem Russland die auf Regeln beruhende internationale Ordnung missachtet, die Souveränität und Sicherheit von Ländern weltweit untergräbt“. Und folgsam bestanden übereinstimmend Kanzlerin Angela Merkel, Präsident Emmanuel Macron und Premierministerin Theresa May auf einer „starken europäischen Antwort“ auf Russlands Vorgehen.
Der damalige britische Außenminister Boris Johnson meinte sogar, dass Wladimir Putin die Fußballweltmeisterschaft genauso missbrauchen würde wie Hitler 1936 die Olympischen Spiele.
Obwohl nichts bewiesen und die Untersuchungen des Vorfalles gerade begonnen hatten, wurden damals ohne zu zögern sofort entschiedene Maßnahmen eingeleitet. Russische Diplomaten mussten nicht nur umgehend Großbritannien verlassen, auch die USA und nahezu alle westliche Staaten warfen aus Solidarität mit dem so hinterhältig angegriffenen Großbritannien russische Diplomaten aus dem Lande.
Außerdem plante man ein breit angelegtes Paket möglicher Strafen: Die Sanktionen gegen Russland sollten ausgebaut, das Vermögen russischer Oligarchen in Großbritannien eingefroren, die NATO-Präsenz an der russischen Grenze aufgestockt, russische Banken vom internationalen Finanzdatenaustauschverfahren Swift ausgeschlossen, Russland des staatlichen Terrorismus bezichtigt, die Fußballweltmeisterschaft im Sommer boykottiert und dem russischen TV-Sender RT die Sendelizenz entzogen werden.
Merkwürdigerweise überlebten Vater und Tochter Skripal den Anschlag mit einem der tödlichsten Nervengifte. Nach wenigen Tagen wurde Tochter Julia gesund aus dem Krankenhaus entlassen, einige Wochen später Vater Sergej. Seitdem allerdings hat niemand mehr ein Lebenszeichen von den beiden russischen Staatsbürgern gesehen oder gehört. Zwar ist die Beweislage bis heute nach wie vor dürftig und stützt sich ausschließlich auf Vermutungen, doch die westlichen Politiker „glauben“ mit ganzer Kraft, dass nur Putin für einen solchen Mord verantwortlich sein kann.
Und dann gab es auch noch den „heimtückischen Mord“ an dem „bekanntesten“ Kriegsreporter Russlands und entschiedenen Kremlgegner Arkadij Babtschenko, den am 29. Mai 2018 ein Agent Putins mit vier Schüssen niederstreckte, wie in unseren Medien zu lesen war.
Der Bundespräsident, der deutsche und der englische Außenminister sahen sich in der Pflicht, aufs Allerschärfste zu protestieren. Der verantwortliche Bild-Redakteur für Politik, Julian Röpcke, forderte sogleich, dass man jetzt unbedingt über den Abbruch von „FIFA WorldCup und NordStream 2“ nachdenken müsse. Doch der tapfere Kremlkritiker erschien plötzlich — wie durch ein Wunder — völlig unversehrt vor den Kameras und erklärte, dass er mit dieser Aktion einem geplanten blutigen Anschlag Putins zuvorgekommen sei. Unsere Politiker und die angeschlossenen Medien waren wegen dieses Fake-Mordes drei Tage lang in höchster Aufregung.
Der tatsächliche Mord an Hevrin Khalaf allerdings hat weder Konsequenzen noch wird er von Politik und Medien als wichtig erachtet, sich überhaupt mit ihm zu beschäftigen. Die westliche Wertegemeinschaft bewertet menschliches Leben eben verschieden.
Westliche Annexion als normale politische Handlung
Selbstverständlich ist der türkische Staatspräsident Erdoğan nicht Putin, sondern ein wichtiger NATO-Partner mit nuklearer Teilhabe und zudem ein äußerst wichtiger Anrainer des Schwarzen Meeres in unmittelbarer, strategisch wichtiger Nähe zu Russland. Deshalb zeigt er sich auch von all den butterweichen Drohungen völlig unbeeindruckt. Auf ihn können und wollen seine NATO-Partner im lange vorbereiteten Konflikt mit dem „bösen Staat im Osten“ auf keinen Fall verzichten.
Halbherzig bemühte sich die Führungsmacht der westlichen Welt, den neuen osmanischen Führer zu bewegen, die zu erwartende Gewalt möglichst zu deeskalieren, auch um die Empörung in der Welt begrenzen zu können. US-Vizepräsident Mike Pence wurde zum klärenden Gespräch nach Ankara geschickt. Immerhin sprechen jetzt auch führende westliche Politiker von einer Verletzung des Völkerrechts, wenn die Türkei ihr Militär in ein anderes Land einmarschieren lässt, um dort fremdes Territorium als sogenannte Pufferzone zu annektieren.
Wie bei Mord so gelten auch bei Annexionen unterschiedliche Standards. Bei der gegenwärtigen Offensive der Türkei auf syrischem Staatsterritorium wurden eine große Anzahl Zivilisten ermordet und nahezu 200.000 Menschen vertrieben, anders als bei der Russland unterstellten Krim-Annexion, wo kein Schuss fiel und auch kein einziger Mensch ums Leben kam.
Diese Veränderung der staatlichen Zugehörigkeit der Krim beruhte auf der freien Entscheidung der mehrheitlich russischstämmigen Bevölkerung als Reaktion auf den US-amerikanisch inszenierten Maidan-Putsch und der darauffolgenden antirussischen Politik der neuen ukrainischen Machthaber. Im völkerrechtlichen Sinne ist das eine Sezession und keine Annexion. Dessen ungeachtet waren die westlichen Staaten — allen voran die USA — schnell bei der Hand, auch hier umfangreiche Sanktionen gegen Russland zu verhängen.
Da die Türkei nicht Russland und Erdoğan nicht Putin ist, muss die westliche Wertegemeinschaft mit der Frage von Annexion und Völkerrechtsverletzung jeweils ganz anders umgehen. Der amerikanische Vizepräsident stoppte bei seinem Gespräch mit dem NATO-Partner Erdoğan am 17. Oktober 2019 zwar nicht die völkerrechtswidrige türkische Okkupation, erreichte aber er eine fünftägige Waffenruhe, in der die kurdischen Milizen aus dem von der Türkei beanspruchten Landstrich abziehen sollten.
Nur wenige Tage später, am 22. Oktober, alarmierte das Treffen zwischen Erdoğan und Putin in Sotschi allerdings die westlichen Politiker aufs Äußerste: Putin erreichte eine Verlängerung des Waffenstillstands um weitere sechs Tage, eine Verkleinerung des zu annektierenden syrischen Gebietes und vereinbarte dort gemeinsame russisch-türkische Kontrollen, um Gewalteskalationen zu unterbinden. Dass Russland damit im Begriff ist, die bisherige Syrienpolitik der westlichen freien Welt auszuhebeln, beunruhigt deren Politiker erheblich.
Scheinbare politische Hilflosigkeit
Ziemlich fassungslos suchen die westlichen Politiker jetzt nach einer Lösung für das Dilemma. Da der amerikanische Präsident sein ebenfalls völkerrechtswidrig in Nordsyrien befindendes Truppenkontingent aus der Region abgezogen hatte, bevor es zur türkischen Militärinvasion kam, zauberte unsere Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer schnell die Idee einer internationalen „Schutztruppe“ als „europäische Antwort“ aus dem Hut. Sogar ein UNO-Mandat brachte sie ins Gespräch, obwohl der Westen all die Jahre keinerlei Probleme hatte, dort ohne jegliches Mandat mit Söldnerwerbung und -ausbildung, Geldzahlungen, Waffenlieferungen und dem Verhängen wirtschaftlicher Boykottmaßnahmen einen Regime Change zu arrangieren.
Dieses Vorhaben will man auf keinen Fall aufgeben. Der Schulterschluss der westlichen Staaten mit dem türkischen Aggressor und seinen islamistischen Mörderbanden bleibt jedenfalls unangetastet. Auch der brutale Mord an der kurdischen Politikerin Hevrin Khalaf ändert daran nichts.
Zwar hatten die USA ihr Militär in Nordsyrien abgezogen und damit den Weg frei gemacht für die türkische Militäraktion, doch nun schickt die „einzige Weltmacht“ zusätzliche militärische Kräfte zum Schutz der Ölfelder in den Osten Syriens, wie Der Spiegel ganz aktuell unter Berufung auf eine Meldung des Magazins Newsweek am 25. Oktober 2019 berichtet:
„Die Truppenbewegung soll verhindern, dass die von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) kontrollierten Ölfelder wieder an die Terrormiliz ‚Islamischer Staat‘ (IS) oder an ‚andere destabilisierende Akteure' fallen, sagte ein Vertreter des Pentagons am Donnerstag.“
Auch die syrische Regierung soll durch diese ebenfalls völkerrechtswidrige Besetzung von den Ölfeldern im eigenen Land ferngehalten werden.
Die USA jedenfalls „schützen“ das syrische Öl, „und wir werden in der Zukunft entscheiden, was wir damit machen werden“, twitterte Donald Trump.
Die Werte, die man erbarmungslos und bei jeder sich bietenden Gelegenheit als scharfes Schwert ins Feld führt, wenn es gegen den ausgemachten Erzfeind geht, zählen nichts, wenn es gilt, die eigenen Interessen durchzusetzen. Die Frage steht im Raum, was eine so agierende Völkergemeinschaft wert sein kann.
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.