Die mehrheitliche Entscheidung der SPD-Mitglieder gilt es selbstverständlich zu akzeptieren.
Man muss anerkennen, dass zwei Drittel der SPD-Mitglieder dafür gestimmt haben, Horst Seehofer zum Innen- und „Heimatminister“ zu machen und den Pharma-Lobbyisten Jens Spahn zum Gesundheitsminister. Man muss als fairer Verlierer hinnehmen, dass die SPD mehrheitlich einem Koalitionsvertrag zugestimmt hat, der die Anschaffung Deutscher Kampfdrohnen und eine Steigerung der Rüstungsausgaben beinhaltet. Es gehört zum Benimm unter Demokraten, nunmehr eine Mehrheitsentscheidung mitzutragen, die die AFD zur Oppositionsführerin im Deutschen Bundestag macht.
So?
Äääähm..., nein!
Als guter Demokrat gelobe ich vielmehr, diese neue Regierung Merkel von Tag 1 an mit beissender Kritik und fundamentaler Gegnerschaft zu ... begleiten. Ich betrachte es sogar als meine Pflicht als Staatsbürger, einer Regierung, die keinerlei Anstalten machen wird, drohenden Gefahren existenzieller Dimension von uns abzuwenden, von vornherein meiner erbitterten Gegnerschaft zu versichern.
Die SPD verkennt die Lage
Weite Teile der SPD werden das völlig hysterisch finden. Sie haben absolut nicht begriffen, was die Stunde geschlagen hat. Kein Wunder. 42% der SPD-Mitglieder arbeiten im öffentlichen Dienst. Das Durchschnittsalter der Partei liegt bei 62 Jahren. Die große Schwungmasse dieser Partei ist ein Garant ihrer Trägheit.
Die Mehrheit der SPD-Mitglieder lebt in gesicherten Verhältnissen. Von der Verachtung und der gefährlich schwelenen Wut in weiten Teilen des Volkes wissen sie wenig. Denn dort, wo sie leben, ist Stabilität Trumpf. Man kann vom Kuchen des Wohlstands immer noch herunterbeißen und schon die schiere Kraftanstrengung eines weiteren Wahlkampfs erschien ihnen als unzumutbar.
In diesen Kreisen postsozialdemokratischer Sattheit fürchtet man wirkliche Veränderung weit mehr als das langsame Abbröseln der alten Macht.
Aber von der Herrlichkeit vergangener Nachkriegszeiten ist schon allzu viel weggebröselt. Die „große“ Koalition der ehemaligen Volksparteien hat schon jetzt kaum noch 50%. Die Tektonik der politischen Landschaft ist mächtig in Bewegung. Neue Akteure steigen auf - und es gehört inzwischen wenig Fantasie dazu, sich den Untergang der ältesten Akteurin auf der Bühne parlamentarischer Politik in Deutschland vorzustellen.
Jedoch, sich den Untergang ihrer Partei auszumalen, reicht bei vielen Sozialdemokraten die Vorstellungskraft nicht hin. Glauben diese Leute ernsthaft, die Menschen, die sich zu Millionen von der SPD abgewandt haben, könne man mit ein paar kosmetischen Reparaturen im allgemeinen Weiter-So zurückholen? Es scheint so.
Ich befürchte allerdings, die Pro-Groko-Sozialdemokraten werden demnächst feststellen, dass der Preis für die neuerliche Koalition mit der Union weitaus höher ist als es der Dispokredit der Sozialdemokratischen Partei noch hergibt.
Aber dann, wenn das Desaster sein Lauf genommen haben wird, werden sie nicht wissen, wie ihnen geschehen ist. Und sie werden wehklagen und sich empören über die Dummheit des Volkes und über seine Undankbarkeit und seinen Unverstand. Die anderen werden dann wieder schuld sein. Die, die nicht erkennen wollten, was die Sozialdemokratie Großartiges für sie geleistet hat.
Tief unten im Volk kocht die Wut
Neulich brachte mir ein Mitarbeiter des örtlichen Wertstoffhofs einen großen Gemischtmüllcontainer vorbei. Wir kennen uns von Begegnungen dieser Art, wir mögen uns, und wenn wir miteinander ins Ratschen kommen, sind wir schnell bei der Politik und auch da verstehen wir uns ziemlich gut.
Auch diesmal haben wir erst kopfschüttelnd Geschichten ausgetauscht, die den Wahnsinn unserer Zeit beschreiben. Irgendwann sagte er mir dann, er habe im September AFD gewählt, denn: „was sollst Du sonst machen, um denen da oben eine reinzusemmeln?“
Unter seinen Kollegen im Wertstoffhof sind zwei ehemalige Flüchtlinge. Der Mann ist kein Rassist. Er mag die beiden. Das sind gute Jungs. Aber dieser Mann ist durchdrungen von einer solchen Verachtung für die Obrigkeit, dass ich mir dachte: die Wut und Kraft dieses Mannes könnte eine sehr gute Sache sein. Gelänge es, diese Empörung zu organisieren und gegen die Herrschenden zu richten und sie gleichzeitig einzubetten in eine Solidarität aller, die hier unten leben, auch der Flüchtlinge, die jetzt seine Kollegen sind - etwas sehr Gutes könnte daraus entstehen.
Der Mann erzählte mir dann noch von einer Betriebsversammlung. Der Chef und „irgendsoein Verwaltungsheini mit Schlips“ aus Berlin waren anwesend. Ein anderer Kollege habe dann einen Redebeitrag gemacht. Dieser Kollege sei immer ziemlich wild, ein Draufgänger. Sinngemäß habe der gesagt, wenn er jetzt nach Berlin führe, mit einem Knüppel, und Politiker totschlage, dann könne man ihn dafür nicht einmal in den Knast schicken.
Der Notwehrparagraph erlaube nämlich gewaltsame Selbstverteidigung bei Gefahr für Leib und Leben. Und alles, was diese Politiker da an ihm verbrochen hätten, erfülle schon längst den Tatbestand, Leib und Leben zu gefährden.
„Da war dann richtig Party auf der Betriebsversammlung, kannste Dir denken…“, berichtete der Wertstoffmann, der diesen speziellen Kollegen auch zu krass fand, aber irgendwie auch sehr cool. Dann setzte er die Gemischtmüllmulde ab.
Könnt Ihr es ertragen, diese Geschichte zu lesen, Sozialdemokraten?
Glaubt ja nicht, dass diese Stimmung marginal sei, dass sich Emotionen dieser Art nur am äußersten Rand der Gesellschaft Raum griffen. Dieser Mann ist ein sehr netter Mann, ich kenne ihn. Er ist gutmütig und gehört ganz sicher nicht zu denen, die auf Mord und Totschlag aus sind.
Weit müsst Ihr, die Ihr „staatspolitische Verantwortung“ tragt in diesem Land seit vielen langen Jahren, es getrieben haben mit den Menschen, dass ein solcher freundlicher Mensch in eine solche, immer noch verschmitzt vorgetragene Rage gerät.
Nehmt das zur Kenntnis, nehmt es ernst, ändert Euren verdammten, verkommenen Laden von Grund auf - oder ignoriert weiter, welche Wut in der Tiefe des Volkes kocht und rettet Euch auf Pöstchen und in eine weitere Runde auf dem Karussell parlamentarischer Spielchen. Die Geschichte wird Euch die Rechnung präsentieren.
Das Volk jedenfalls ist der Seiltänzereien müde, und der Osten Deutschlands ist dabei lediglich der Vorreiter des Westens. Man hat sich dort einige Male zu oft einwickeln lassen - anders als die Mehrheit der SPDler, die scheinbar nicht genug davon bekommen können und als Übernahme staatspolitischer Verantwortung verklären, dass sie sich vor der eigentlichen Aufgabe einmal mehr feige wegdeduckt haben.
Die eigentliche staatspolitische Aufgabe der SPD hätte übrigens darin bestanden, den Weg zu österreichischen Verhältnissen zu verlassen, mit der neoliberalen und Kriegspolitik seit Schröder radikal zu brechen und sich einer schmerzhaften Rosskur zu unterziehen. Das hätte immerhin die Chance eröffnet, Leute wie diesen freundlichen, wütenden Mann vom Wertstoffhof zurückzugewinnen.
Die faschistische Gefahr
Ich habe mit der Wut dieses freundlichen Mannes, wie gesagt, nicht das geringste Problem. Ich finde diese Wut angemessen und vernünftig. Ich habe viel mehr Probleme mit der vollgefressenen Wurschtigkeit in den mittelständischen Milieus der Speckgürtel von München, Stuttgart, Frankfurt am Main.
Ein Problem sehe ich aber darin, dass dieser Mann AFD gewählt hat.
Denn dieser Mann ist kein Rassist und erst recht kein Nazi. Aber die AFD ist eine durch und durch rassistische Partei, gespickt mit echten Nazis. Dieser Mann vom Wertstoffhof ist auch sehr für Umweltschutz, wir sprachen lange über den Skandal des flächendeckenden Glyphosat-Einsatzes. Aber die AFD ist gegen jede ökologische Regulierung und leugnet in dümmlichster Manier den Klimawandel und überhaupt jedes Problem mit dem Zustand der Natur.
Warum also wählt dieser Mensch die AFD? Er sagte es mir ja ganz offen: weil er es als die einzige Möglichkeit angesehen hat, die Herrschaften da droben zu ärgern.
Nun trägt sich dieses Gespräch im schönen Süden des schönen Landes Thüringen zu. Hier sind „die Herrschaften da oben“ aktuell rot, rot und grün und sie tun ziemlich wenig, dass Leute wie mein Mann vom Wertstoffhof sie als Kämpfer für die eigene Sache erkennen könnten.
Bodo Ramelow, den ich persönlich kenne und nach wie vor für einen hochanständigen Menschen halte, der das Gute und Richtige will, dieser Bode Ramelow muss eben erkennen, dass er zwar an der Regierung ist - aber deswegen noch lange nicht an der Macht.
Nun allerdings beschränkt man sich in dieser Lage darauf, an der Regierung zu bleiben. Auf die Idee, die Machtfrage zu stellen, kommt man eher nicht. Aus der groß angekündigten Abschaffung des Verfassungsschutzes wird dann nicht einmal eine irgendwie nennenswerte Reform oder Kontrolle oder Säuberung desselben. Im NSU-Country Thüringen legt man sich mit dem Tiefen Staat besser nicht an. Aber so bleibt man garantiert machtlos.
Und genau das spüren die freundlichen, wütenden Leute von den Wertstoffhöfen: dass diese Politiker am Ende nichts riskieren werden, dass sie schöne Sachen sagen, dass sie aber sich oder auch nur ihre Stellung niemals in Gefahr bringen werden, um wirklich etwas zu ändern, um wirklich etwas für die Leute zu tun, die sie angeblich vertreten.
Robert Lapuente hat den Nagel auf den Kopf getroffen mit seinem Buchtitel: „Die Rechte gewinnt - weil die Linke versagt!“
Weil das aber so ist, haben wir es Stand 2018 mit einer schnell anwachsenden faschistischen Gefahr zu tun. Diese faschistische Gefahr heißt beileibe nicht nur AFD. Sie heißt etwa auch CSU in Bayern, wo ein neues Polizeiaufgabengesetz die Exekutive mit diktatorischen Vollmachten ausstatten soll. Die faschistische Gefahr heißt auch BND, Verfassungsschutz und CIA und NSA.
„Der Staat wuchs uns entgegen“, sagte Adolf Hitler, im Rückblick auf den Aufstieg der NSDAP in der Weimarer Republik.
Aktionseinheit der Solidarität
Aber ich bleibe dabei: die freundlichen, wütenden Leute sind nicht das Problem. Sie sind noch nicht verloren. Und sie könnten vielmehr Teil der Lösung sein. Es ist nämlich nicht ausgemacht, dass sich ihre Wut gegen Flüchtlinge richten muss, dass ihre Empörung rassistisch vergiftet wird.
Schon jetzt richtet sich dieselbe Wut ja gleichzeitig auch gegen Banker und Spekulanten, gegen Politiker und Bürokraten und Verwaltungsheinis mit Schlips.
Eventuell sind diese Wütenden, die jetzt aus Frust AFD gewählt haben, für echte, positive Veränderungen sogar leichter zu gewinnen als saturierte Wohlstandsbürger aus den Speckgürteln der Ballungsräume - wenn es denn endlich ein überzeugendes Angebot gäbe, das glaubhaft und kühn für echte Veränderung eintritt, und dabei ohne Rassismus, Großmachtträume und Nazi-Nostalgie auskommt.
Was fehlt, um diese freundlichen, wütenden Leute für eine positive Vision ein besseren Welt zu gewinnen, ist mit anderen Worten: Solidarität.
Solidarität, die etwas riskiert.
Nicht die Solidarität der Sonntagsreden.
Sondern die Solidarität, die Entlassungen durch Streik und Betriebsbesetzungen verhindert.
Die Solidarität, die gegen die Abschiebung einer Familie aufsteht, deren Kinder im gleichen Kindergarten sind.
Solidarität, die für gesunde Lebensmittel und ein Ende der Umweltzerstörung Felder besetzt oder Feldbesetzer mit Wasser, Kaffee und Kuchen versorgt.
Solidarität, die für mehr Personal und bessere Bezahlung im Gesundheitswesen streikt.
Solidarität, die Gleise besetzt, wenn Atommüll eingelagert werden soll.
Solidarität, die eine Schule besetzt, die geschlossen werden soll.
Solidarität, die das Main Gate der Airbase Ramstein blockiert.
Das ist alles illusorisch?
Illusorisch ist der Glaube, vier weitere Jahre Groko unter Merkel würden irgendein anderes Ergebnis zeitigen als die weitere Erosion der sozialen Demokratie.
Die große Illusion besteht darin, dass ein Weiter-So zu einer Art Wunder führt, das die SPD zu neuem Leben erweckt.
Die Illusion besteht darin, dass freundliche, wütende Menschen ihre Wut verlieren und wieder ganz brav und still werden, wenn es ein paar symbolische Pflaster gibt, die man im Wahlkampf verkaufen kann, während sich am Selbstbedienungsladen der sogenannten Elite und an der elendem Korruption der Oberschicht nicht das geringste geändert hat.
Und das gilt auch für die NoGroko-Sozialdemokraten! Ihr habt großartig gekämpft und es ist gut zu sehen, dass Ihr den Kampf um die Seele der SPD weiterführen wollt.
Aber wenn Ihr einen Blumentopf gewinnen wollt, dann kommt raus auf die Straße. Entflieht den Hinterzimmern. Geht dahin, wo gekämpft wird. Kommt zu den Leuten, die wütend sind und beschwichtigt sie nicht, sondern werdet Teil der Wut.
Bündnispartner NoGroko-SPD?
Kevin Kühnert sagt, er wolle die neue Regierung „vor sich hertreiben“. Das ist gut. Man muss diese Regierung stellen, unter Druck setzen, zur Rechenschaft ziehen und für jeden großen und kleinen Verrat unerbittlich attackieren.
Diese verfluchte neue Merkel-Regierung braucht aber mehr als gepfefferte Pressemitteilungen der Jusos.
Diese Regierung braucht von Tag 1 an eine entschlossene, außerparlamentarische Opposition. Aber eben eine, die die Solidarität im Volk organisiert, die die Arbeiter des Wertstoffhofs als Arbeiter organisiert, als Klasse, ganz egal ob sie jeweils hier geboren oder hierher geflohen sind.
Wir brauchen eine Opposition, die das Volk vereinigt, anstatt es ständig entlang kultureller, abstammungsmäßiger oder sonstiger Linien zu spalten.
Bei diesem Projekt können die entschlossenen Teile der #NoGroko-SPD Bündnispartner sein. Sie haben immerhin ein Drittel der Partei hinter sich gebracht. Daraus kann man bei einem fortschreitenden Groko-Debakel eventuell sogar eine Mehrheit machen.
Aber nur wenn das Lager der Solidarität insgesamt in Bewegung kommt. Auf ein Wunder in der SPD kann und darf sich niemand verlassen, darauf brauchen wir nicht zu warten.
Wir dürfen überhaupt auf gar nichts mehr warten, denn wir haben keine Zeit mehr.
Schon jetzt wird an manchem Ort gekämpft, für bessere Arbeitsbedingungen, für soziale Rechte, für Umweltschutz, für Abrüstung, gegen Rassismus und für die Umverteilung des Wohlstands.
Lasst uns diese Kämpfe ausfindig machen. Macht sie groß und bedeutend und vernetzt die Kämpfenden miteinander.
Dieser Aufbruch der radikalen Solidarität wird einige Jahre des Aufbaus, der Organisation, der Erfahrung brauchen.
Aber er muss jetzt beginnen, und zwar in der Breite der Gesellschaft.
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