Zahlen haben im Vergleich zu den Worten und Bildern ein wesentlich besseres öffentliches Ansehen. Diesen Imagevorteil genießen sie aufgrund ihrer Herkunft aus der Mathematik und der maßgeblichen Rolle, die sie beim Betrieb der Naturwissenschaften und der technischen Erschließung der Welt gespielt haben.
Auch wenn wir aus der Schule noch von der historischen Entstehung der Zahlen und kulturelle Varianz ihrer Darstellungsformen (arabisch versus römisch) wissen, sind wir doch geneigt, ihnen eine universelle Geltung und quasi-außermenschliche Existenzweise zuzusprechen. Deshalb überschreiten die Zahlen scheinbar den Erdkreis der politischen Niederungen und erhalten den Nimbus des Erhabenen. Wenn sie auch nicht selbst göttlich sein sollten, haben sie doch zumindest die Aura der Neutralität, welche sonst nur von unbestechlichen Göttern ausgeht.
Neben der Weihe der Zahlen selbst sind es aber auch die Verfahren der Mathematik, die von Strenge und Unbestechlichkeit künden. Der Mensch mag irren oder betrügen, aber Rechenoperationen und statistische Verfahren selbst garantieren auf dem Wege mathematischer Anwendungen auch die Geltung abgeleiteten Wissens.
Vor diesem Hintergrund könnte man meinen, dass mit der Einkehr der Zahlen in den politischen Raum die Ideologieanfälligkeit von Wort und Bild durch deren kühle Objektivität überwunden werden könnte. Ein frommer Wunsch, eine gefährliche Naivität.
Warum sind Zahlen in der politischen Kommunikation nicht minder ideologieanfällig als Worte oder Bilder? Einen ersten Hinweis gewinnen wir schon aus der Zuordnung der Mathematik im Orchester der akademischen Disziplinen. Sie ist nämlich weder eine Naturwissenschaft noch eine Sozialwissenschaft. Zwar operieren diese Wissenschaften mit Zahlen und mathematischen Verfahren, aber die Mathematik selbst beansprucht nicht für sich, ein Abbild natürlicher oder sozialer Phänomene zu sein.
Insofern stellt sich eine grundsätzliche Frage: Inwieweit ist es sinnvoll oder auch nur möglich, ein soziales Phänomen durch Zahlen darzustellen? Nur weil wir im politischen Raum permanent mit Zahlen konfrontiert werden, ist doch längst nicht gewährleistet, dass diesen Zahlen eine Realität entspricht oder umgekehrt, dass die Realität im Medium der Zahlen zur Geltung käme.
Der Grund für dieses Missverhältnis liegt — abseits von Schummeleien und Manipulationen — in der kategorischen Differenz von Qualität und Quantität. Der Geschmack eines guten Weines beispielsweise lässt sich nur schwer in Zahlen übersetzen, auch wenn sich Liebhaber bei ihren Kaufentscheidungen gern an den Punktezahlen einschlägiger Experten wie Robert Parker orientieren. Es bleibt immer etwas auf der Strecke. Die vermeintliche Objektivität und Vergleichbarkeit wird um den Preis blinder Flecken erkauft.
Diesem Gedanken kann man sicher schnell zustimmen. Aber was ist mit quantitativen Phänomenen, die es doch auch gibt im sozialen Raum: die Zahl der Armen und Arbeitslosen, der Jungen und Mädchen mit oder ohne Abitur, der transsexuellen Salafisten, die sich gegen Gewalt gegen Rechts engagieren? Das alles lässt sich doch zählen, vergleichen, korrelieren und zum Prüfstein politischen Handelns erheben.
Was auf den ersten Blick einleuchtend ist, beruht letztlich aber auf vielen Voraussetzungen und Entscheidungen, die getroffen wurden, aber eben auch anders getroffen hätten werden können. Das heißt, schon unabhängig von böser Absicht oder politischem Interesse fließen kulturelle und soziale Aspekte in die Zahlenerhebung und Verarbeitung mit ein. Am Beispiel der Corona-Diskussion: Welche Mess- und Testverfahren werden zugrunde gelegt? Welche Zählweisen?
Wie zuverlässig ist der PCR-Test? Müssen die Ct-Werte normiert werden? Sollte das Teststäbchen durch die Nase bis zur Schädelrückwand geschoben werden? Reicht ein Antigentest? Zählen wir symptomfreie, aber testpositive Menschen oder nur hospitalisierte Menschen als Fälle? Welche Zahlen werden in den Rang eines Indikators erhoben? Die absoluten Fallzahlen (mit oder ohne Relation zur Zahl der durchgeführten Tests), der R-Wert, die Inzidenz, die Intensivbettenbelegung? Zeigt sich politischer Erfolg an der Impfquote? Oder zählen wir lieber die Gesunden, die Genesenen oder gar die Immunen? Es sollte deutlich geworden sein, dass interessengeleitete Politik im Feld der Zahlen ein dankbares Instrument zur Legitimation des eigenen Handelns errichten kann.
Die Macht bedient sich der Zahlen, aber zugleich ist es auch die Macht — und nur die Macht —, die den Zahlen öffentliche Geltung verleiht.
Das heißt, Zahlen allein sind noch nicht in der Lage, einen politischen Unterschied herbeizuführen, mögen sie auch noch so plausibel sein. Dies haben Bürger und Wissenschaftler schmerzhaft feststellen müssen, die mit validen „eigenen“ oder entliehenen Zahlen der offiziellen Institute gegen die politisch lancierten Zahlen und deren Deutung antreten wollten.
Der Vergleich der COVID-19-Risiken mit den Todeszahlen von anderen Erkrankungen (Grippe) oder Kulturphänomenen (Abtreibung, Hunger), der Hinweis auf ausgebliebene Übersterblichkeiten, die Öffnung der Perspektive durch internationale Vergleiche (Schweden, Thailand), all das blieb politisch weitgehend wirkungslos. Warum? Weil es die Macht ist, welche den Zahlen Relevanz verleiht und die Realität damit zum Verschwinden bringen kann. Steffen Mau schreibt in seinem bemerkenswerten Buch über das Verhältnis von Macht und Zahlen:
„Besonders erfolgreich ist die Politik der Indikatoren dann, wenn es gelingt, in der öffentlichen Wahrnehmung eine Gleichsetzung von theoretischem Konstrukt und Indikator zu erreichen“ (2).
Es mag geradezu lächerlich klingen, nachdem wir deutlich gemacht haben, wie viel Spielraum für Willkür schon bei den einzelnen Schritten der Zahlenerhebung besteht, doch die politische Öffentlichkeit in Deutschland akzeptiert tatsächlich, dass man gute Umweltpolitik am CO2-Ausstoß, gute Bildungspolitik an PISA-Ergebnissen, gute Wissenschaft am Drittmittelaufkommen, gute Frauenpolitik an der Quote in DAX-Aufsichtsräten oder die schlimmste Pandemie aller Zeiten an der Intensivbettenbelegung ablesen kann.
Letztlich beruht dieser Irrglaube auf einer diskursiv hergestellten Kopplung von vermeintlich konsensfähigen politischen Zielen mit moralischem Mehrwert und einem interessenunterlegten Indikator, der in der Lage ist, konkurrierende Indikatoren auszuschalten und, schlimmer noch, die politische Wahrnehmung der Realität zu steuern.
Die Macht gewinnt damit die Kontrolle über die Handlungsfelder und den öffentlichen Erregungspegel, kann ihre Aktivitäten und vermeintlichen Erfolge nachweisen und ebenso Untätigkeit und Scheitern vertuschen. Vor allem aber kann sie schmerzhafte Maßnahmen als alternativlose Sachzwänge darstellen, denn schließlich dienen die technokratischen Zugriffe auf das Gemeinwesen, die Kultur und die Freiheit des Einzelnen nur dazu, die angestrebten Sollwerte zu erreichen. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Wer A sagt, muss auch B sagen.
Ist es nicht zynisch, wenn sich führende Politiker „Sorgen machen“ wegen der „steigenden Zahlen“? Wie wäre es, wenn sie sich zur Abwechslung mal um Menschen sorgen würden?
In der Summe zeigt sich, dass Sprache, Bild und Zahl trotz ihrer Verschiedenheit gleichermaßen politisch ausbeutbar sind. Auf der einen Seite fungieren sie als Denk- und Darstellungsmittel im Sinne der Aufklärung, auf der anderen geraten sie als Herrschaftsmittel zu Instrumenten der weichen Lenkung und kommunikativen Unterwerfung von freien Bürgern durch Propaganda. Wenn die Corona-Maßnahmen-Krise etwas Heilsames haben sollte, dann könnte es in einem reflektierten Umgang mit Wort, Bild und Zahl bestehen.
Insbesondere der Fetisch des Quantitativen müsste entzaubert werden, wenn das demokratische Gemeinwesen aus dem Raum des technokratischen Sachzwangs in die Sphäre des Politischen zurückgeführt werden soll. Wohlgemerkt: Nicht die Zahl selbst oder der Versuch, die Welt zahlenförmig zu beschreiben, sind verwerflich, wohl aber die Verschleierung von Interessen und Ideologien durch das Gewand der Zahlen und die Transformation des Staates zur Rechen-, Kontroll- und Regelmaschine. Dann nämlich braucht die Demokratie selbst ein Intensivbett.
Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch, E-Book oder Hörbuch.
Zitate aus dem Buch:
„Das Zentralargument für die Politik der Lockdowns, die Überlastung des Gesundheitssystems und insbesondere die Überlastung der Intensivstationen, beruht auf komplett invaliden Zahlen. Laut Bundesrechnungshof ist das Gesundheitsministerium bis heute nicht in der Lage, die Zahl der tatsächlich aufgestellten Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit verlässlich zu beziffern.“ — Walter van Rossum
„Wie ist es möglich, dass der Gesamtbestand der unmittelbar zur Verfügung stehenden Intensivbetten von etwa 34.000 im Mai letzten Jahres zwölf Monate später auf unter 24.000 sinkt – und das bei angestimmten Triage-Gesängen?“ — Walter van Rossum
„Die Regierung hat zwar mit vielen Milliarden die Krankenhäuser unterstützt, aber von Plänen für die Aufstockung des Intensivpflegepersonals ist mir nichts bekannt, geschweige denn von konkreten Plänen für eine angemessenere Bezahlung. Stattdessen hat man fast das ganze Land wegen eines angeblichen Notstands, dessen Schein man mutwillig herbeigeführt hat, in kollektive Quarantäne gesteckt.“ — Walter van Rossum
„Es ist nicht auszuschließen, dass große Teile der Notfallreserve nur auf dem Papier bestehen, ein Rangierbahnhof, auf dem Tausende Betten einerseits ins Nebelgebiet der Krankenhausfinanzierung verschoben wurden, andererseits der reale Bettenabbau kaschiert werden konnte.“ — Walter van Rossum
„Die Regierung hat niemals auch nur ansatzweise angenommen, das Gesundheitssystem könne durch einen exponentiellen Anstieg von COVID-19-Patienten überfordert werden.“ — Tom Lausen
„Wer in einer Pandemie eine hohe Krankenhausauslastung befürchtet, finanziert nicht den Mangel an Betten, sondern setzt Anreize für eine Erhöhung der Versorgungsmöglichkeiten.“ — Tom Lausen
„Ob die Beantragungen und Inanspruchnahmen von Bonus- und Ausgleichszahlungen seitens der Krankenhausbetreiber strafbar gewesen sein könnten, wird die Geschichte zeigen.“ — Tom Lausen
„Das RKI und DIVI e.V. weigern sich, wichtige amtlich erhobene Daten, die keinerlei Patientenbezug haben, zeitnah oder überhaupt der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Es wird empfohlen, diese Verweigerungshaltung zu überwinden, damit mehr Menschenleben gerettet werden können.“ — Tom Lausen
„In diesem Buch wird detailliert nachgewiesen, dass zu keinem Zeitpunkt der Pandemie die stationäre Versorgung insgesamt einen kritischen Punkt erreicht hat. Hingegen hat die Politik spätestens seit Ende 2020 durch verschiedene Maßnahmen dafür gesorgt, dass der Eindruck entstehen konnte, insbesondere die intensivmedizinische Versorgung stehe vor dem Kollaps.“ — Alexander Christ
„Alle an diesem ungeheuerlichen Betrug Beteiligten werden sich vor den Bürgern und letztlich auch vor sich selbst zu einem späteren Zeitpunkt zu verantworten haben. Möglicherweise werden sie sich wegen etwaiger Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch vor einem Gericht zu verantworten haben.“ — Alexander Christ
„Mittels einer Werteverschiebung in der Betrachtung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit vollzieht sich ein politischer Programmwechsel. Auf diese Weise lassen sich seit 2020 elegant und locker Freiheitseinschränkungen jedweder Art beliebig rechtfertigen, denn: umso schlimmer die angekündigte mögliche Folge, umso niedriger die Schranke für Eingriffe und Beschränkungen. Es leuchtet ein, dass Grund-Rechte vor dem Hintergrund dieser Sichtweise nur noch als ‚Privilegien‘ angesehen werden.“ — Alexander Christ
„Das hohe Maß an Ungewissheit dient den Gerichten in einer spektakulären Verdrehung aller denklogischen Grundsätze geradezu als Legitimation für die Richtigkeit der Annahme des ‚Worst Case‘-Szenarios.“ — Alexander Christ
„Ist es nicht zynisch, wenn sich führende Politiker ‚Sorgen machen‘ wegen der ‚steigenden Zahlen‘? Wie wäre es, wenn sie sich zur Abwechslung mal um Menschen sorgen würden?“ — Matthias Burchardt
„Nicht die Zahl selbst oder der Versuch, die Welt zahlenförmig zu beschreiben, sind verwerflich, wohl aber die Verschleierung von Interessen und Ideologien durch das Gewand der Zahlen und die Transformation des Staates zur Rechen-, Kontroll- und Regelmaschine, dann nämlich braucht die Demokratie selbst ein Intensivbett.“ — Matthias Burchardt
„Der Vergleich der COVID-19-Risiken mit den Todeszahlen von anderen Erkrankungen (Grippe) oder Kulturphänomenen (Abtreibung, Hunger), der Hinweis auf ausgebliebene Übersterblichkeiten, die Öffnung der Perspektive durch internationale Vergleiche (Schweden, Thailand), all das blieb politisch weitgehend wirkungslos. Warum? Weil es die Macht ist, welche den Zahlen Relevanz verleiht und die Realität damit zum Verschwinden bringen kann.“ — Matthias Burchardt
„In der Summe zeigt sich, dass Sprache, Bild und Zahl trotz ihrer Verschiedenheit gleichermaßen politisch ausbeutbar sind. Auf der einen Seite fungieren Sie als Denk- und Darstellungsmittel im Sinne der Aufklärung, auf der anderen geraten sie als Herrschaftsmittel zu Instrumenten der weichen Lenkung und kommunikativen Unterwerfung von freien Bürgern durch Propaganda.“ — Matthias Burchardt
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.br.de/kultur/wieso-das-foto-des-militaerkonvois-in-bergamo-fuer-corona-steht-100.html
(2) Steffen Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Suhrkamp, Berlin 2017, S. 29
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