Nina Forberger: Im Rahmen von gemeinsamen Aktionen wie „aufstehen“, aber auch in anderen Zusammenhängen reden einzelne Linke wie Rainer Mausfeld, immer wieder davon, dass wir mehr oder echte Demokratie bräuchten. Bislang fand das immer meine Unterstützung. Aber ich habe über den Begriff der Demokratie und seine Bedeutung nachgedacht und bin mir jetzt gar nicht mehr so sicher, ob Demokratie wirklich das ist, was wir wollen.
Carsten Forberger: Was meinst du konkret damit?
Wenn wir von Demokratie sprechen, meinen wir damit eine Gesellschaftsordnung, in der alle Menschen frei und selbstbestimmt leben und Einfluss auf all die Belange nehmen können, die ihr Leben und ihre Gemeinschaft unmittelbar oder mittelbar betreffen. Es übt also niemand Macht über andere aus und Konflikte werden nicht gewaltsam, sondern friedlich gelöst. Doch „Demokratie“ setzt sich aus „dēmos“ und „kratós“ zusammen und „kratós“ steht für Macht, Gewalt oder Herrschaft. Also meinen wir, wenn wir von Demokratie reden, das Gegenteil dessen, was das Wort bedeutet. Herrschaftsfreie und selbstbestimmte Demokratie ist so etwas wie humanitärer Krieg.
Da hast du natürlich recht. Und wenn ich weiter darüber nachdenke, ist nicht nur „kratós“ ein Problem, sondern auch „dēmos“. Es bedeutet Volk oder Gemeinschaft und damit stellt sich die Frage, wer zu diesem auserwählten Kreis gehört und die Möglichkeit gleichberechtigter politischer Teilhabe genießt, während er gleichzeitig über die Ausgeschlossenen herrscht. Die volle Wortbedeutung von Demokratie entfaltet sich nur dann und macht auch dann tatsächlich Sinn, wenn es ein definiertes auserwähltes, elitäres Volk gibt, das sich von den Beherrschten abgrenzt.
Genau das deckt auf, dass Demokratie nicht das sein kann, was wir mit diesem Begriff normalerweise verbinden.
In der gegenwärtig existierenden repräsentativen Demokratie kommt noch ein weiteres Problem dazu. Es entsteht zusätzlich noch eine Ungleichheit zwischen denen, die zum erlauchten Kreis des „dēmos“ gehören.
Das Repräsentationsprinzip führt dazu, dass sich die politische Mitbestimmung im Wesentlichen auf den Akt der Wahl reduziert, während sich die gewählten Repräsentanten zeitlich, örtlich und inhaltlich der Einflussnahme des Wählers, also des „dēmos“, entziehen.
Genau, in der repräsentativen Demokratie werden auch Herrschaftsverhältnisse innerhalb des Volkes begründet.
Und wenn wir schon einmal dabei sind, über die Wortbedeutungen zu philosophieren — im Wort Herrschaft ist das Patriarchat wörtlich enthalten. Es heißt schließlich nicht Damschaft oder Frauschaft. Im alten Griechenland waren es Herren, die sich als dēmos definierten und auch die Gründerväter der repräsentativen Demokratie waren Männer.
Also ist der Demokratiebegriff im historischen Kontext völlig korrekt. Untereinander gleiche Männer herrschten über die Mehrzahl ausgeschlossener Menschen.
Das ist aber nicht das, was wir wollen, wenn wir heute von Demokratie sprechen. Daher müssen wir uns überlegen, welchen zutreffenden Begriff wir der Sache geben können.
Okay, aber spielt das jetzt eine Rolle, dass wir wissen, dass es der „falsche“ Begriff ist, wenn die Menschen doch etwas Positives mit ihm verbinden? Meinst du, dass wir unbewusst Herrschaft, Gewalt und Ausgrenzung transportieren, wenn wir nur den Begriff Demokratie verwenden?
*Ich denke schon, dass das wichtig ist! Wenn wir eine wirklich friedliche und herrschaftsfreie Gesellschaft erreichen wollen, müssen wir uns auch einer friedlichen Sprache bedienen. Den Anstoß, darüber überhaupt nachzudenken und den Ursprung unserer Wörter zu ergründen, gab mir Rolf Ketan Tepel Ihn lernten wir doch 2017 beim Erntedankfest auf Schloss Weitersroda kennen. Von Ketan lernte ich, dass wir selbst in Sprachräumen, die wir für herrschaftsfrei halten, zum Beispiel in der Familie, im Freundeskreis oder innerhalb der Rubikon—Leserschaft, neutral gemeint oder gar in positiver Absicht permanent Wörter verwenden, die in ihrer ursprünglichen Bedeutung alles andere als frei oder friedlich sind.
Die Sprache wirkt also vom offiziellen Herrschaftsbereich weit in vermeintlich frei gebliebene Räume hinein. Das herausragendste Beispiel ist hier meiner Meinung nach in unserer Alltagssprache die Verwendung des Wortes „Krieg“ statt „Frieden“. Wir frieden keine Kinder, sondern kriegen sie in einem Krankenhaus. Die Geburt ist also von Anfang an mit Kampf und Krankheit und nicht mit Liebe und Leben verbunden. Wörter wie „kriegen“ vergiften sozusagen die gut gemeinte und friedliche Absicht des Sprechers. Auch wenn ich dies bislang nicht wissenschaftlich ergründet habe, denke ich, dass die negative Bedeutung von Wörtern wie „kriegen“ im unbewussten kollektiven Gedächtnis erhalten bleibt und selbst beim gut gemeinten Benutzen der Wörter wiederum unbewusst transportiert wird. *
Also halten wir fest, dass der Demokratiebegriff im Grunde vergiftet ist.
Ja, das sehe ich so. Wir müssen uns deshalb überlegen, was der richtige Begriff für das ist, was wir meinen.
Okay, da muss ich nicht lange nachdenken. Herrschaftslosigkeit, Ordnung durch wahrhaft selbstbestimmtes Handeln, Abwesenheit von gewaltbasierten Machtverhältnissen: das ist Anarchie.
*Mit Anarchie haben wir doch aber das umgekehrte Problem — es ist das richtige Wort, wird aber permanent im falschen Zusammenhang verwendet. Für die meisten Menschen bedeutet Anarchie fälschlicherweise immer Chaos, Unordnung und Gewalt. Am deutlichsten wurde das bei Gerald Hüther im Gespräch mit KenFM. Er beschrieb inhaltlich eine anarchistische Gesellschaft, in der gemeinsam nach Lösungen und Werten gesucht wird, in der sich jeder selbst entfalten kann und in der wir keinen Bestimmer mehr brauchen. Gleichzeitig sagte er, dass das nichts mit Anarchie zu tun habe, weil Anarchie bedeute, dass jeder mache, was er will. *
Dann ist Anarchie ein genauso verbrannter Begriff. Wir müssten ein Wort finden, welches das richtige meint und gleichzeitig unbelastet ist.
Bloß können wir den jetzt nicht einfach festlegen, denn dann würden wir gegen alles verstoßen, was wir uns gerade überlegt haben. Es müsste ein Begriff sein, den wir in die Debatte einbringen und der sich „demokratisch“ durchsetzt. So wie der Begriff der „Menschheitsfamilie“, den Daniele Ganser prägt und den ich sehr gerne verwende.
Das ist schwierig. Wie wäre es mit „Gemeinschaft individuell entfalteter Potentiale“?
Klingt noch ein bisschen sperrig. Aber für den Anfang nicht schlecht.
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