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Woke Revolte im Hörsaal

Woke Revolte im Hörsaal

Vermeintliche Beschützer einer Minderheit sprengten ein anthropologisches Philosophie-Seminar, weil sie den Dozenten beschuldigten, mit der Literaturauswahl die Gefühle von Transpersonen zu verletzten.

Zuerst war ich überrascht, dann verängstigt und letztlich richtig verärgert — weil mir Sicherheit und Autonomie sehr wichtig sind —, als eine Gruppe von Aktivisten den Hörsaal 14 der Universität Leipzig zum Zwecke der Zensur meines Philosophieseminars am 12. Oktober 2022 sprengte (2). Die Protestierenden, unter ihnen auch Landesvorstandsmitglieder der Grünen Jugend in Sachsen, erklärten sich als Behüter der Interessen von Transpersonen. Angeblicher Auslöser der Proteste sollte ein Hinweis im Kommentar zum Seminar auf das Buch „Natur und Gender“ von Christoph Türcke gewesen sein. Dieses Buch bewerten die Protestierenden generell als transfeindlich.

Türckes Buch ruft durchaus gegensätzliche Reaktionen hervor. Just diese Qualität sollte als Impuls für die wissenschaftliche Diskussion dienen.

Was aber ein lehrreicher, offener Diskurs hätte sein können, in dem Menschen mit verschiedenen Positionen zu Wort kommen, wurde einmal mehr durch die Ideologie einer Cancel Culture, einer fanatischen wie dogmatischen Zensurkultur, im Keim erstickt. Cancel Culture umfasst insbesondere die geistige Unfähigkeit, unterschiedliche Ansichten und Meinungen souverän und ohne Dysphorie nebeneinander stehen zu lassen, geschweige denn einen Dialog zwischen ihnen zu ermöglichen (3).

Die Menschen, die sie betreiben, fühlen sich oft als Opfer einer Form von „struktureller“ oder „sprachlicher“ Gewalt — oder wie es auch genannt wird: einer „Gewalt vor der Gewalt“. Selbst ein falsch benutzter Artikel oder eine falsche Anrede kann als eine Form von Gewalt angesehen werden, der es mit vehementer Empörung zu begegnen gilt. Doch woher kommt diese Hypersensibilität? Inwiefern droht sie in eine selbstgeschaffene sensorisch-interpretative Erschwerung umzukippen?

Die sprachliche Gefangenschaft

Obschon akademische und politische Aktivisten „Gewalt“ in der Sprache beziehungsweise mit bestimmten sprachlichen Praktiken und Konventionen gleichgesetzt sehen wollen, warnt eine der prominentesten Figuren der Queer-Theorie und -Bewegung, Judith Butler, dass eine derartige Gleichsetzung inadäquat und irreführend wäre. Nach Butler liegt das verletzende Potenzial sprachlicher Äußerungen weder in den Äußerungen selbst noch in den Absichten des Sprechers, sondern in der Verletzlichkeit des Subjekts an sich. Soweit stimme ich ihr unumwunden zu.

Nun wird das Subjekt, von dem Butler spricht, sowohl geistig-kulturell als auch körperlich vollständig von der Sprache bestimmt. Somit ist seine Verletzlichkeit eine sprachlicher Natur.
Diesbezüglich bemüht sich Butler um Unmissverständlichkeit, wenn sie sagt:

„Die Anrede selbst konstituiert das Subjekt innerhalb des möglichen Kreislaufs der Anerkennung“ (4).

Auch in Bezug auf den Körper des Subjekts ist sie unmissverständlich, wenn sie behauptet, dass „eine bestimmte gesellschaftliche Existenz des Körpers erst dadurch möglich wird, dass er sprachlich angerufen wird“ (5). Aus der Perspektive einer solchen Subjektvorstellung ist es selbstredend nachzuvollziehen, warum ein falsches Wort für dieses spezifische Subjekt der Spätmoderne als verletzend oder sogar existenzbedrohend wahrgenommen werden kann. Diese Auffassung gibt es.

Das souveräne Subjekt

Dennoch gibt es ein anderes Subjektverständnis. Ein Subjekt nämlich, das, obschon sowohl seine innere Natur als auch die Außenwelt nicht ausschließlich, aber auch durch sprachliche Konstrukte organisiert wird, über eine relative Autonomie gegenüber der verbalen Kommunikation verfügt. Ein Subjekt, das nicht unbedingt alternativlos den beliebigen Äußerungen anderer zum Opfer fallen muss.

Die Alternative besteht nämlich darin, der Verantwortung für die eigenen Gefühlen mächtig zu sein oder noch zu werden. Als Grundlage dieses Verständnisses liegt der Erkenntnisbefund, dass ein unerwünschtes Wort nie Ursache, sondern höchstens nur Auslöser von Gefühlen sein kann.

Dieses Verständnis eines souveränen Subjekts vertritt vor allem der amerikanische Psychologe Marshall B. Rosenberg, Begründer der sogenannten Gewaltfreien Kommunikation.

Rosenberg führt die Entstehung von Gefühlen, wie zum Beispiel verletzt, verärgert oder verängstigt sein, auf die Entscheidung zurück, „wie wir das, was andere sagen oder tun, aufnehmen wollen“ (6). Sie wurzeln in tiefgründigen erfüllten oder unerfüllten Bedürfnissen des biologischen wie sozialen Organismus Mensch. Deshalb betrachtet Rosenberg Gefühle geradezu als eindeutige Auskunftsquelle für sowohl befriedigte als auch unbefriedigte Bedürfnisse.

Vier Reaktionsmöglichkeiten auf falsche Worte

Vor diesem theoretischen Hintergrund sieht Rosenberg vier Reaktionsmöglichkeiten auf die Wahrnehmung von unerwünschten Worten oder Taten. Die ersten zwei perpetuieren die kommunikative Aggressivität oder führen zu weiteren gewaltsamen Handlungen und gelten ihm als verantwortungslos. Die letzten zwei erhöhen die Wahrscheinlichkeit, ohne Aggressivität miteinander zu kommunizieren und gelten als friedlich oder friedenstiftend.

Die erste mögliche Antwort auf ein falsches Wort ist, sich selbst die Schuld zu geben, die zweite, den anderen die Schuld zuzuweisen, die dritte, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und die vierte, die Gefühle und Bedürfnisse der anderen zu erkennen.

Herkunft der Gefühle

Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir über Gefühle und Emotionen sprechen? Ich verstehe unter Emotionen körperliche und/oder psychische vitale Zustände, die sowohl das innere als auch das äußere Verhalten beeinflussen. Sie sind meist nicht konkret in dem Sinne, dass sie schwer definierbar oder kategorisierbar sind. Die emotionale Beeinflussung des Verhaltens folgt dabei — solange die Emotionen keiner Störung unterliegen — dem Selbsterhaltungsprinzip des Organismus Mensch, sprich seiner autopoietischen Organisation (7). Gefühle sind generalisierte erlebte Emotionen — um in Anlehnung an den renommierten Säuglingsforscher Daniel N. Stern zu sprechen —, die durch den ontogenetischen Enkulturationsprozess eine kognitive Konkretisierung gefunden haben. Sie können dadurch versprachlicht werden. Als generalisierte Emotionen sind sie biophysiologische wie psychologische Ausdrücke von Grundbedürfnissen.

Der tragische Ausdruck

In diesem Zusammenhang war die Sprengung des Hörsaals 14 als Boykott meines Seminars eine extreme Form der zweiten Antwortmöglichkeit, nach Rosenbergs Darlegung: eine performative Verurteilung meiner Lehrveranstaltung und sogar meiner Person. Dem Dozenten, nämlich mir, und dem Seminar wurde die Schuld — auf der alleinigen Grundlage des Kommentars zum Seminar — dafür gegeben, dass einige Studierende sich in irgendeiner Weise gekränkt gefühlt haben. Die Boykottierenden müssen äußerst verärgert, wütend oder verängstigt gewesen sein, dass sie zu solch einer gewalttätigen wie rechtswidrigen Aktion griffen.

Angesichts dieser starken Gefühle frage ich mich, welche ihrer Bedürfnisse, aus welchem Grund auch immer, die Protagonisten der Proteste für nicht erfüllt empfanden. Wenn die Boykottierenden verärgert, wütend, verängstigt oder gar geniert waren, müssten sie etwas im Kommentar gelesen haben, das sie als „falsch“ verurteilt haben. Dieses Urteil war erst einmal eine Entscheidung, eine aktive Handlung seitens der Boykottierenden. Rosenberg würde hinzufügen: ja, und zwar eine tragische. Denn „jede Verurteilung ist“, so Rosenberg, „ein tragischer Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse“ (8).

Vorwürfe als Angriff und Selbstoffenbarung

Um welche Bedürfnisse handelte es sich denn? Aufgrund des fehlenden Dialogs mit den trotzigen Studierenden, weiß ich das bislang leider nicht. Bedauerlicherweise habe ich von ihnen bis heute nur Vorwürfe, das heißt Anschuldigungen, über ihre „Rufmordkampagne“ vernehmen können. Das Klagespektrum umfasst ein breites Angebot von „Unwissenschaftlichkeit“ über „Menschenfeindlichkeit“ bis hin zu „Antisemitismus“.

Solchen Vorwürfen begegnete ich mit tiefster Traurigkeit und Enttäuschung, da mir Ehrlichkeit und Fairness am Herzen liegen. Es blieb mir jedoch nichts anderes übrig, als sie schlichtweg zu ignorieren. Denn letzten Endes finde ich mich weder als Person noch als Wissenschaftler in irgendeiner Weise in ihnen wieder. Vorwürfe geben allerdings, wenn man Rosenberg folgt, mehr Aufschluss über diejenigen, die sie artikulieren, als über diejenigen, gegen die sie formuliert werden.

Ich kann mir gut vorstellen, dass eines der unbefriedigten Bedürfnisse, die in dieser Situation zum Vorschein kamen, das der expliziten Anerkennung einer bestimmten Lebensweise oder Identität eines empirischen Subjekts war, welches offensichtlich damit noch nicht fertiggeworden ist.

Wenn das so ist, drängt sich dann unausweichlich die Frage auf, ob das Stillen existenzieller Bedürfnisse die Aufgabe eines philosophischen Seminars sein sollte.

Kann sich eine Institution der höheren Bildung, geschweige denn ein Dozent, die Aufgabe auferlegen, die unerfüllten Bedürfnisse von Individuen zu stillen, deren gelungene Erfüllung im Wesentlichen vom kindlichen Entwicklungsprozess der Subjektivität eines jeden Gattungsmitglieds abhängt? Inwieweit ist dies eine angemessene oder gar realistische Erwartung an eine öffentliche Lehr- und Forschungsstätte oder an einen Dozenten?

Voraussetzungen der Wissenschaft

Nur eines steht zweifelsfrei fest: In meinen Lehrveranstaltungen sind alle Studierenden unabhängig von Sex/Gender, Hautfarbe, sexueller Orientierung, Religion/Weltanschauung, sozialem Status und Herkunft herzlich willkommen. Denn ich stehe dezidiert für Weltoffenheit und Humanität, für die Freiheit von Lehre und Forschung, für Meinungs- und Redefreiheit, für die Gleichheit aller Menschen und insbesondere für die Achtung der Menschenwürde aller.

Nach dem Prinzip der Gleichheit darf aber keiner eine exklusive Aufmerksamkeit oder Behandlung beanspruchen. Auch müssen alle gleicherweise ein Mindestmaß an Denkresilienz mitbringen, um abweichende Positionen im wissenschaftlichen Diskurs aushalten sowie der Kritik an den eigenen Ansichten und Argumenten standhalten zu können. Denn exakt das ist, so will mir scheinen, eine der wichtigsten Kompetenzen, die den Unterschied zwischen einem Seminar an einer Universität und einer Veranstaltung in einer Glaubens- beziehungsweise weltanschaulichen Gemeinschaft ausmacht.

Wie sonst soll eine kompetitive, progressive und ideologiefreie Wissenschaft funktionieren?


Quellen und Anmerkungen:

(1) Siehe diesbezüglich die Pressemitteilung vom 3. November 2022 des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit e.V., https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/presse/pressemitteilungen/
(2) Siehe den Artikel von Thomas Thiel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/leipzig-rufmordkampagne-gegen-philosophisches-seminar-18427924.html
(3) Für eine sehr informative Beschreibung des Phänomens Cancel Culture, Wokeness oder auch Identitätspolitik, siehe René Pfister, Ein falsches Wort: Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht, München, Deutsche Verlags-Anstalt, 2022.
(4) Judith Butler, Haß spricht: Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2006, Seite 15.
(5) Ebd.
(6) Marshall B. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens, Paderborn, Junfermann Verlag, 2001, Seite 59. Meine Hervorhebung.
(7) Für eine philosophische Diskussion des Begriffs „autopoietische Organisation“, siehe Javier Y. Álvarez-Vázquez, How? Enarrativity and the Cognition of Explicative Thinking: A Theory of Constructive Reasoning, Paderborn: Brill mentis, 2022, Seiten 43 bis 70.
(8) Rosenberg 2001, Seite 128.


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