Selbst Leute, die ich bislang als ziemlich unabhängige Geister respektiert habe, sind ihr verfallen. Sie glauben (obgleich es für diese Annahme nur äußerst fragwürdige Belege gibt), sie retteten andere vor einer grausamen Seuche, indem sie sich in ihren Häusern verstecken. Und so kann man mittags im Herzen der Stadt seine eigenen Schritte vernehmen. Ich vermute, der glücklichste Mensch, den man am Sonntag dort zu Gesicht bekam, war ein runzliger, plappernder Zecher mit einer Dose kräftigen Lagers in der Hand, der sich in einem undefinierbaren Krebsgang die Fassade des Balliol College entlang bewegte, wobei er sich dieses mächtigen Sitzes der Gelehrsamkeit als Geländer bediente, um nicht vornüber zu fallen. Aus zwei Gründen konnte er entspannt und froh gestimmt sein. Erstens war er nahezu besinnungslos und hatte folglich keine Ahnung von dem traurigen Schicksal, dass über sein Land gekommen war. Zweitens sind gemäß einem ungewollt komischen Zusatz zu unserer neuen Ausgangssperre im chinesischen Stil die Obdachlosen ausdrücklich von der Vorschrift ausgenommen, die uns alle in, äh, unsere Häuser sperrt.
Die eher fragwürdige gesetzliche Grundlage unseres Massenhausarrests ist ein Dokument mit dem Titel The Health Protection (Coronavirus, Restrictions) (England) Regulations 2020. Es basiert selbst auf dem Public Health (Control of Disease) Act 1984. Abgesehen von denen ohne ein Heim, für die es heißt “Regulation 6, Paragraph (1) findet keine Anwendung auf jedwede Person, die obdachlos ist“, stehen wir unter dem Zwang von Regulation 6, Paragraph (1), welche unverblümt und demütigend verkündet: “Während der Zeit des Notstands darf niemand seine Unterkunft ohne vernünftige Gründe verlassen.” Es folgt eine Liste offiziell akzeptierter Entschuldigungen, zu welchen bloßes Herumstehen und die Landschaft Betrachten, Pausieren, um die Aussicht von einem Hügel zu genießen, oder irgendeine andere Form der Kontemplation und des Vergnügens nicht gehören. Ein führendes Regierungsmitglied, der zunehmend enttäuschte angebliche Intellektuelle Michael Gove, hat angeregt, wir sollten unsere Gänge auf eine Stunde pro Tag beschränken. Ich kenne Michael seit vielen Jahren. Der Gedanke, er sei nun befugt, mir vorzuschreiben, wann und wo ich in den Feldern und Wäldern meiner Heimat spazieren gehe, ist bis zur Unglaubwürdigkeit absurd. Aber ein striktes Verbot selbst kleinster Freuden wird allerorten mit Strenge und Beflissenheit durchgesetzt. Es ist, als wäre man besetzt, bis auf den Umstand, dass die finster blickenden Besatzer meine eigenen Landsleute sind. Vor einem Pub, den ich kenne (und der natürlich verschlossen und dunkel ist), hat man die Bänke am Flussufer offiziell mit Plastikbändern abgesperrt, um wen auch immer vom Sitzen abzuhalten. Glücklicherweise stehen den gesetzlosen In-der-Landschaft-Herumsitzern zumindest für den Moment noch eine Anzahl umgefallener Bäume, Hoftore und Grashügel zur Verfügung, solange sie sich nicht von der Polizei erwischen lassen. Sogar an einem Stück Pfad entlang der Isis, unserem lokalen Themseabschnitt, stehen Hinweisschilder, die warnen, die Bewohner der dort vertäuten Boote betrieben „Selbstisolation“ oder seien „gefährdet“ und man solle anderswohin gehen.
Dies ist eins von zahlreichen Beispielen eines eigentümlichen Irrsinns, der so viele unter uns ergriffen hat. Wenn ich, zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf Tour, einen mir begegnenden Mitmenschen fröhlich grüße, wird dieser sich in neun von zehn Fällen kalt abwenden. Ich fürchte, einige glauben, indem ich mit ihnen rede, erhöhte ich ihr Risiko, sich mit der Seuche zu infizieren. Eine ganz ähnliche Nervosität offenbart sich, wenn wir alle, sieben Fuß Abstand voneinander wahrend, vor Läden Schlange stehen. Drin kann es dann noch schlimmer sein. Neulich studierte ich das Label auf einer Fischpackung im Supermarkt (unsere altehrwürdige und wunderschöne Markthalle, luftiger und geräumiger als jeder Supermarkt, falls Sie vermeiden wollen, Ihre Mitkäufer anzuschnaufen, ist auf mysteriöse Weise geschlossen worden). Als ich das Verfallsdatum prüfte, um sicherzugehen, dass der Fisch nicht bereits im Begriff war zu verderben, bemerkte ich zwei Beine, die den Gang entlang auf mich zukamen. Den Blick hebend wurde ich gewahr, dass sie an einer ängstlichen weiblichen Gestalt befestigt waren, die mit von Wut verhärteten Zügen klatschende Bewegungen mit ihren Armen in meine Richtung machte, als wäre ich ein Moskito oder irgendein anderes Ungeziefer. Ich fürchte, ich habe gelächelt. Woraufhin sie begann, mich zu beschimpfen, mit den Worten: “Das ist nicht lustig! Es ist eine Weisung der Regierung! Wir müssen zwei Meter Abstand halten!” Man beachte den offiziösen Gebrauch der ausländischen, bürokratischen Maßeinheit (die vielen Älteren überhaupt nichts sagt) anstelle der freundlicheren englischen sieben Fuß.
Tatsächlich bemühe ich mich, wenngleich ich die ganze Angelegenheit als eine Mischung aus Witz und Tragödie betrachte, gewissenhaft die Auflagen einzuhalten. Ich bin bekannt dafür, dass ich, den Schal vor Mund und Nase wie ein Bankräuber, durch die Lebensmittelgeschäfte marschierte. Ich halte den geforderten Abstand. Ich danke den Kassierern, das sie zur Arbeit gekommen sind, da ich keinen Zweifel daran habe, dass sie glauben, ich stelle eine Gefahr für sie dar. Es fühlt sich an, als lebte ich in einem Land, dessen Bewohner mehrheitlich einer anderen Religion angehören als ich. Selbst wenn mir seine Vorschriften falsch und lächerlich vorkommen, werde ich sie dennoch mit äußerem Respekt befolgen. Aber ich lasse mich nicht dazu drängen, sie öffentlich anzunehmen. Es gibt jetzt vielerorts das seltsame Ritual zu festgesetzter Stunde an die Eingangstür oder auf den Balkon zu treten und „unseren“ nationalen Gesundheitsdiensten und ihren braven Arbeitern zu applaudieren. Man erzählt uns immerfort, indem wir unseren Hausarrest akzeptierten, hülfen wir, das nationale Gesundheitssystem zu retten, was für einen säkularen Briten einer Religion wohl mit Abstand am nächsten kommt. Auch wenn ich die Arbeit des medizinischen Personals wirklich schätze, und auch das Risiko, dass sie eingehen, habe ich doch eine Abneigung gegen erzwungenen Applaus – ganz so wie meine Abscheu gegen zwanghafte Fröhlichkeit, was wohl auf meine Jahre im Internat zurückgeht und durch meine Reisen durch die Staaten des Warschauer Pakts noch verstärkt wurde. Also werde ich das nicht tun.
Doch nun kommt die schreckliche Frage nach meiner wirklichen Religion, dem Lobpreis und der Anbetung Unseres Herrn Jesus Christus, in dem wir leben und uns bewegen und unser Dasein haben und aus dessen Leben und Worten ich in diesen Zeiten besonderen Trost ziehe. Ich kann dies nicht tun, wie es jahrhundertelang getan wurde. Der Kirchenvorsteher in der kleinen Dorfkirche, in der wir immer noch dem Gebetbuch von 1662 folgen, die King James-Bibel lesen und echt anglikanische Hymnen singen, war entschlossen weiterzumachen. Er verdeutlichte den Oberhäuptern der Kirche, dass wir nicht allzu viele seien und dass wir schon jetzt beim Beten einen Abstand von sieben Fuß und manchmal sogar mehr einhielten. Keine Chance. Der Gottesdienst wurden unterbrochen und wenige Stunden später waren die Türen verriegelt und niemand weiß, wann und ob überhaupt sie sich je wieder öffnen werden. Etwas derartiges ist in England seit 800 Jahren nicht geschehen, seit den Tagen des üblen Königs John. Diesem unerfreulichen Mann war ein päpstliches Verbot auferlegt, welches beinahe alle Gottesdienste bis auf die Taufe untersagte, und selbst diese hat unser Premierminister Alexander Johnson nun verboten. Dieses erbärmliche, rechtlich zweifelhafte Verbot wurde auch nicht von Herolden mit Trommeln und Trompeten verkündet, die auf den Stufen der Rathäuser Proklamationen verlesen. Es scheint nicht einmal vom Parlament abgesegnet zu sein, welches gehorsam heim getrottet ist, nachdem es nicht in der Lage war, sich selbst zu erheben.
Stattdessen wurde es per Ansprache im Fernsehen, unserer neuen Kammer der Regierung, erlassen. Vor ein paar Jahren hat einer unserer klügeren Politiker gewarnt, ein völlig neuartiges Problem könnte das Ende einer tausendjährigen Geschichte bedeuten. Er behielt recht, allerdings nur in einem technischen, einem rechtlichen Sinne. Ich denke, in dieser Woche ist der eigentliche Geist dieser tausend Jahre endgültig aus den heiteren Hainen und altertümlichen Bögen, wo er noch immer schüchtern weilte, vertrieben worden. So sieht das Ende, das ich so lange fürchtete, tatsächlich aus. Wir lieben den großen Bruder. Ich versuche gegen die Schließung des Landes zu argumentieren und einige wenige hören zu, aber im Großen und Ganzen könnte ich genauso gut einer Zuhörerschaft von Koalas russische Verse vortragen (wobei nicht alle so nett reagieren, wie es die Koalas täten). England und Großbritannien, wie ich sie kannte, sind Vergangenheit. Diese Worte sind nun nicht mehr als geographische Bezeichnungen eines Fleckchens Land, über das eine hässliche, neue Sache, deren Stunde nun gekommen ist, in Kürze hereinbrechen wird. Ich wünschte – oh, wie ich es mir wünschte –, es wäre anders.
Peter Hitchens ist Kolumnist der Londoner „Mail on Sunday“.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „We Love Big Brother“. Er wurde von vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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