In Deutschland hat sich die Schullandschaft seit den 90er Jahren stark verändert. Kontakte zu sozialen Einrichtungen und zur Wirtschaft sind fester Bestandteil des Unterrichts geworden. Projekte wie beispielsweise Schulsanitäter, Girl's Day, Schulhofgestaltung oder Schüler Helfen Leben gehören zu unserem Schulprogramm. Es handelt sich dabei durchweg um Aktivitäten, die persönlichen Einsatz erfordern und fördern und die mit hohem Ansehen verbunden sind. Deshalb fällt es vielen schwer, solche Einrichtungen kritisch zu hinterfragen.
Es ist bekannt, dass (auch) unser Bildungswesen seit dem Anschluss der DDR und durch das Fehlen des konkurrierenden Gesellschaftssystems einschneidende Veränderungen erfahren hat. Neoliberalismus und Globalisierung haben weite Bereiche der Gesellschaft wirtschaftlichem Denken und Handeln unterworfen. Die Folgen der Privatisierung im Gesundheitswesen und bei sozialen Einrichtungen sind unübersehbar. Zu wessen Vorteil diese Entwicklung betrieben wird, ist ebenfalls kein Geheimnis.
Die Veränderungen im Bildungswesen dagegen begannen eher schleichend, so dass sie von den meisten Betroffenen erst wahrgenommen wurden, als die Weichen längst gestellt waren und der Zug der Privatisierung bereits Fahrt aufgenommen hatte. Heute klagen wir über zu große Klassen, mangelnde technische Ausstattung und ausgebrannte Lehrkräfte. Aber die öffentlichen Kassen sind leer. Für Bildung und Soziales ist kein Geld da. Da trifft es sich gut, dass es private Stiftungen gibt, die in die Bresche springen und viele Projekte erst möglich machen. Allerdings werden sie damit auch der öffentlichen Kontrolle entzogen.
In welchem Umfang sich der Einfluss großer Stiftungen über die demokratische Kontrolle hinwegsetzt, ja sie konterkariert, zeigen diverse Publikationen unter anderem auf den Nachdenkseiten. Wolfgang Lieb beschreibt den Zusammenhang von Bertelsmann AG und Bertelsmann Stiftung und zeigt auf, wie dadurch wesentlich die veröffentlichte Meinung in Deutschland geprägt wird.
Schon diese Medienmacht alleine stelle eine Bedrohung für die Meinungsvielfalt in Deutschland dar. Bertelsmann übe aber darüber hinaus eine politische Gestaltungsmacht aus, die weit über den Einfluss von Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften, ja sogar von Parteien hinausging - und das geschehe nur durch die Bertelsmann Stiftung. Durch die Übertragung von 76,9 Prozent des Aktienkapitals an die Stiftung konnte der Konzern mehrere Millionen Euro an Erbschafts- und Schenkungssteuer "sparen". Die jährliche Dividenden-Zahlung an die Stiftung ist steuerfrei, was bedeutet, dass die jährlichen Ausgaben der Stiftung niedriger sind als die gesparten Steuern. Die "Reformwerkstatt" wird also über die Steuerzahlenden finanziert.
Lieb nennt für den Wirkungskreis Bertelsmann zahlreiche Angebote (Projekte, Unterrichtsmaterial) speziell für Schulen, aber auch für viele andere gesellschaftliche Problemlösungen. Horst Bethge, einer der Hauptredner auf dem Anti-Bertelsmann-Kongress 2005 in Hamburg, bettet die schulpolitischen Aktivitäten des Konzerns ein in die Privatisierung des Bildungswesens, beschreibt, wie sich die Schulen in die Gesellschaft öffnen und Kontakte zu Betrieben herstellen. "... lobenswerte Bestrebungen, die jedoch schon etwas deutlicher die Ausrichtung der Bildung auf ihre Nutzbarmachung durch die Wirtschaft zeigte".
Dabei begann die Einflussnahme des Konzerns scheinbar harmlos: mit der großzügigen Förderung der Filme von Reinhard Kahl über Schulen der Zukunft, - unter anderen: Im Wendekreis der Pädagogik - die Begeisterung hervorriefen. Des Weiteren wurden Preise vergeben, die den Wettbewerb fördern sollten. (Was gleichzeitig beinhaltet, dass Gruppen oder Schulen in Konkurrenz zueinander treten.) Konzernleiter Reinhard Mohn trat 1995 selbst der "Reform-Kommission" Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft bei. In dem Artikel Die schleichende Revolution des Kapitals - Bertelsmann und Schule beschreibt Bethge das Netzwerk von Initiativen, die gefördert werden, wie der "Bertelsmann-Konzern in alle Bereiche staatlichen und öffentlichen Handelns eingreift" und warum Schulbehörden, Lehrer, Eltern und Schüler den Einfluss der Bertelsmann Stiftung zulassen.
An folgenden Beispielen aus unserem Schulalltag soll aufgezeigt werden, wie stringent unser schulisches Wirken von der scheinbar gemeinnützigen Unterstützung "kanalisiert" wird.
Girl's Day
Der Girl's Day gehört inzwischen zum allgemeinen Schulprogramm, bedeutet Abwechslung und führt bei den Kindern meistens zu neuen Erkenntnissen über Berufstätigkeit. Seit 2003 beteiligt sich auch die Bertelsmann AG am Girl's Day. 2004 war Liz Mohn Schirmherrin. Aus Gütersloh, dem Hauptsitz der Bertelsmann AG, erfahren wir, dass sich 35 Schülerinnen am Girl's Day bei Mohn Media, Arvato Logistics Services und weiteren Sparten des Konzerns informieren konnten.
Die Verflechtung bekannter Massenmedien mit Bertelsmann ist in der Öffentlichkeit wenig bekannt. Thomas Barth nennt unter anderem die Fernsehsender der RTL-Gruppe, Gruner & Jahr (Stern, Capital, Geo), den weltgrößten Buchverlag Random House, das weltgrößte Musikkonsortium SonyBMG, den Logistik- und Online-Dienstleister Arvato, ebenfalls Verbindungen zu SPIEGEL und ZEIT.
Gleichsam spielerisch lernen die Kinder Bereiche der Wirtschaft kennen, in einem Alter, in dem sie intellektuell noch nicht in der Lage sind, wirtschaftspolitische Zusammenhänge zu reflektieren.
Schüler Helfen Leben - Sozialer Tag
Auch „Schüler Helfen Leben - Sozialer Tag“ ist ein fester Bestandteil unseres Schuljahrs. Das Engagement der Kinder und Jugendlichen sei ein großartiges Beispiel gelebter Solidarität - so das allgemeine Fazit. Dem wäre nicht zu widersprechen, wenn dieser Einsatz unabhängig von politischen Interessen stattfände.
Tatsächlich sollen die Kinder und Jugendlichen mit ihrem Einsatz die finanziellen Mittel bereitstellen, die die kriegerischen Zerstörungen und Verwerfungen wie in Ex-Jugoslawien lindern helfen.
Der damalige Außenminister Joseph Fischer sagte 1995: "Bekommt Deutschland jetzt, nachdem es friedlich und zivil geworden ist und mit dem Ende des kalten(!) Krieges seine Einheit im internationalen Einvernehmen zurückerhalten hat, als das, was ihm Europa, ja die Welt, in zwei großen Kriegen erfolgreich verwehrt hat, nämlich eine Art „sanfter Hegemonie“ über Europa, Ergebnis seiner Größe, seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Lage und nicht mehr seines militärstrategischen Potentials?"
1999 kam es dann zum Krieg gegen Jugoslawien unter deutscher Führung (Schröder, Fischer, Scharping), der "humanitäre Intervention" genannt wurde. Kanzler Schröder damals: "Wir führen keinen Krieg". Die aggressive deutsche Außenpolitik und ihr neues und altes Hegemoniestreben waren in den Massenmedien kein Thema kritischer Auseinandersetzung. Der Film Die Kosovo-Lüge (WDR 8.2.2001) gehört zu den Ausnahmen.
Firmen und politische Amtsträger, die von der Zerstörung des Landes profitiert haben beziehungsweise Verantwortung dafür tragen, treten beim Sozialen Tag als Schirmherrschaft oder Sponsoren auf, zum Beispiel NOKIA. "Gesellschaftliches Engagement ist ein elementarer Aspekt unserer Firmenphilosophie. Im Mittelpunkt stehen dabei Programme und Institutionen, die die Entwicklung Jugendlicher und ihrer Ausbildungschancen fördern. Vor diesem Hintergrund passt Schüler Helfen Leben ideal zu uns...", so Michael Bültmann, Geschäftsführer NOKIA Deutschland. Gar nicht in diese Firmenphilosophie passt die Verantwortung für die Arbeiterinnen und Arbeiter des NOKIA-Werkes in Bochum. In der Sendung MONITOR vom 24.3.2012 war zu erfahren, dass das Werk in Bochum geschlossen wurde, weil es sich nicht mehr rentierte. Statt 2000 Eur. musste man in Rumänien nur 250 und in Indien dann nur noch 125 Eur. Monatslohn zahlen. In Planung: ein Werk in Vietnam. Das ist noch billiger.
Schülerinnen und Schüler, die sich sozial engagieren wollen, können es neben der Schule und in ihrer direkten Umgebung tun, nicht nur an einem einzigen Schultag. Es ist zynisch, ihre Opferbereitschaft und ihren Idealismus für politische und wirtschaftliche Zwecke auszunutzen.
Cui bono? Wer hat Vorteile davon?
Die geförderten Projekte scheinen alle ausnahmslos sinnvoll und hilfreich zu sein: Suppenküchen einrichten, Sucht bekämpfen, Gewalt vorbeugen, KITAs unterstützen, im Altenheim helfen... Aber warum stellen wir nicht die Frage nach dem WARUM? Warum ... gibt es überhaupt Suppenküchen? ... gibt es so viele Süchtige? ... breitet sich Gewalt aus? ... fehlt es an Betreuung in KITAs und Altenheimen?
Bei der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen kommen wir nicht nur ins Grübeln, sondern wir entwickeln Vorstellungen von einer anderen, besseren Gesellschaft, in der Bildung und Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt unseres täglichen Engagements stehen - da fiele uns eine Menge ein! Aber wer soll das finanzieren?
Diese Frage sollte sich in einem der reichsten Länder eigentlich gar nicht stellen. Und doch ist es die entscheidende Frage, deren Beantwortung vernebelt wird. Es ist die Frage nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, eines kulturellen und wirtschaftlichen Reichtums, der von vielen Generationen erarbeitet worden ist und auf den alle nachgeborenen Menschen Anspruch haben - nicht nur einige wenige, die an dessen Erwirtschaftung keinerlei Verdienste vorzuweisen haben.
Deshalb ist die Privatisierung des Bildungswesens, die Bildung zur Ware macht, nicht nur der falsche Weg, sondern eine Versündigung an allen jungen Menschen. Ihnen helfen keine Sozialprojekte aus der Not. Die Gesellschaft, nicht private Stiftungen, muss dafür Sorge tragen, dass ein Leben in sozialer Sicherheit möglich ist: ohne Angst vor Gewalt, Hunger, Krankheit, Verlust des Arbeitsplatzes - und dass allen Menschen gleichermaßen der Zugang zu Kultur und Bildung offensteht.
Für ein Leben mit gleichen Rechten kämpfen Menschen seit Jahrhunderten. Beispiele gibt es in der älteren und jüngeren Geschichte zuhauf. Und hier schließt sich der Kreis: Was wissen wir überhaupt über diese Gesellschaftsentwürfe? Warum ist so wenig bekannt, woran sie gescheitert sind? Wie ein Baum nur eine kräftige Krone entwickeln kann, wenn seine Wurzeln nicht gekappt werden, so kann eine Gesellschaft ihre Zukunft nur gestalten, wenn sie auf Erfahrungen (aus der Vergangenheit) aufbauen kann.
Deshalb wollen wir unsere Kinder nicht ausrichten für die globale Wirtschaft zum Wohle großer Konzerne und im Konkurrenzkampf der Gesellschaftssysteme, sondern wir wollen sie bei ihrem Streben nach Glück begleiten.
Dieser Artikel erschien zuerst im Jahr 2013 auf den NachDenkSeiten und wird hier in unveränderter Form wiedergegeben. Wir bedanken uns bei der Autorin für das Recht auf Zweitverwertung.
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