Tilo Gräser: Herr Neu, Sie haben sich viele Jahre für Entspannung und Abrüstung eingesetzt, als Aktivist in der Friedensbewegung und als Bundestagsabgeordneter der Linkspartei. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in Folge des Ukrainekonflikts und des russischen Einmarsches in das Nachbarland ein?
Alexander Neu: Es gibt verschiedene Ebenen. Das eine ist das Handeln der verschiedenen Gruppierungen der Friedensbewegungen. Da habe ich eine interessante Aussage gelesen, dass sich die Friedensbewegung aufgespalten habe in jene, die seit acht Jahren Frieden in der Ukraine wollen, und die, die seit dem 24. Februar Frieden wollen. Das bringt die Sache auf den Punkt, denn seit 2014 haben wir Krieg in der Ukraine, mit Blick insbesondere auf die beiden sogenannten Volksrepubliken, die acht Jahre lang unter Beschuss durch die zentralukrainischen Kräfte standen, inklusive dieser faschistischen Bataillone. Das hat Teile der Friedensbewegung nicht so sehr gestört, als dass sie dafür auf die Straße gegangen wären. Es gab auch keine besondere Berichterstattung darüber. Das wurde einfach so hingenommen, mit dem Hinweis auf bis zu 14.000 Tote. Es wurde auch nicht erwähnt oder gefragt, wer die Toten zu verantworten hat, wo die Toten waren, östlich oder westlich der Frontlinie. Es wurde stillschweigend weggedrückt, weil man gar nicht wollte, dass klar wird, dass hier die ukrainische Seite zwar nicht die alleinige, jedoch die Hauptverantwortung dafür trägt.
Mit Blick auf den Krieg steht die Friedensbewegung selber, auch die Linkspartei, der ich angehöre, vor einer unheimlichen Herausforderung. Gewissermaßen hat uns das die Beine weggeschlagen, weil wir uns immer für einen Ausgleich mit Russland stark gemacht haben — und Russland führt jetzt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Und das mit aller Härte und mit allen Opfern, sowohl unter Kombattanten als auch unter Zivilisten. Das ist bei modernen Kriegen leider Normalität, dass Zivilisten die absolute Mehrheit der Opfer darstellen. Nicht allein, aber vor allem deswegen bin ich ein dezidierter Gegner des Krieges.
Viele haben diese Zuspitzung nicht erwartet, zeigen sich überrascht und auch enttäuscht von den Entscheidungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Viele hatten gehofft, es bleibt bei Warnungen und Drohungen über diese acht Jahre seit Beginn des Ukrainekonflikts 2014. Wie haben Sie darauf reagiert?
Als ich am 24. Februar morgens die Nachrichten hörte, war ich wie vor den Kopf gestoßen. Ich brauchte erst mal eine Stunde, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können: Wieder ein großer Krieg in Europa, nach dem NATO-Angriff auf Jugoslawien 1999 — dieser hat das Potenzial, eine Dynamik freizusetzen bis hin zu einem großen europäischen Flächenbrand und somit bis zu einem Weltkrieg.
Dieser Krieg kann in der Tat zu einer militärischen Konfrontation der NATO mit Russland führen, weil der russisch-ukrainische Krieg nur Ausdruck des eigentlichen geopolitischen Konfliktes zwischen der NATO und Russland ist.
Und wenn es dann zu Zwischenfällen kommt, zum Beispiel auch bei den Waffenlieferungen an die Ukraine, ist die Gefahr einer unaufhaltsamen Eskalation enorm.
Ich habe den Angriff auf die Ukraine nicht erwartet, wenn überhaupt, dann nur die offene militärische Unterstützung der beiden „Volksrepubliken“, aber nicht den kompletten Angriff auf die Ukraine. Ich habe es aber nicht wie andere ausgeschlossen. Weil: Woher soll ich das wissen? Wer kann dem Kreml oder Putin in den Kopf schauen? Niemand. Insofern fand ich es immer absurd, wenn man sich ganz felsenfest hinstellt und sagt: Das wird es nicht geben. Ich finde, so eine Aussage kann man nicht machen. Man muss aber eines im Kopf haben: Wenn man sich die beiden Vertragsentwürfe anschaut, die Moskau Mitte Dezember an die NATO und an die USA übergeben hat, in aller Weltöffentlichkeit, nicht auf geheimem diplomatischem Wege, dann erkennt man darin eine Bestimmtheit und ein Selbstbewusstsein.
Da gab es drei Kernforderungen: die Nichtweitererweiterung der NATO, der Rückzug der militärischen NATO-Infrastruktur auf den Stand 1997 und die Nichtverlegung von Großwaffensystemen und Truppen in die Ukraine durch die NATO. Diese drei Kernforderungen sind ja mitnichten erfüllt worden, sondern man hat sie mit einer erstaunlichen Arroganz beiseite gewischt. So blieben dem Kreml eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder vor der Weltöffentlichkeit einen Rückzug einzuleiten, was einen massiven Gesichtsverlust für den Kreml bedeutet hätte, oder aber zu handeln — auch militärisch. Ich glaube, im Westen hat einfach daraufgesetzt, dass Moskau den Gesichtsverlust hinnehmen wird, ähnlich wie bei der Kubakrise 1962, als Nikita Chruschtschow die sowjetischen Atomraketen doch wieder abziehen ließ. Nur ist Putin ganz offensichtlich nicht Chruschtschow und hat dann den Weg nach vorne in den Showdown gewählt. Leider, muss man sagen, denn kein einziges ziviles Opfer ist zu rechtfertigen.
Diese russischen Forderungen sind verständlich aufgrund der ganzen Entwicklung seit dem Untergang der Sowjetunion 1991. Aber sind sie nicht in gewisser Weise unrealistisch gewesen? War nicht zu erwarten, dass der Westen nicht darauf eingeht?
Also ich finde die Forderungen höchst realistisch und sinnvoll. Aber es war unrealistisch, zu erwarten, dass der Westen darauf eingeht, aufgrund seiner massiven moralischen und machtpolitischen Arroganz. Aber die Forderungen waren absolut realistisch. Die NATO muss sich nicht erweitern, vor allem nicht in den postsowjetischen Raum hinein. Was soll das? Die NATO muss keine Waffensysteme in die Ukraine verlegen. Und die NATO muss nicht unbedingt ihre Infrastruktur bis an die russische Grenze erweitern.
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán — man mag von ihm halten, was man will — hat ganz deutlich gesagt: Wir lassen keine US-Truppen in Ungarn rein. Wir haben NATO-Truppen in Ungarn: Das ist die ungarische Armee. Das Gleiche könnten auch Rumänien und Bulgarien machen. Damit würde ein ganz anderes Signal Richtung Moskau ausgestrahlt werden, als überall irgendwelche US-amerikanische Truppen zu stationieren. Hinzu kommen ja noch die von den USA gekündigten Abrüstungsverträge wie der ABM- und der INF-Vertrag, das nicht ratifizierte Rüstungskontrollabkommen, der A-KSE-Vertrag oder der jüngst gekündigte Open-Sky-Vertrag. Alle diese Maßnahmen haben das Misstrauen Moskaus geradezu geschürt.
Die jetzigen massiven westlichen Reaktionen zielen anscheinend auf die Existenz Russlands als Staat ab. Sind das schnelle Reaktionen auf diesen überraschenden Einmarsch oder sind es angesichts der Vorgeschichte lange vorbereitete Schritte?
Die westlichen Regierungen haben schon vor Wochen deutlich gemacht, dass es nie gekannte, ruinöse Sanktionen geben wird, sollte Russland mit Blick auf die Ukraine einen Vorstoß wagen. So etwas hat mehrere Wochen Vorlauf. Da gab es in den letzten Wochen offensichtlich auf EU-Ebene und in den USA Abstimmungen zwischen Washington und Brüssel über sehr harte Sanktionen.
Nun hat Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar, statt des Versuches, den zugespitzten Konflikt diplomatisch wieder in Richtung Frieden zu bringen, auf einen „großen Konflikt mit Russland“ eingestimmt. Das erinnerte mich daran, dass 2016 im „Weißbuch“ der Bundeswehr aus dem Bundesverteidigungsministerium Russland erstmals deutlich als Hauptfeind eingestuft wurde. Gibt es da eine Linie in diesen sechs Jahren? Hat sich da etwas zugespitzt, was schon lange angelegt war, diese jetzt offene Feindschaft?
Die SPD war in den letzten Wochen doch sehr unter medialem und politischem Druck der anderen Parteien sowie aus den USA mit Blick auf Nord Stream 2, mit Blick auf Waffenlieferungen in die Ukraine und mit Blick auf Gerhard Schröder. Da hat Kanzler Scholz den „Befreiungsschlag“ aus dieser Defensive gewagt und gesagt: „Jetzt gehen wir in die Offensive gegen die Russen. Wir können nicht weiter als Partei gelten, die Verständnis für die russische Seite hat.“ Das ist das eine. Das andere ist: Russland hat spätestens seit 2007 mit der Rede von Putin in München auf der Sicherheitskonferenz deutlich gemacht, dass die unipolare Weltordnung mit der Hegemonialstruktur nicht weiter akzeptabel ist, sondern dass man sich Richtung multipolare Welt bewegt.
Es wurde klar, dass Russland und andere Staaten bei der Gestaltung der globalen Ordnung ein Mitspracherecht haben wollen und dass nicht allein der Westen dem Rest der Welt seine Ordnung diktieren kann.
Die Aussage von der „regelbasierten Ordnung“ beschreibt die westliche Hegemonialordnung. Das ist nicht das Völkerrecht und ist nicht die internationale Ordnung, sondern das ist die vom Westen aufgedrückte Ordnung. In dem Moment, als Putin 2007 das in München gesagt hatte, kam schon der Aufschrei: Jetzt hat der Kalte Krieg 2.0 durch Putin begonnen. Spätestens 2008 war das Jahr, in dem die Zäsur stattgefunden hat: Der Georgienkrieg und die anschließende sicherheitspolitische Initiative des damaligen russischen Präsidenten Dimitri Medwedew. Diese erfuhr seitens des Westens ebenso eine absolute Ablehnung wie nachfolgende russische Initiativen, die auf Korrekturen der internationalen Ordnung abzielten, da der Westen Zugeständnisse an andere Akteure hätte machen müssen. Die Zäsur erfolgte nicht erst am 24. Februar 2022, das ist eine Mär.
Nun gehört zu den westlichen Reaktionen auf den russischen Einmarsch in die Ukraine das Verbot, das Abschalten des Zugangs zu staatlich finanzierten russischen Medien, bis hin zu den Angeboten von RT DE und SNA, dem deutschsprachigen Ableger von Sputnik. Wie schätzen Sie das ein? Was hat das mit Presse- und Meinungsfreiheit zu tun?
Ich finde das Abschalten von Medien, sowohl in Russland als auch im Westen, absurd. Wobei die staatliche Zensur in Russland wesentlich ausgeprägter ist — zumal mit der Androhung von Gefängnisstrafen. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, dass die Menschen sich informieren dürfen und können, wo sie wollen — dass dachte ich zumindest immer und das ist auch mein politischer Anspruch. Um ihre Meinungsbildung abrunden zu können, müssen Menschen in der Lage sein, von den diversen Medien aus diversen Ländern unterschiedliche Informationen aufzunehmen, sich auf dieser Grundlage ein eigenes Bild und eine eigene Meinung bilden zu können.
Wenn Medien abgeschaltet werden, dann ist der Bürger eines Landes, die Bürgerin eines Landes nicht mehr Lage, sich selbst ein abgerundetes Bild zu verschaffen. Betreutes Denken statt mündige Bürger, das scheint die Devise zu sein.
So handeln politische Entscheider, die ein obrigkeitsstaatliches Denken vertreten. Dass finde ich höchst problematisch — zumal im 21. Jahrhundert. Und gerade im Westen, wo die Meinungsfreiheit und die Informationsfreiheit zu den höchsten Gütern gehören, verfassungsrechtlich geschützt sind, finde ich solch ein Vorgehen unverantwortlich. Es zeigt aber auch die Schwäche der eigenen Argumente, wenn man es nötig hat, die eigene Öffentlichkeit vor „(Des-)Informationen schützen zu müssen“.
Welche Chancen für eine doch noch friedliche Lösung sehen Sie, gerade mit Ihrer Erfahrung als Bundestagsabgeordneter? Sie waren das ja zwei Legislaturperioden. Sie waren bei der Münchner Sicherheitskonferenz dabei und haben einige der Akteure, die auch jetzt aktiv sind, erlebt.
Das ist alles sehr schwierig. Bislang wird ja von beiden Seiten eskaliert. Die Russen bomben, die Ukrainer kämpfen um ihr Land. Der Westen liefert Waffen. Momentan läuft alles nach wie vor nach einem Eskalationsszenario, keine Deeskalation, von keiner Seite. Da ist alles möglich. Man darf nicht vergessen, dass nach der Militärdoktrin Russlands der Ersteinsatz von Atomwaffen denkbar ist, wenn die Staatlichkeit Russlands in ihren Grundfesten erschüttert wird. In diesem Kontext ist die Frage: Gilt das nur für militärische Maßnahmen mit Waffen gegen Russland oder gilt das auch für Sanktionen, die die Staatlichkeit bedrohen? Wenn Letzteres gilt, dann kann es am Ende sogar sein, dass bei einem Abwürgen, einem Ruinieren der russischen Staatlichkeit Russland Atomwaffen gegen den Westen einsetzt.
Das klingt alles nicht gut. Wie wird die Friedensbewegung bei den Ostermärschen darauf reagieren?
Das ist für mich eine große Frage, ob sie in der Lage ist, die Gründe, die Entwicklung dieses Konfliktes zu reflektieren oder ob sie dem folgt, was Medien und Politik vorgeben, den Konflikt isoliert auf die letzten zwei, drei Monate zu reduzieren. Die einen reduzieren diesen Konflikt auf die letzten zwei, drei Monate. Andere schauen sich an, was eigentlich seit vielen, vielen Jahren passiert ist: die Zurückweisung russischer Ansprüche mit Blick auf eigene legitime Sicherheitsinteressen, aber auch die Frage westlicher Kriege. Das ist völlig aus dem Fokus geraten.
Plötzlich wird die NATO schon als ein Friedensbündnis, als eine Friedensbewegung gesehen. Vermutlich wird der NATO in den nächsten Jahren der Friedensnobelpreis verliehen — würde mich tatsächlich nicht verwundern. Das ist ja absurd. Die USA als Führungsmacht der NATO haben die meisten Kriege des 20. Jahrhunderts zu verantworten, so gegen Vietnam, Irak, Afghanistan, Jugoslawien und so weiter und werden plötzlich als eine harmlose Großmacht dargestellt, die den Frieden verteidigt. Wenn eine Friedensbewegung nicht mehr in der Lage ist, das zu reflektieren, dann brauchen wir die Friedensbewegung nicht mehr.
Mit Dr. Alexander Neu sprach Tilo Gräser Mitte März.
Dr. Alexander Neu war von 2000 bis 2002 und 2004 Mitarbeiter der OSZE in der serbischen Provinz Kosovo. Von 2006 bis 2013 war er als Referent für Sicherheitspolitik der Bundestagsfraktion Die Linke tätig und selbst von 2013 bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages. Dort war er Obmann der Linksfraktion im Verteidigungsausschuss und stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss sowie Osteuropabeauftragter der Fraktion.
Redaktionelle Anmerkung: Das Interview erschien zuerst unter dem Titel „Dann brauchen wir die Friedensbewegung nicht mehr“ im Print-Magazin „ViER.“, Ausgabe 2/2022. Die aktuelle Ausgabe ist seit dem 12. April im gut sortierten Zeitschriftenhandel erhältlich. Online-Informationen zum Magazin gibt es hier.
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