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„Weder links noch rechts“

„Weder links noch rechts“

Wenn wir die Welt positiv verändern wollen, dürfen wir nicht länger auf überholte Paradigmen vertrauen.

Lieber Herr Müller!

Sie haben unbedingt recht! Wir müssen die Debatte über „weder links noch rechts“ führen! Vielen Dank, dass Sie sich um diese Frage bemühen. Ich möchte daher hier kurz zu Ihrem Artikel in den Nachdenkseiten, „Die Parole ‚Weder links noch rechts‘ begünstigt rechts, sie begünstigt die Neoliberalen und das Militär“ (1), Stellung nehmen.

Sie haben recht, zugleich aber irren Sie sich nach meiner Meinung auch in einem wesentlichen Punkt.

Worin haben Sie recht? Sie haben darin recht — und das schätze ich eben an Ihnen und an den Nachdenkseiten sehr — dass Sie auf der Seite der Menschen stehen, die ausgebeutet, ausgeplündert und entwürdigt werden. Und Sie haben darin recht, dass Sie auf der Seite von Frieden und gegen die zunehmende Bedrohung durch Krieg stehen. Und auch in der dritten großen Frage der Menschheit, der Zerstörung der Biosphäre durch das Wüten des „Kapitalismus“, haben sie recht, weil Sie das Problem sehen und die Ursachen bekämpfen wollen.

Wo könnten Sie da noch nicht recht haben? Auf den Punkt gebracht: Sie möchten die Bezeichnungen „links“ und „rechts“ unbedingt aufrechterhalten. Sie lehnen es ab, dass die Menschen aus der Rechts-Links-Fixierung heraustreten. Dabei denke ich — bitte erlauben Sie mir zu interpretieren —, dass ich in Ihren Texten diesbezüglich zunehmend eine positive Unsicherheit spüre.

In meinen Augen ehrt Sie das, weil man sehen kann, dass Sie offenbleiben. Dieser Haltung entspricht auch der Abdruck von 17 Leserbriefen (2), die alle mehr oder weniger klar machen, dass sich mit der Abgrenzung von der Rechts-Links-Fixierung auch etwas Positives, Neues entwickeln kann. Vielleicht bietet eben gerade diese neue Sichtweise große Chancen und macht uns keineswegs hilf- oder perspektivlos!

Sie sehen ganz richtig die Gefahr, dass eine Bewegung von zum Beispiel „rechten Kräften“ vereinnahmt wird. Aber schon allein das Spektakel am Reichstag am 29. August zeigt vor allem eines: Dieses Spektakel wurde — leicht durchschaubar — von der Politik und den Geheimdiensten im Auftrag der Regierenden veranstaltet. Damit gelang allerdings nur eine Vereinnahmung durch „rechte Kräfte“ in der von den „leitenden“ Medien veröffentlichten und daher solcherart gestalteten „öffentlichen Meinung“.

Eine solche Vereinnahmung gelingt hingegen keineswegs in einer Bewegung, die selbst denkt. Von „linken Kräften“ gibt es sowieso keine Bestrebungen, die Bewegung, die durch die Corona-Maßnahmen und die verordnete Irrationalität entstanden ist, zu „vereinnahmen“.

Austauschbare Etiketten

Hätten die Herrschenden aber auf die Hetze gegen die „Linken“ gesetzt, wie sie es Jahrzehnte lang machten, so hätte es genau den gleichen Effekt gehabt wie jetzt die Hetze, die auf der großteils inszenierten Dramatik der Gefahr von rechts — außerhalb der Regierung — aufbaut. Es fällt auf, dass in den Augen der Herrschenden das Etikett „links“ oder „rechts“ eben scheinbar beliebig austauschbar ist, wenn es darum geht, dass sie ihre eigene Herrschaftsposition mit den passenden Hetz-Narrativen sichern wollen.

Ich habe es bei Ihnen oft genug gelesen, ich weiß daher, dass Sie diese Taktik der Herrschenden kennen. Nachdem Sie auf die Gefahr der Vereinnahmung durch Neoliberalismus und Militär verweisen, schreiben Sie daher auch:

„Die aus meiner Sicht notwendigen Demonstrationen sollten bitte nicht mit der zitierten falschen Parole belastet werden.“ Und später: „Nach meinem Eindruck wird die überwiegende Mehrheit der Demonstrierenden zu Unrecht in diese Ecke gestellt.“

Ganz richtig!

Der entscheidende Punkt ist doch der: Jede Bewegung sollte sich generell nicht vereinnahmen lassen, außer von Zielen, die sie nach dem Prinzip „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst“ oder nach dem Satz: „Es kommt immer anders, wenn man denkt“ als richtig erkannt hat.

Ausgegrenzte Kritik

Meist sind die Vereinnahmungsversuche ja eben nichts anderes als ein Versuch der Herrschenden, die Kräfte, die sich gegen sie richten, zu spalten. Aber warum soll ich Ihnen das erzählen, wo ich es doch auch von Ihnen gelernt habe.

Wenn die Menschen durch die Verhältnisse in Aufruhr kommen, dann denken sie zu recht nicht über „rechts“ oder „links“ nach, sondern über die Verhältnisse selbst. Jene Verhältnisse, die sie ändern wollen und wozu sie, da sie ein Teil des Souveräns sind, absolut berechtigt, ja man könnte sogar sagen, wozu sie geradezu demokratisch verpflichtet sind.

Es ist doch dabei geradezu amüsant zu beobachten, wie sich die Dialektik vollzieht:

Die herrschende Politik und die leitenden Medien grenzen die Menschen aus, die die bestehenden Verhältnisse kritisieren.

Sie bezeichnen sie mit verächtlichen Begriffen, beschimpfen sie und beschwören dabei „politisches Bewusstsein“, indem sie gegen eine „Querfront“ polemisieren.

Was wird also mit all den Menschen sein, die so behandelt werden? Und es sind sehr Viele! Diese so behandelten Menschen werden auf noch viel größeren Abstand zu den Herrschenden gehen und noch klarer erkennen, dass die Verhältnisse geändert gehören! Und wieder werden sie dabei nicht an „links“ oder „rechts“ denken, weil es ihnen eben um die Verhältnisse selbst und den Kampf gegen die Herrschaft geht.

Offene Frage

Ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass Sie Ihrem vorletzten Buch nicht den Titel gaben: „Links ist immer richtig“. Nein, sie gaben dem Buch den ausgezeichneten Titel: „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst“. Noch besser empfinde ich den Titel Ihres neuen Buches: „Die Revolution ist fällig“. Respekt! Das ist ein Titel, der es auf den Punkt bringt!

Aber, wenn die Revolution fällig ist, so muss man unbedingt rechtzeitig die Frage stellen: Was soll denn bei der Revolution herauskommen? Und die zentrale Frage dabei ist wohl, wie soll eine neue Ökonomie aussehen? Wahrscheinlich haben Sie diese Frage in diesem, Ihrem neuen Buch, das ich noch nicht gelesen habe, direkt angesprochen.

Ich kann dazu noch nicht Stellung nehmen. Aber die letzten Jahrzehnte zeigten nach meiner Meinung sehr deutlich: Die Frage, wie eine neue Ökonomie aussehen soll, ist Vielen keineswegs klar. Ja, ich weiß, Sie beziehen zum Beispiel Stellung für ein Umlageverfahren zur Erlangung einer gesicherten Pensionsversorgung der Bevölkerung.

Absolut richtig! Und natürlich gibt es noch viele andere Punkte, an denen Sie und die Nachdenkseiten darlegen, wie eine gute und gerechte neue Ökonomie aussehen soll. Aber gilt das auch für die Grundfrage?

Was ist diese Grundfrage? Ich glaube, es ist eine Frage, die sich nach meiner Meinung die meisten Menschen — zumindest im Unterbewusstsein — stellen. Ich denke, diese Grundfrage ist die nach 170 Jahren Ideologiestreit noch immer offene Frage: Soll es einen „freien Markt“ geben, oder soll in der Ökonomie alles vom Staat geregelt werden? Oder gibt es andere Wege?

Berechtigte Furcht

Ja, Sie wissen und weisen darauf hin, dass die Ideologie vom „freien Markt“, wie wir sie heute erleben, in Wahrheit eine Ideologie der grenzenlosen Bereicherung durch eine diktatorische Oligarchie der Reichen und vor allem der Superreichen und eine soziale Entwurzelung großer Massen ist. Ganz richtig.

Aber viele Menschen haben auch Angst vor der anderen Seite der Medaille, und das ist gerade jetzt im Zusammenhang mit den diktatorischen Corona-Maßnahmen zu Recht sehr ins Bewusstsein gerückt: Sie wollen kein Diktat des Staates. Eines Staates, der schier unbegrenzt mächtig wird, wenn er Politik und Wirtschaft bestimmt. Diese Furcht vor dem totalen Staat ist ebenfalls äußerst berechtigt.

Welche Gefahr in dieser Art der Machtkonzentration liegt, konnte man schon in der Sowjetunion sehen. Und das ist wohlgemerkt kein platter Antikommunismus, denn mir ist klar: Wir dürfen keinesfalls vergessen, dass die bloße Existenz eines Modells, in dem „das Privateigentum an Produktionsmitteln“ abgeschafft worden war, schon half, den hiesigen Kapitalismus zu „zähmen“.

Auch bezüglich China gilt wohl: Wenngleich China auf der internationalen Bühne ein wichtiges, vornehmlich friedliches Gegengewicht zum Imperium USA darstellt und auch wenn China in den letzten Jahrzehnten in gewisser Weise durchaus Vieles in sozialen Fragen richtig gemacht hat, kann man sehr wohl am Beispiel Chinas auch sehen, welche Gefahr von einem großen Mangel an Demokratie in Wirtschaft und Staatsmacht ausgeht. Gerade die Corona-Zäsur, die entscheidend von China mitbestimmt wurde, wird Vielen hier zu Recht ein mahnendes Beispiel geworden sein.

Brennende Frage

Die Frage nach dem „dritten Weg“ ist offen. Sie brennt aber unter den Fingernägeln wie noch nie in der Geschichte!

Die meisten Menschen werden diese Frage nicht bewusst stellen, aber sie spüren, dass die alte ideologische Konfrontationsstellung — entweder Kapitalismus oder Kommunismus — nicht mehr ausreichende Antworten liefert. Diese Konfrontationsstellung ist aber zumindest historisch gesehen der Kern jeder „Rechts-Links“-Bewertung.

Die Menschen machen sich auf, einen neuen Weg zu suchen, auch wenn sie noch größtenteils in keiner Weise wissen, wohin dieser führt. Ich denke, die Abkehr vom Zeitalter der Ideologie-Konfrontations-Fixierung und die Hinwendung zum Prinzip „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst“ sowie zur Erkenntnis „Die Revolution ist fällig“ ist ein großer historischer Fortschritt, sofern ein richtiger neuer Weg gefunden wird.

Ich schlage vor — um nur einen Gedankenanstoß in die Runde zu werfen —, ein neuer, „dritter“ Weg sollte sich aus drei zentralen Forderungen herauskristallisieren:

  1. Strikte Obergrenze für jedes Einkommen — vor allem für Kapitaleinkommen! Ende der Bereicherungsökonomie.
  2. Jedes neu geschaffene Geld muss strikt und zur Gänze auf alle Menschen eines Währungsraumes aufgeteilt werden. Ende der Geldmacht.
  3. Demokratische Entscheidung über große Investitionen. Die „Investitionsmacht“ geht weder vom Staat noch vom großen Eigentum aus, sondern liegt in der Hand neu zu schaffender, durch Los bestimmter demokratischer Bürgerkomitees — in Anlehnung an das bewährte Geschworenensystem bei Gericht sowie Erfahrungen aus Island.

Ich fasse diese Orientierung unter der Überschrift 3rule2new1world zusammen.

Notwendige Offenheit

Es ist nicht verwunderlich, dass die Menschen, die nach einem guten Leben für die ganze Menschheitsfamilie suchen, sich nicht alle klar sind, wo die gesellschaftspolitische Reise hin gehen soll, welchen Systemwandel also die „fällige Revolution“ hervorbringen soll.

Und vor allem kommen die Menschen, die nun aus jeweils speziellen Gründen auf die Straße gehen, von verschiedensten Bildern her. Von verschiednen Bildern dessen, was sie bisher für „politisch gut“ hielten. Aber das ist ausgezeichnet! Warum? Weil die Fixierung der alten Bilder, die uns die heutige Welt ja gebracht hat, nur so aufgebrochen werden kann.

Und wenn wir persönlich mehr wissen sollten und die Unklarheiten beenden wollen, so können wir nur möglichst viel Aufklärung und Debatte betreiben.

Aber was erzähle ich Ihnen, Herr Müller. Genau das tun Sie ja seit Jahrzehnten mit Leidenschaft und Erfolg. Vielen Dank dafür!

Wenn die Menschen von den verschiedensten alten Bildern („rechts“ und „links“) kommen, dann sollten wir offen bleiben: Wer sagt, dass alle, die sich als „konservativ“ oder vielleicht sogar als „rechts“ einschätzen, für die Herrschaft von Ultra-Milliardären oder für die Kriegsvorbereitung und Aufrüstung oder für die bedenkenlose Zerstörung der Biosphäre sind?

Im Gegenteil, das ist äußerst unwahrscheinlich. Wer sagt, dass Gerechtigkeit zu verlangen „links“ und nur „links“ ist? Mir scheint viel mehr, dass auch sehr viele Menschen, die sich als „weder links noch rechts“ verstehen und selbst viele, die sich als „rechts“ verstehen, Gerechtigkeit und Demokratie wollen. Wir dürfen die Menschen nicht mit den Herrschenden verwechseln!

Entscheidender Punkt

Natürlich wollen auch jene, die ehrlich „links“ sind, Gerechtigkeit und Demokratie. Aber wer sagt, dass alle, die sich als „fortschrittlich“ oder vielleicht sogar als „links“ einschätzen, wirklich für Demokratie und Frieden einstehen? Haben wir historisch nicht schon oft genug das Gegenteil erlebt? Auch aktuell greifen so manche angeblich „linke“ Antifaschisten gerne mal in den Topf faschistoider Methoden — so absurd das auch klingt.

Sie selbst wissen, dass nicht bei allem, wo „links“ draufsteht, auch links drin ist. Auch Sie haben in ihrem ersten Artikel zu „Weder links noch rechts — also nirgendwo“ (3) selbst Beispiele gezeigt, wie hinter sogenannter „linker“, in Wirklichkeit aber „rechter“ Politik nur die Taktik der Herrschenden steckt. Hierzu gibt es bezüglich der Corona-Maßnahmen auch eine sehr gute Frage eines linken Kollektivs — um bei dieser Terminologie zu bleiben:

„Völlig unverständlich ist uns, dass führende Kräfte aus der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung den Lockdown von Anfang an befürworteten und erstrittene politische Rechte bei seiner Ankündigung an der Garderobe abgaben“ (4).

Wenn wir aus der Ideologie-Fixierung heraustreten, dann können wir sehen, dass es die Bewegung Occupy Wallstreet auf den Punkt brachte: Es geht um die 99 Prozent der Menschheit, die sich gegen eine Bereicherungsökonomie auflehnen.

Und hier kommt der entscheidende Punkt: Wir müssen sehr, sehr Viele sein, um unsere — vom Naturrecht und von der Demokratie her legitimierte — Macht gegen eine Oligarchie der Superreichen durchsetzen zu können. Wenn wir aber sehr Viele, viele hunderte Millionen sind, dann haben wir eine sehr gute Chance, tatsächlich zu einem Systemwandel zu kommen.

Notwendige Orientierung

Wir werden unter zwei Bedingungen aber niemals sehr Viele werden: Erstens, wenn wir uns weiter spalten lassen — so viele Abgleitflächen es dabei auch notwendigerweise immer geben mag, wenn wir offenbleiben wollen. Und zweitens — was noch bedeutender ist —, wir werden nicht Viele werden können, wenn wir keine klare Perspektive haben. Die Klarheit ist noch wichtiger als die Vereinigung, aber wir brauchen beides. Und beides wächst in wechselseitiger fruchtbarer Beeinflussung.

Zur Frage der Perspektive müssen wir sehr viel ausarbeiten und debattieren. Wenn wir aber erkennen, dass die Revolution fällig ist, so müssen wir eben wissen, wo die Reise hin gehen soll!

Zur Frage der Spaltung müssen wir erkennen, dass auch das angeblich historische Bildung zeigende Argument der „Querfront“ ein offensichtliches Spaltungsargument ist. Wer muss wohl die größte Angst vor einer Front haben, die quer durch alle Bevölkerungsschichten und Meinungen erkennt, dass wir die Herrschaft einer Oligarchie der Superreichen — die eine Bereicherungsökonomie nach oben gebracht hat — abschütteln müssen? Darauf muss ich keine Antwort geben, sie ist offensichtlich.

Also nur Mut! Bleiben wir bei unseren Erkenntnissen, dass die drei Fragen „Soziale Gerechtigkeit“, „Frieden und Abrüstung“ sowie „Schutz der Biosphäre“ zentral sind, aber schließen wir keine Menschen aus, die aus irgendwelchen Denkrichtungen kommen, sofern sie sich an die Menschenrechte halten, wie sie nach dem verheerendsten aller Kriege in einem kurzen Fenster der Vernunft ausformuliert wurden. Und öffnen wir geistig die Tür für eine neue, demokratische Ökonomie, was übrigens Anselm Lenz ganz richtig von Anfang an als zentralen Punkt des Protestes von NichtOhneUns vorschlug.

Mit herzlichen Grüßen
Bertram Burian


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.nachdenkseiten.de/?p=64670
(2) https://www.nachdenkseiten.de/?p=64912
(3) https://www.nachdenkseiten.de/?p=61106
(4) https://klartext-info.de/?p=805


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