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Was Wagenknecht zum deutschen Corbyn fehlt

Was Wagenknecht zum deutschen Corbyn fehlt

Jeremy Corbyn hat erfolgreich die Solidarität und den Optimismus beschworen. Wagenknecht und Lafontaine haben da noch eine Menge nachzuholen.

Wenden wir uns zunächst der organisatorischen Seite des Erfolgs zu.

Netzbasierter Straßenwahlkampf

Ein Freund von mir beteiligte sich an den „GOTV“-Aktionen („Get out the vote“) in Cambridge. 700 Leute, so berichtet er, seien alleine dort am Wahltag unterwegs gewesen, um Labourwähler zu den Wahllokalen zu mobilisieren und letzte Schwankende zu überzeugen. Auch in Croydon Central waren 7-800 Leute unterwegs, berichtet Sarah Jones, die ihren Wahlkreis damit von den Konservativen eroberte. Zuvor war Jones eine parteiinterne Gegnerin Jeremy Corbyns. Jetzt ist sie voll des Lobes für ihn und seine Unterstützer.

Im ganzen Land waren es Zehntausende, die in dieser furiosen Wahlkampagne in Aktion waren. Allein die Zahl der an ihren Haustüren erreichten Wähler am Wahltag selbst wird auf 1,2 Millionen geschätzt.

In einigen Wahlkreisen waren die Kampagnenbüros völlig überfordert mit der Anzahl der Freiwilligen. Das Material ging aus. Die Adresslisten waren abgearbeitet. In jeder Straße war bereits ein Team unterwegs.

Flugblätter, Infostände, Kundgebungen, Tür-zu-Tür-Wahlkampf - es sind diese altmodischen Methoden des Straßenwahlkampfs, ausgeführt von enthusiastischen Politikneulingen und einigen wenigen alten Hasen, die das Herzstück der Labourkampagne gewesen sind.

Apps, Apps, Apps für Corbyn!

Allerdings wurden sie fruchtbar und effizient gemacht durch alle Möglichkeiten des digitalen Zeitalters.

Etwa durch die App „My next marginal seat“.

Das Wahlrecht in Großbritannien weist den heiß umkämpften Wahlkreisen entscheidende Bedeutung zu. Denn jeder Wahlkreis entsendet nur den einen Kandidaten mit den meisten Stimmen nach Westminster. Ob ein Wahlkreis mit 50,3% gewonnen wird oder - wie der von Jeremy Corbyn in Islington - mit 75%, spielt am Ende für die Gesamtstärke der Fraktion keine Rolle.

Labour war hier hinreissend effektiv. Alleine von den Konservativen konnten 27 Wahlkreise erobert werden, 2 von den Liberaldemokraten und von der Schottischen Nationalpartei sogar 6.
Es gab eine App für Fahrgemeinschaften („Momentum Carpool“), um Aktivisten selbstorganisiert aus Labour-Hochburgen in umkämpfte Wahlkreise zu befördern.

Mit der App „Call for Corbyn“ konnten Aktivisten Telefonnummern potentieller Wähler ab- und anrufen oder zu diesem Zweck mit ihrem eigenen Laptop in ein Kampagnenzentrum kommen.

„Phone Banking“ war bereits bei der Obama- und später bei der Sanders-Kampagne höchst wirkungsvoll - und tatsächlich waren einige Topleute des Senators aus Vermont für die Corbyn-Kampagne tätig und führten 33 Schulungen durch.

(Jim Messina, Obamas alter Wahlkampfmanager, war dagegen für die Trump-Freundin Theresa May am Start.)

Momentum!

Wie ist es der Corbyn-Kampagne gelungen, die wachsende Begeisterung im Netz, das Teilen und Liken, in Offline-Aktivismus auf der Straße, in Betrieben, Universitäten, Stadtvierteln und der eigenen Nachbarschaft zu übersetzen?

Entscheidend hierfür ist „Momentum“.

Dieses Kampagnennetzwerk ist aus Corbyns erster Urwahlkampagne für den Labourvorsitz 2015 entstanden. Aktuell hat Momentum 20.000 Mitglieder in 150 Ortsgruppen, sowie 150.000 aktive Unterstützer im Netz.

Dass Momentum keine offizielle Parteistruktur ist, muss als entscheidender Vorteil gesehen werden. Durch diese eigenständige Struktur ist es möglich gewesen, eine effektive Wahlkampagne zu organisieren, während die nach wie vor von der Blair-Ära geprägte Bürokratie der Partei vielerorts feindselig gegen Corbyn und insgesamt wenig effektiv agierte.

In Wahlkreisen, die die Labourzentrale als hoffnungslos aufgegeben hatte, schlugen folglich die Aktivisten von Momentum auf. So konnten Sensationserfolge erzielt werden wie in Kensington oder Canterbury, die seit einem Jahrhundert uneinnehmbare Tory-Hochburg waren.

Dieser netzbasierte Straßenaktivismus ist der Gegenentwurf zur Brexit- oder Trumpkampagne. Diese hatten durch den Einsatz von Bots und automatisiertes Messaging eine digitale Breitenwirkung erzielt, die Wählerstimmungen durchaus beeinflusste, massenhaften Aktivismus aber lediglich simulierte.

Terror im Wahlkampf: Punktsieg Corbyn!

Die Dynamik der Corbyn-Kampagne schien stark gefährdet, als es zu einem schrecklichen Terroranschlag in Manchester mit 22 Toten kam. Die Parteien einigten sich darauf, den Wahlkampf für drei Tage auszusetzen.

Nach allen Erfahrungswerten hätten das Terrorthema und die daraus resultierende Angst den regierenden Konservativen helfen müssen - während drei Tage ohne Wahlkampf die Aufholjagd des Jeremy Corbyn empfindlich hemmen sollten.

Tatsächlich attackierten die Tories Corbyn nach drei Tagen frontal. Ein Video, das ihn als Terrorsympathisanten darstellte, wurde alleine im Netz über 6 Millionen mal gesehen. Die Presse fiel wütend über ihn her.

Corbyn konterte mit einer ausführlichen Rede zur Außenpolitik. Er stellte einen klaren Zusammenhang her zwischen der britischen Beteiligung an den Interventionskriegen und dem Terrorismus. Er ging in die Offensive und bettete das grauenvolle Ereignis in Manchester ein in eine friedenspolitische Botschaft.

Nach einem zweiten Terroranschlag in London ging Corbyn noch härter in die Offensive. Er verwies auf die Streichung von 20.000 Stellen bei der Polizei in Theresa Mays Amtszeit als Innenministerin, auf ihre strategische Partnerschaft mit Saudi-Arabien - und forderte ihren Rücktritt.

Es dürfte das erste Mal gewesen sein, dass Terroranschläge nicht der herrschenden Macht und dem Sicherheitsstaat geholfen haben, sondern eine friedensbewegte, Bürgerrechtsopposition stärkten.

Corbyn: Lob der Sturheit

Die Labour-Kampagne konnte allerdings ihre Wirksamkeit nur entfalten, weil es eine echte, spontane Dynamik gab. Und selbst frühere Corbyn-Gegner, wie Sarah Jones, wurden im Wahlkampf belehrt, dass diese Dynamik sehr viel mit der Überzeugungskraft der Person Jeremy Corbyn zu tun hat.

Wie wurde dieser Vegetarier, der keinen Alkohol trinkt und von den Medien unisono als unwählbar abgekanzelt wurde, zum Liebling der Massen?

Mitte der 90er Jahre habe ich Jeremy Corbyn einige Male in London erlebt. Er kam als Vertreter des linken Flügels der Labour-Party zu einer Konferenz namens „Marxism“, die von der trotzkistischen „Socialist Workers Party“ ausgerichtet wurde.

Damals ging die lange Nacht des Neoliberalismus ihrem Ende entgegen, so schien es. Jene Nacht, die mit Margaret Thatcher in Großbritannien begonnen hatte, sollte genau dort mit dem Wahlsieg der Labourparty unter Tony Blair einem neuen Aufbruch weichen.

Jeremy Corbyn stand natürlich weit links von Tony Blair, aber mit dem, was dann folgen sollte, hat er ganz sicher nicht gerechnet: Blair war, wie sich bald herausstellte, nicht das Ende des Neoliberalismus, sondern seine nächste Stufe. Mit Schröder, Blair und Co. wurde die europäische Sozialdemokratie zum parteipolitischen Vehikel des neoliberalen Dauerangriffs - und einer massiven Militarisierung der Außenpolitik.

Allein gegen die Blair-Mafia

Die Linken in der Labourpartei gerieten damals stark unter Druck. Es kam zu regelrechten Säuberungen. Dass Corbyn sie überstehen konnte, lag an seiner Verankerung in seinem Londoner Wahlkreis, den er wieder und wieder gewinnen konnte.

Corbyn nutzte seinen Parlamentssitz, um die „eigene“ Regierung zu attackieren: massiver Sozialabbau, Steuergeschenke für die Superreichen, Deregulierung der Finanzmärkte, der totale Schulterschluss mit Georg Bush, Kosovokrieg, Afghanistankrieg, Irakkrieg… über 600 Mal hat Jeremy Corbyn gegen die Blairregierung abgestimmt.

Man muss diese Phase der weitgehenden Marginalisierung des Jeremy Corbyn kennen, um sich seinen Aufstieg zu erklären. Denn in einer politischen Welt, die von Opportunisten geprägt wird, wurde seine einsame Prinzipienfestigkeit zu einem leicht überprüfbaren Alleinstellungsmerkmal.

Die Tories hielten dies für seine große Schwäche. 1,2 Millionen Pfund investierten sie alleine in negative Werbeanzeigen im Netz, die Corbyn persönlich diffamierten.

Das war vermutlich keine sehr gute Investition. Denn Corbyns Persönlichkeit wurde damit zum Thema und Leute begannen, dem Mann im Netz nachzuspüren.

Informierte sich nun eine muslimische Studentin 2017 über Corbyn, stieß sie vielleicht auf dessen Rede gegen den Irakkrieg 2003, im Hydepark, vor 2 Millionen Menschen. Oder ein schwarzer Jungwähler fand heraus, dass Jeremy Corbyn jahrzehntelang gegen die Apartheid in Südafrika zu Felde gezogen ist.

Ein ganzes Leben auf der richtigen Seite der Geschichte wurde im Netz nachvollziehbar und machte aus dem ewigen Outsider und isolierten Hinterbänkler jene Art Politiker, die man überall sonst vergeblich sucht.

Was Wagenknecht zum deutschen Corbyn fehlt

Theresa Mays Kalkül bei der Ausrufung dieser Neuwahl war nur zum einen Teil die vermeintliche Schwäche der Labourparty unter Jeremy Corbyn.

Die zweite Überlegung war, dass die Wähler der in ihrer Existenz gefährdeten, rechtspopulistischen Brexitpartei UKIP nahezu geschlossen an die Konservativen fallen würden, - wie auch ein Teil der Wählerschaft der schwächelnden Scottish National Party.

Entscheidend für den Erfolg der Labourparty ist gewesen, dass sie in die Wählerschichten der UKIP und der SNP massiv einbrechen konnte.

Davon träumt nun auch die LINKE in Deutschland. Die Frage, wie man AFD-Wähler nach links bekommt, beschäftigt insbesondere Sahra Wagenknecht erkennbar.

Von daher scheint der Hinweis wichtig, dass Corbyn diesen Erfolg ganz anders erreicht hat als Wagenknecht und Lafontaine das versuchen.

In deren Ansatz kommt alles einzig darauf an, „das Thema soziale Gerechtigkeit nach links zu holen“. Und gelänge dies und ginge es gerechter zu im Land, würden etwa rassistische Stimmungen geradezu automatisch einer „linkeren" Weltsicht weichen.

Diese Denke, die nicht erklären kann, warum rechtsextreme Parteien und rassistische Stimmungen im wohlhabenden Österreich oder in der Schweiz so stark sind, in der sozialen Katastrophe Griechenlands oder Spaniens aber weiterhin so schwach, ist im Kreis um Wagenknecht fest verankert.

Aus diesem Grund wird man auch weder von Wagenknecht noch von Lafontaine je etwas wirklich Substanzielles hören über Themen wie die Ehe für alle, die Brutalitäten des Asylregimes oder Sexismus.

Und es ist ein lebenslanger Fehler Oskar Lafontaines, rechte Stimmungen nach links abgraben zu wollen, indem man selber ein bisschen rechts blinkt, dadurch die rechte Dynamik entschärft und die LINKE in diesen Wählerschichten annehmbar macht.

Wie man rechte Protestwähler gewinnt…

Corbyn hat nun die soziale Ungerechtigkeit ins Zentrum seiner Kampagne gestellt. Allerdings gibt es eklatante Unterschiede.

Der Redebaustein, der regelmäßig die stärkste Publikumsreaktion auslöste, war Corbyns Forderung, Kunst und Kultur besser zu unterstützen, die flächendeckende Struktur der Theater und Konzertlocations zu fördern, Kürzungen im Kulturbereich rückgängig zu machen. Jedes Kind solle die Möglichkeit haben, Theater zu spielen oder ein Instrument zu erlernen, rief Corbyn unter tosendem Applaus.

Ähnlich war es bei der Sanders-Kampagne, die mit dem Thema Klimawandel / Umweltschutz euphorische Reaktionen ausgelöst hatte.

Für die Wagenknecht-LINKE sind dies abseitige Politikfelder, „Verliererthemen“, die die Mehrheit abschrecken und vom Hauptthema soziale Gerechtigkeit ablenken. Deshalb schweigt man lieber über Umweltthemen, um die Arbeiter bei Opel nicht als Wähler zu verlieren.

Sanders und Corbyn haben bewiesen, dass genau durch diese Erweiterung der sozialen Frage der Enthusiasmus speziell unter jugendlichen Wählern ausgelöst wird. Für diese Generation gehört es zum selbstverständlichen Lebensgefühl, dass die Menschheit bunt und divers ist, dass es queere Menschen eben gibt, dass die Umweltzerstörung eine katastrophale Zukunftsbedrohung ist usw.
Und ohne diesen Enthusiasmus der Jugend wäre Corbyns Erfolg undenkbar gewesen. Alleine am am letzten Tag der Wählerregistrierung schrieben sich 453146 Menschen unter 35 Jahren in die Wahlregister ein.

Das große Zelt der Solidarität

Jeremy Corbyn hat, wie zuvor Bernie Sanders, das große Zelt der Solidarität aufgemacht. Ihm ist es gelungen, die Vision einer solidarischen Gesellschaft, in der man sich gegenseitig hilft und respektiert, erlebbar zu machen.

Und sie machen einen Optimismus stark, der sagt: „Wir kritisieren nicht nur: wir greifen an und verändern die Welt. Wir schaffen das, alle zusammen!“

Corbyns Wahlkampf war durch und durch antirassistisch und sein lebenslanger Einsatz für diverse unterdrückte Gruppen wurde in jeder Rede deutlich.

Ja, es ging um Kürzungen im Sozialbereich, um die drohende Privatisierung des Gesundheitsystems. Aber er sprach auch gegen Mobbing und rief dazu auf, keine erniedrigende Sprache gegeneinander zu verwenden.

Und genau das war keine Schwächung seines Eintretens für soziale Gerechtigkeit. Es war sein Erfolgsrezept.

Corbyns Vegetarismus war ein Pluspunkt! Corbyns Eintreten für gleiche Rechte der Schwulen und Lesben war ein Pluspunkt!

Zudem denkt sich doch jeder nicht-behinderte Wähler, der Corbyn leidenschaftlich und kenntnisreich für die Belange behinderter Menschen Partei ergreifen hört: „Hm, wenn der sich um die so sehr kümmert, kümmert er sich bestimmt auch um mich. Der Mann meint das ernst, der weiß genau, welche Probleme wir haben…“

Die LINKE fährt demgegenüber eine unglückselige Arbeitsteilung. Wagenknecht greift am Thema soziale Gerechtigkeit und Außenpolitik wütend an und lässt alle anderen Themen links liegen. Den Antirassismus und den Kampf für gleiche Rechte überlässt sie derweil den Reformern um Dietmar Bartsch, und Umweltpolitik kommt bei der LINKEN kaum vor.

Schon Sanders zeigte, dass diese Kalkül grundfalsch ist. Und Corbyn zeigt es wieder. Diese alten Männer wurden zu Stars der Jugend, weil sie deren Lebensgefühl mit einer politischen Programmatik verbinden. Und dieses Lebensgefühl des 21. Jahrhunderts interessiert sich nicht mehr für die taktischen Spielchen der Politstrategen.

Die Sieger des 21. Jahrhunderts werden vielmehr die sein, die eine solidarische, nachhaltige Gesellschaft glaubwürdig, kämpferisch und optimistisch vertreten.


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