„Ich halte die Informationspolitik der Regierung und der sie beratenden Experten für mangelhaft und demokratiegefährdend.“ Das erklärt der Statistikwissenschaftler Gerd Bosbach mit Blick auf die Maßnahmen im Zusammenhang mit dem sich ausbreitenden Virus Sars-Cov 2 und der von ihm laut Weltgesundheitsorganisation WHO ausgelösten Krankheit Covid-19. Er sagt das in einem Interview, das am Freitag im Online-Magazin „Nachdenkseiten“ veröffentlicht wurde. Bosbach warnt, „dass der engstirnige Blick auf die angeblichen Infiziertenzahlen und das Hantieren mit den täglichen Steigerungen bei den Todeszahlen Angst verbreitet.“
Der Mathematiker Wolfram Meyerhöfer schreibt in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ): „Wer rechnen kann und ein Zahlenverständnis hat, ist dem Schwindel der Statistik nicht wehrlos ausgesetzt. Das erweist sich gerade in der Corona-Krise als nützlich.“ Meyerhöfer sieht „auch eine Krise der mathematischen Bildung“. „Wir sehen rasant steigende Infizierten-Zahlen, und diese Kurve ängstigt uns.“
Gezielte Angstmache?
Die Angst in der Bevölkerung wird laut Bosbach dadurch befeuert, „dass immer noch von Erkrankten und nicht korrekterweise von positiv Getesteten gesprochen wird“. Diese Linie ist im aktuellen Situationsbericht des Robert-Koch-Institutes (RKI) zu finden. Der kritische Statistiker erinnert an folgende Tatsache:
„Eine Infektion löst bekanntlich bei einer großen Mehrheit nur geringe oder gar keine Symptome aus, weshalb sie auch nicht getestet werden.“
Bosbach hatte in mehreren Büchern, zuletzt in „Echt gelogen“, beschrieben, wie mit Statistiken Realität falsch wiedergegeben und manipuliert wird. Dabei zeigte er an Beispielen, welche Interessen oftmals dahinterstehen. Bereits Ende März hatte er gegenüber den „Nachdenkseiten“ im Zusammenhang mit der gegenwärtigen ausgerufenen Corona-Pandemie an die „sehr große Angst vor der Schweinegrippe“ 2009 und deren Hintergründe erinnert.
Im neuen Interview zeigt er sich „nach wie vor überrascht, woher die politischen Entscheider die Sicherheit für die Richtigkeit ihres Vorgehens hernehmen, ohne die Zahl der Infizierten in der Bevölkerung zu kennen“. Sie würden offenbar ihre Maßnahmen und das Festhalten an denselben auf die Zahl der positiv auf das Corona-Virus Getesteten stützen. „Das aber ist eine Größe, die extrem von der Anzahl der durchgeführten Tests abhängt.“
Entscheidungen ohne harte Fakten?
Statistiker Bosbach zeigt sich „schockiert“, dass das als Entscheidungsgrundlage genommen werde. Er stelle die Maßnahmen wie das am 22. März verkündete Kontaktverbot „nicht per se in Frage. Es muss aber nachvollziehbar sein, dass diese auf Grundlage harter, gesicherter Fakten getroffen werden und nicht nur auf scheinbar objektive Fakten.“
Bosbach hebt hervor, dass die positiv Getesteten nur „eine kleine, nicht repräsentativ ausgewählte Gruppe“ umfassen. Das Problem sei, dass nur Menschen mit deutlichen Symptomen getestet werden. Würden mehr von ihnen getestet, steige erwartungsgemäß die Zahl der Infizierten. Aus diesen Ergebnissen ließe sich nicht ermessen, „wie sehr das Virus in der Gesamtbevölkerung bereits verbreitet ist, noch in welchem Tempo es sich verbreitet“.
Der Experte meint, dass auf Grundlage der verdreifachten Zahl der Teste auf 355.000 nur der etwas überproportionale Anstieg bei positiv Getesteten „als Tempo der Übertragung interpretierbar“ sei. Das wirke aber „weit weniger erschreckend. Wie viele aller Menschen in Deutschland an Covid-19 erkrankt sind oder vom Erreger befallen sind, das ist aus diesen Zahlen leider überhaupt nicht ableitbar.“
Aber: „Es sind Zahlen, die Kontaktsperren und Geschäftsschließungen legitimieren“, wie Meyerhöfer in der FAZ schreibt. Er arbeitet als Mathematik-Didaktiker an der Universität Paderborn.
Warum keine repräsentativen Teste?
Bosbach kritisiert außerdem, dass es bisher keine repräsentativen Testungen gibt, die helfen könnten, genauer zu ermitteln, wie weit das neue Corona-Virus verbreitet ist. Ebenso wundert er sich, dass erst auf Initiative des Virologen Hendrick Streeck aus Bonn der „Hotspot“ im Landkreis Heinsberg (Nordrhein-Westfalen) untersucht wird. Allerdings lasse sich die Situation dort nicht auf ganz Deutschland hochrechnen (1).
Eine repräsentative Test-Stichprobe der Bevölkerung fordert auch Meyerhöfer. Dabei müsse der Krankheitsverlauf der positiv Getesteten verfolgt werden. Die Infektionsrate sei „gar nicht die zentrale Frage“, meinte er. „Zu fragen ist, ob es eigentlich schlimm ist, wenn viele Menschen mit Corona infiziert sind.“
Eine hohe Anzahl von Infizierten sei „genau dann schlimm, wenn damit eine hohe Anzahl an Arztbesuchen oder an durch Corona Gestorbenen einhergeht.“ Doch es werde öffentlich nicht gefragt, wie viele Infizierte ernsthafte medizinische Hilfe benötigen. „Und wie hoch ist die Mortalitätsrate, also die Rate der Corona-Infizierten, die durch Corona sterben?“
Warum wird ungenau gezählt?
Meyerhöfer verweist auf den statistischen Umgang mit den Verstorbenen: „In der statistischen Praxis wird ein Mensch, der mit Corona stirbt, als ein an Corona Gestorbener gezählt. Ob er an Corona gestorben ist, geht daraus nicht hervor.“ Der „haarspalterisch“ wirkende Unterschied habe aber konkrete Folgen: „Wenn die Anzahl der Corona-Toten in Italien über Existenzen von Tagelöhnern und Geschäftsleuten in Deutschland entscheidet, wird sie aber plötzlich existentiell.“
Selbst das italienische Nationale Gesundheitsinstitut ISS (Istituto Superiore di Sanità https://www.iss.it/) spreche von „Covid-19-Positiven“, „also von Menschen, die mit Corona gestorben sind“. Medien und Politik in Deutschland würden aber erklären, dass diese Menschen an Corona gestorben seien. Das RKI spreche in seinen Berichten von „Todesfällen in Zusammenhang mit Covid-19-Erkrankungen“.
Meyerhöfer dazu: „Das dürfte daran liegen, dass es in vielen Fällen gar nicht eindeutig möglich ist, anzugeben, woran ein Patient gestorben ist.“ Das Institut solle in seinen Berichten auf seine ungenaue Zählweise der Vorerkrankungen der Verstorbenen hinweisen.
Verschweigt das RKI etwas?
Bosbach wirft dem tonangebenden RKI vor, die Öffentlichkeit nicht aufzuklären, wie es zu seinen veröffentlichten Zahlen kommt. Das Institut untersteht dem Bundesgesundheitsministerium untersteht und wird derzeit von dem Tiermediziner Lothar Wieler geleitet. So werde nicht erklärt, warum erst zweimal die Zahl der Testungen mitgeteilt wurde.
Aber: „Es reicht nicht, sie in irgendwelche Lageberichte einzubauen, die kaum einer liest. Publik wurden die Zahlen erst dank des Recherche-Eifers von Journalisten.“ Erst Nachfragen von Paul Schreyer hatten dazu geführt.
Für den Statistiker ist die Frage, warum die Bundesregierung und das RKI so vorgehen. „Schließlich wird ja zu jeder Gelegenheit betont, die Menschen mögen nicht in Panik verfallen. Und trotzdem hält man genau die Zahlen zurück, die zu einer Beruhigung beitragen könnten und setzt öffentlich immer noch die Infiziertenzahl mit der wachsenden Zahl der positiv Getesteten gleich.“
Bundesregierung einseitig beraten?
Meyerhöfer kritisiert, dass die politischen Entscheider wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn nicht erklären, warum ihre Berater bestimmte Positionen vertreten und sie deren Ratschlägen folgen. Es gebe „auf keinem wissenschaftlichen Gebiet einen Konsens der Fachleute — außer wenn Gremien einseitig besetzt wurden. Die Fachwissenschaften leben vom Streit, und die Politik hat die Pflicht, offenzulegen, wie sie innerhalb dieses Streites zu ihren Entscheidungen gekommen ist.“
Statistik-Experte Bosbach betont: „Wir müssen die Fakten für derart folgenschwere Entscheidungen kennen, statt die Menschen mit unpassenden Zahlen, wie der Zahl der positiv Getesteten, in Angst und Schrecken zu versetzen.“ Für Bosbach können solche harten Maßnahmen nur ergriffen werden, wenn sie mit „harten Fakten“ begründet werden können. Denn: „Nicht dass wir später sagen müssen, die meisten Opfer entstammen der Therapie, nicht der Krankheit.“
Er erwarte von den bundesdeutschen Medien und Journalisten „mehr kritische Distanz zu dem, was an falschen und wirren Zahlen kursiert, auch von der Regierung und ihren Beratern“. So dürften alle Verstorbenen mit Corona-Nachweis nicht wie bisher üblich und vom RKI vorgegeben als „Corona-Tote“ bezeichnet werden.
Besserer Umgang mit Risikogruppen möglich?
Bosbach verweist auf die sozialen Folgen der Maßnahmen: „Demenzkranke Menschen in Heimen werden jetzt von maskierten Pflegern möglichst körperlos betreut. Das wirft die Betroffenen völlig aus der Bahn bis hin zur Gefahr, daran zu sterben. Solche Härten gibt es jetzt zuhauf.“
Der 66-Jährige warnt außerdem vor „Altersrassismus“ in der Corona-Krise: „Alte Menschen sind nicht häufiger infiziert und somit als Risiko zu meiden, sondern alte Menschen sterben nach einer Infektion häufiger. Alte auszugrenzen nützt den Jungen gar nichts.“ Jüngere würden das Virus besser wegstecken, wie die bisher bekannten Fallzahlen zeigen würden.
Meyerhöfer äußert sich ähnlich und verweist auf ein mögliches „Alten-Bashing“. Laut aktuellem RKI-Bericht sind 86 Prozent der mit Corona Gestorbenen über 70 Jahre alt. Doch statt gezielter Beschränkungen für Ältere sei ein anderer Weg möglich: Die Gefährdeten der sogenannten Risikogruppen könnten aufgrund der realen Zahlen „ihren Risikograd selbst einschätzen und selbst eine Entscheidung über ihre Kontaktdichte treffen“. Der Mathematiker hat den Eindruck, dass ältere Menschen sich bereits vor der Kontaktsperre und ohne staatlichen Druck ansteckungsmindernd verhalten hätten.
Angstgetriebene politische Entscheidungen?
Bosbach und Meyerhöfer kritisieren die unklaren Datengrundlagen dafür, wann Bund und Länder die Beschränkungen wieder lockern oder aufheben werden. „Offenbar sind Entscheidungsträger vorrangig von der Angst bestimmt, dass sie für Tote verantwortlich gemacht werden“, so der Mathematiker aus Paderborn.
„Getrieben werden sie dabei vom Fluch der großen Zahlen. Egal wie viele Grippetote es in den letzten Jahren gab, jeder einzelne Grippetote dieses Jahres wird schwer auf den Schultern der Ministerpräsidenten lasten.“
Meyerhöfer fordert eine offene und nachvollziehbare Kosten-Nutzen-Rechnung und nennt dafür als Beispiel: „Wie viele (echte) Tote verhindert man, wenn die Friseure geschlossen bleiben — und was kostet das?“ Nach der Corona-Krise müsse nachgerechnet werden, ob es nicht billiger sei, mehr Intensivbetten vorzuhalten, als aus Angst vor zusammenbrechenden Krankhäusern das öffentliche Leben lahmzulegen. Es könne auch sein, dass staatlich betriebene Krankenhäuser langfristig kostengünstiger sind. „Es darf wieder gerechnet werden“, so der Mathematiker.
Redaktionelle Anmerkung: Der Beitrag erschien zuerst auf SputnikNews.
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