In den letzten dreißig Jahren hat die westliche ökonomische Linke auf beiden Seiten des Atlantiks eine vernichtende Niederlage erlitten. In Großbritannien und den USA war diese Niederlage hausgemacht und Resultat der Politik Thatchers und Reagans in den 1980er Jahren. Auf dem europäischen Kontinent ist dafür vor allem die EU-Bürokratie verantwortlich, deren Direktiven und Budgetregeln das „europäische Sozialmodell“, in Vorbereitung auf die transatlantische Partnerschaft TTIP, immer mehr zerstören. Die gewählten Politiker kollaborieren mit diesem Prozess und täuschen Hilflosigkeit vor. Die „Arbeiter“-Parteien Europas kümmern sich nicht mehr um die Arbeiter und die „sozialistischen“ Parteien haben mit Sozialismus nicht das Geringste mehr im Sinn. In den USA hat die Demokratische Partei den Sozialreformismus des New Deal längst aufgegeben. Eine bestimmte Sorte von „Linken“ besteht zwar weiterhin und geriert sich als weitherzig und progressiv, aber es ist nicht mehr die alte sozialdemokratische Linke, die für Maßnahmen zur Förderung wirtschaftlicher Gleichheit eintrat. Statt mit Gleichheit befasst sich die neue soziale Linke lieber mit Vielfalt und dem „Recht auf Anderssein“.
Natürlich ist es so, dass Menschen verschieden sind. Es gibt keinen Grund, das als ein „Recht“ zu betrachten. Es ist einfach eine Tatsache. In einer anständigen, gerechten und vernünftigen Gesellschaft wären die Menschen einfach ganz selbstverständlich verschieden und niemand würde darum großes Aufheben machen. Aber heute ist „Identität“ zu einer Hauptsorge geworden.
Die alte Spaltung zwischen Rechts und Links, zwischen Konservativ und Progressiv (oder, in den USA, „Liberal“) hat sich in vielerlei Hinsicht zu einem historischen Kompromiss zwischen wirtschaftlichem Dogma und sozialer Doktrin entwickelt. Das wirtschaftliche Dogma der Rechten ist nicht konservativ in irgendeinem bedeutsamen Sinn. Es konserviert gar nichts, sondern ist zerstörend für jede stabile Form von Existenz. Es postuliert die Herrschaft der Märkte, womit natürlich die Finanzmärkte gemeint sind. Aber selbst die politischen Parteien Europas, die sich als „links“, „liberal“, „progressiv“ oder gar „sozialistisch“ bezeichnen, haben ihre Programme inzwischen weitgehend auf die Forderungen der „Märkte“ abgestimmt, vorgeblich, um „Investitionen anzulocken und Arbeitsplätze zu schaffen“ (nur dass die Arbeitsplätze nicht realisiert werden). Die bestehende Wirtschaftsordnung wird als logisch, wissenschaftlich fundiert und unausweichlich betrachtet. Obwohl die herrschende Wirtschaftslehre alles andere ist als eine exakte Wissenschaft, wird so der Eindruck vermittelt, die gegenwärtige Wirtschaftsordnung folge einem Naturgesetz.
Aber für die Linke gibt es einen Trostpreis, nämlich die ideologische Hegemonie im emotionaleren Bereich der menschlichen Beziehungen, besonders dem der „Menschenrechte“. Nach ihrer kompletten Niederlage in der wirtschaftlichen Arena darf die Linke nun die dominante gesellschaftliche Doktrin definieren, die auf den Konzepten Multikulturalismus, Sorge um Minderheiten und Antirassismus basiert. In den USA hält man die Bürger an, Regierungen anderer Länder fast ausschließlich danach zu beurteilen, wie sie prowestliche Dissidenten oder ausgewählte Minoritäten behandeln. Andere Vorzüge oder Mängel, zum Beispiel im Hinblick auf die Bildung und die materielle Versorgung der Bevölkerungen, sind nur von nebensächlichem Interesse. Die US-Unterhaltungsindustrie schafft eine imaginäre Welt, die diese Doktrin zelebriert und die Revolte im eigenen Land in künstlerische Sackgassen bugsiert. Ein Großteil der Rap-Musik etwa stachelt junge afroamerikanische Männer zur Auflehnung gegen die Autoritäten auf, aber in der realen Welt muss ein junger Afroamerikaner sich nicht einmal auflehnen, um zum Opfer tödlicher Polizeigewalt oder lebenslang ins Gefängnis gesperrt zu werden.
Seit die westlichen Führer sich der Illusion verschrieben haben, die Prosperität ihrer Länder auf Dienstleistungen statt auf materieller Produktion aufzubauen, hat selbst die Linke die industrielle Arbeiterklasse vergessen. In den 1970ern verloren viele radikale Linke allmählich das Interesse an der Arbeiterklasse als „revolutionärem Subjekt“, da sie nicht die sozialistische Revolution gemacht hatte, die damals eine schwelgerische Massenillusion war. So verlagerte sich ihr Fokus auf – zunächst als effektivere „Subjekte der Revolution“ angesehene – Identitätsgruppen wie Studenten, Frauen oder Schwule. Daraus ist seitdem eine generelle Konzentration der Linken auf „Identitätsgruppen“ aller Art geworden.
Der Multikulturalismus sieht die Gesellschaft als Mosaik von „Identitäten“ statt von Klassen. Aber diese Klassen existieren dennoch weiterhin. In den meisten westlichen Ländern und besonders in den USA hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich enorm erweitert. Die politische Macht ist mehr denn je ganz oben, bei den Ultrareichen, den Großkonzernen und den Banken, konzentriert. Es gibt keine einzige etablierte politische Kraft, die die Interessen der Unterschicht verteidigt und versucht, der wachsenden Ungleichheit zwischen den Klassen entgegenzuwirken. Die Occupy-Bewegung definierte die herrschende Klasse als das oberste Prozent und behauptete, die restlichen 99 Prozent zu repräsentieren. Sie wurde am Ende ins Abseits gedrängt. Die sozial akzeptierte Linke dagegen ist in erster Linie um die Achtung von Minderheiten, nicht um das Wohlergehen der Mehrheit besorgt.
Als die Clinton-Administration in den 1990er Jahren begann, das Erbe des New Deal zu zerstören, entstand der Multikulturalismus als soziales Ideal. Er ist im Wesentlichen eine Mischung aus europäischer Ideologie und amerikanischer Realität.
Die politische Integration Europas hat sich in ein Musterbeispiel für wirtschaftliche Globalisierung verwandelt. Aber sie hat als etwas anderes begonnen: Sie wurde seinerzeit als endgültige Ablehnung von Nationalismus und Krieg präsentiert und kam in erster Linie durch die Versöhnung und Partnerschaft von Frankreich und Deutschland zustande – Ländern, die einander in etlichen Kriegen immer wieder zerstört hatten. Dass die nationale Souveränität an europäische Institutionen übergeben wurde, wurde als notwendiges Heilmittel gegen den Nationalismus gerechtfertigt, den man für die Kriege verantwortlich machte, und so wurde Westeuropa wie selbstverständlich zum Zentrum der antinationalistischen Ideologie, die sich aus der Feier des „Multikulturalismus“ speiste.
Die Propagierung des Multikulturalismus hat viel mit der nicht enden wollenden Fixierung des Westens auf das lange, von Hitler beherrschte Jahrzehnt der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu tun. Es scheint, als seien alle Werte für immer in den Jahren zwischen Hitlers Aufstieg zur Macht 1933 und seinem Fall 1945 verankert worden, und als müsse diese Periode auf ewig für alles, was vor sich geht, der entscheidende Referenzpunkt bleiben. Der Multikulturalismus ist der rechtschaffene Pol eines säkularen Manichäismus. Der böse Pol gruppiert sich um den ideologischen Kern des Nazismus: um Nationalismus, Rassismus und den Ausschluss anderer. Unter dem Einfluss eines zunehmend religiösen Gedenkens an den Holocaust, das die Tendenz hat, alle anderen Aspekte des Zweiten Weltkriegs in den Hintergrund zu drängen, wird der Antisemitismus der Nazis vor allem einem mehr oder weniger spontanen „Hass auf alle, die anders sind“ zugeschrieben. Das ist sehr fragwürdig, da Hitlers Antisemitismus in erster Linie eine extreme, hysterische Reaktion auf sehr spezifische Ereignisse war, nämlich Deutschlands demütigende Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Aufstieg des Bolschewismus in Russland.
Diese Folge von Ereignissen erlebte Hitler als für Deutschland katastrophal. Aufgewachsen im Milieu des politischen Antisemitismus Österreichs, schrieb er sie den feindlichen Machenschaften des internationalen Judentums zu. Wenn man dafür sorgen möchte, dass die Geschehnisse der Hitlerzeit sich nicht wiederholen, sind Mahnreden wider den „Hass auf alle, die anders sind“, keine wirkliche Hilfe. Sie sind vielmehr Ausdruck einer Angst vor Wirkungen, die die Ursachen übersieht.
Schuldgefühle wegen der Behandlung der Juden während des Zweiten Weltkriegs bilden den emotionalen Kern der westeuropäischen Tendenz, jede nationale Mehrheit permanent zu verdächtigen, sie unterdrücke die Minderheiten oder wolle dies zumindest tun. Und beinahe jeder Machthaber über eine widerspenstige Minderheit kann in Verdacht geraten, einen „Genozid“ in Erwägung zu ziehen (1).
Das neben Umweltthemen wie dem Widerstand gegen Gentechnik praktisch einzige Thema, das in Europa zu einer aktiven Mobilisierung der Linken führt, ist die Verteidigung illegaler Einwanderer. Für einige kleine, ultralinke anarchistische Gruppen besteht das langfristige Ziel in einer Welt ohne Grenzen, in der jeder frei ist, überall hin zu gehen und in der die nationalen Grenzen ebenso wie die Nationalstaaten verschwunden sind. Diese Gruppen betrachten sich selbst als radikal antikapitalistisch, doch leider ist ihr Ideal identisch mit dem der kapitalistischen Globalisierer, denen viel klarer ist, dass bei einem Wegfall der Nationalstaaten die privaten Konzerne und Finanzinteressen den Rest der Welt gänzlich ungehemmt beherrschen würden. Der Unterschied zwischen den Anarchisten und den kapitalistischen Globalisierern liegt in der Wahrnehmung der Kräfteverhältnisse, die von ersteren ignoriert werden, während letztere sie aktiv gestalten.
Das multikulturelle Ideal der Globalisierung würde jedes Land in einen Mix von Identitätsgruppen verwandeln, von denen jede sich über die Grenzen hinweg erstrecken und mehr Loyalität zu sich selbst und ihrem Umfeld empfinden würde als zu irgendeinem Staat. Dieser Zustand wird nicht eintreten und wird nicht einmal bewusst geplant, entspricht aber der inhärenten Logik etlicher kapitalistischer Strategien und vieler anarchistischer Träume. Kurzfristig würde dies zur Untergrabung der nationalen Loyalität durch verschiedene Gruppenloyalitäten und zur Schwächung der Legitimität der Mehrheiten durch privilegierte Aufmerksamkeit für Minderheiten führen. Kulminationspunkt wäre ein Weltreich aus vielen geografisch zerstreuten Stämmen, das ein wenig wie eine gigantische Kopie früherer Imperien wie der multiethnischen Reiche der Habsburger oder der Osmanen aussehen würde. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass ein solches Modell früher oder später zu Konflikten zwischen den Gruppen führt, weil einige von ihnen die anderen einer unfairen Dominanz beschuldigen oder die Bräuche und die Religionen zu unterschiedlich sind. Dies führt dann zu Abspaltungsbewegungen, die sich in separate Territorien absondern wollen.
Doch der Kern des Ideals besteht darin, die ganze Welt gleich zu machen, indem jedes Land in eine Mischung von Unterschieden verwandelt wird.
Dieser Artikel stammt aus dem aktuellen Buch von Diana Johnstone, das wir zur Lektüre empfehlen:
Quellen und Anmerkungen:
(1) Es sei denn es handelt sich um befreundete Herrscher wie in Saudi-Arabien oder Bahrain, die praktisch nie als „Diktatoren“ bezeichnet werden, obwohl in beiden Staaten insgesamt die Mehrheit vom politischen Leben ausgeschlossen ist.
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