Herr Tilgner, Sie waren einer der prominentesten deutschen Auslandskorrespondenten, haben vor einigen Jahren aber mit dem Journalismus im Land gebrochen und sind, was die Arbeit angeht, in die Schweiz ausgewandert. Die Eingriffe in Ihre Arbeit waren für Sie nicht länger hinnehmbar, wie man hört. Wie kam es dazu? Was war das Problem?
Es gab ein Grundproblem und einen Auslöser. Letzterer war eine eigentlich banale Geschichte: Am 18. August 2007 wurde mittags die Deutsche Christina M., die für die Organisation Ora International in Afghanistan arbeitete, aus einem Restaurant in Kabul entführt. Wie gewünscht habe ich am selben Abend für das »heute journal« des ZDF einen kurzen Beitrag gefertigt. Doch anders als vor allem die Kollegen der konkurrierenden Privatsender habe ich nicht über eine Verfolgungsjagd der Polizei berichtet, bei der ein unbeteiligter Taxifahrer erschossen wurde. Mir war bedenklich, dass die angebliche Verfolgungsjagd erst zwanzig Minuten nach der Tat begann.
Am nächsten Morgen bei der Bestellung des Folgestückes musste ich die Kritik schlucken, die »Verfolgungsjagd« nicht erwähnt zu haben. Dass die Geschichte hinten und vorne nicht stimmen konnte und offensichtlich inszeniert war, um die afghanische Polizei in ein gutes Licht zu setzen, stand für mich relativ schnell fest. So hatte mich der Geheimdienstchef von Kabul am Tag nach der Tat vor genau das Haus bestellt, in dem die Entwicklungshelferin gefangen gehalten wurde, was zu dem Zeitpunkt offiziell nicht bekannt war, erschien dann aber nicht zum vereinbarten Termin im von der Polizei komplett abgeriegelten Viertel.
Eine Nacht später wurde die Geisel befreit. Drei der Entführer versteckten sich im Garten des Nachbarhauses und ließen sich dort widerstandslos festnehmen. Offiziell hieß es, die Entführer hätten ein Schreiben mit ihren Forderungen beim afghanischen Privatsender Tolo abgegeben und wären anschließend von der Polizei bis zum Versteck der Entführten verfolgt worden. Dadurch sei es gelungen, den Schlupfwinkel der Täter zu ermitteln.
Dass ich in meinem Bericht über die »Befreiung« die Polizei nicht gelobt hatte, wurde von der »heute journal«-Redaktion kritisiert, ohne dass ich dazu befragt worden war. Dies ist zwar ein durchaus normales Vorgehen, da die meisten Berichte bewertet werden, ohne dass deren Verfasserinnen oder Verfasser beteiligt sind. Für mich war es jedoch ein Grund, aus der Haut zu fahren, als mir nachmittags die Kritik mitgeteilt wurde. Und dann blieb auch noch ein für den Morgen des nächsten Tages angekündigter Anruf aus Deutschland aus, der die Sache hätte klären sollen.
In diesem Moment war mir klar, dass für mich nur noch die Kündigung infrage kam. Denn schon damals verfügte ich über Indizien, dass es sich tatsächlich um eine inszenierte Entführung gehandelt hatte, um die afghanische Polizei in ein gutes Licht zu setzen. So bot sich beispielsweise ein junger, perfekt Deutsch sprechender Afghane deutschsprachigen Privatsendern als Interviewpartner an, der die Entführung beobachtet haben wollte.
Dagegen erhielt der Besitzer des Schnellrestaurants, der die Entführung erlebt hatte, von der Polizei ein Verbot, Interviews zu geben. Erschwerend kam für mich hinzu, dass die afghanischen Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung der laufenden Entführung zweier deutscher Ingenieure vollständig versagten.
Für die Kritik, die Polizei nicht gelobt zu haben, fehlte mir jedes Verständnis. Im Gegenteil, ich war unangenehm berührt, weil Deutschland nach dem Sturz der Taliban-Regierung die Aufgabe übernommen hatte, die vollständig zerrüttete Polizei Afghanistans wiederaufzubauen, und bei dieser Aufgabe als sogenannte »lead nation« vollständig gescheitert war.
Die marode afghanische Polizei zu loben war für mich abwegig, weil dies in meinen Augen einem verkappten Lob deutscher Afghanistanpolitik gleichgekommen wäre.
Mein Unmut über die Kritik an meiner Berichterstattung war auch deshalb so groß, weil ich mich schon länger in den Möglichkeiten beschnitten fühlte, als für die Afghanistanberichterstattung verantwortlicher Korrespondent das Scheitern des Westens und auch Deutschlands in Afghanistan aufzuzeigen. So wurde ich regelmäßig nach Bagdad geschickt, wenn ein Kollege aus Mainz in Afghanistan affirmative Berichte über den Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch fertigte.
Dass ich später vom deutschen Botschafter in Kabul erfuhr, mein Telefon sei in der fraglichen Zeit abgehört worden, und dass ich den Polizisten, der wegen der Verfolgungsjagd ausgezeichnet wurde, nicht interviewen durfte, bestätigte meine Einschätzung. Erst später erfuhr ich, dass ich im Auswärtigen Amt in Berlin als nicht vertrauenswürdig und damit als nicht zu unterstützender Journalist gewertet wurde.
Doch die Kritik an meiner Berichterstattung über die Entführung war nur der Auslöser. Das eigentliche Problem war grundsätzlicher: In den deutschen Medien wurde das Scheitern des Westens im Mittleren Osten – also in Irak und Afghanistan – schöngeredet. Anstatt die jährlichen Bundestagsdebatten über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan mit kritischen Berichten von vor Ort zu begleiten, wurden jene Debatten wiedergegeben, in denen das Auftreten der deutschen Soldaten fast ausschließlich positiv dargestellt wurde. Berichterstatter, die Bundeswehrsoldaten zu Helfern stilisierten, wurden sogar vom Einsatzführungskommando in Potsdam gesponsert.
Dadurch blieben die Darstellungen über den Militäreinsatz der Streitkräfte westlicher Staaten, der Afghanistan tief zerrüttet hat, weitgehend unkritisch. Der Einsatz der Bundeswehr sollte nicht als Schritt auf dem Weg zum Umbau in eine Offensivarmee verstanden werden können. In einem derartigen Berichtsumfeld wollte ich nicht mehr arbeiten, zumal ich spürte, wie ich von bestimmten Redaktionen gemieden und übergangen wurde.
Sie haben nicht nur als Chef vom Dienst im dpa-Landesbüro Südwest, sondern auch als Leiter des ZDF-Büros in Teheran gearbeitet. Welche Entwicklungen vollzogen sich in den letzten Jahren in den Medien – hin zum heutigen »geschlossenen Kreislauf (…), in dem Journalisten die Adressaten symbolischer Politik sind und die Wahrheit auf der Strecke bleibt«, wie Sie es im Interview mit der »Süddeutschen Zeitung« erklärten (2)?
Der Wandel der Medien hat mein gesamtes Berufsleben geprägt. Die Änderungen waren vielfältig und ganz unterschiedlicher Art. Die Berichterstattung heute, die mit Nachrichten in Echtzeit konkurrieren muss, ist mit der Ende der 1970er Jahre nicht vergleichbar. Aber die Änderungen werden nicht allein von den technologischen Entwicklungen bestimmt. Auch das Verhältnis der Redaktionen zu den Reportern und Korrespondenten hat sich geändert, weil die Redaktionen heute eine andere Bedeutung haben. Sie entscheiden, was berichtet und zunehmend auch wie berichtet wird.
Für den Aufbau einer Sendung haben die zugelieferten Beiträge an Bedeutung verloren. In den Zentralen werden Themen »groß« oder »klein« gesehen und manchmal sogar selbst Details, also einzelne Aufnahmen oder Infos in den Berichten, mit dem Hinweis darauf gefordert, auch die Konkurrenz würde sie ja nutzen. »Quoten« und »Auflagen« sind zu Begriffen geworden, mit denen sowohl ein bestimmter Aufbau als auch einzelne Inhalte einer Sendung durchgesetzt werden können. Unter dem Druck des Sparzwangs verstärken Redaktionen ihren Machtzuwachs und nutzen diesen, um die Berichterstattung zu entpolitisieren. Nur im Einzelfall erfolgen dabei Eingriffe, um Berichten eine bestimmte politische Orientierung zu geben.
War das denn nicht immer schon so? Ich meine, diese Mechanismen sind doch alles andere als neu…
Nein, es ist alles andere als neu, dass Redaktionen darüber bestimmen, wie die Berichte auszusehen haben. Das ist schließlich auch ein Teil ihrer Aufgaben. Doch die Häufigkeit, mit der sich Redaktionen die Deutungshoheit der Ereignisse – in der Regel ohne Debatte und Rücksprache – anmaßen, hat deutlich zugenommen. Erinnern Sie sich nur an die Zeiten, in denen Politik noch durch Spiegel-Titelgeschichten beeinflusst wurde. Heute haben die Mächtigen so etwas nicht mehr zu befürchten, denn die Formierung der Leitmedien ist längst vollzogen, ohne dass Zensur oder Verbot deswegen notwendig geworden wären.
Die Medienmüdigkeit der Bürgerinnen und Bürger widerspiegelt den Niedergang des Journalismus.
Natürlich leisten die Ausbildung der Journalistinnen und Journalisten sowie die zunehmend gezielte Beeinflussung der Medien durch interessierte Dritte dieser Entwicklung Vorschub. Doch die Verantwortung für diesen Niedergang tragen letztendlich die Redaktionsleitungen und die Mitglieder der Redaktionen.
Mussten zum Beispiel Ende der 1970er Jahre Pressemitteilungen der Stuttgarter Staatskanzlei noch mit großem Aufwand redaktionell bearbeitet werden, so verlassen sie heute die Büros von Politikern bereits in sendefertiger Form. Denn für Politiker, Manager und Militärs haben die Medien eine größere Bedeutung gewonnen. Aber sie können die Medien nur deshalb so weitreichend nutzen, weil diese sich auch nutzen lassen. Natürlich bemühen sie sich mit den unterschiedlichsten Mitteln um die Medien und erleichtern diesen die Arbeit. Wissen sie doch, dass sie ihre Ziele bei einer erfolgreichen Nutzung der Medien besser erreichen können.
In den Kriegen des Mittleren Ostens habe ich erlebt, wie die US-Streitkräfte Medien zum Bestandteil ihrer Kriegsführung machen konnten, ohne dass es möglich war, sich einer derartigen Ausnutzung zu entziehen. Wenn Generäle auf Pressekonferenzen Angriffe ankündigen, um dem militärischen Gegner eine bestimmte Reaktion aufzuzwingen, dann können sich Medien diesem Missbrauch nicht entziehen, sobald sie die Pressekonferenzen übertragen. Sie können und müssen die Manipulation und ihre Beteiligung jedoch hinterher aufdecken. Wenn auch das unterbleibt, werden sie Teil der Kriegsführung. Dies gilt für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in ähnlicher Weise. Und eine derartige aktive Nutzung beziehungsweise Benutzung der Medien wird durch technologische Entwicklungen immer einfacher.
Unter derartigen Rahmenbedingungen wird die notwendige Kritik an der Militarisierung erschwert und Oberflächlichkeit und Beliebigkeit werden kultiviert.
Das Problem beginnt bereits bei der Auswahl der Themen. Wichtige Mosaiksteine, die dabei helfen, die Wirklichkeit zu verstehen, entfallen immer häufiger. Statt etwa die steigende Zahl der ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer darzustellen, werden Meldungen über Taten oder Bekennererklärungen des sogenannten Islamischen Staates verbreitet, bei denen es sich um Propaganda handelt.
Dass die Entstehung des sogenannten Islamischen Staates auch ein Ergebnis westlicher Kriegsführung im Mittleren Osten ist und dass die Menschen auch vor demselben fliehen, wird in der Regel ausgespart.
Redaktionen kultivieren diese Art zu arbeiten regelrecht, indem sie etwa für sich beanspruchen, keine Berichte über die Toten im Mittelmeer zu haben, auch wenn sie über Ressourcen verfügen, diese herstellen zu können. Statt die Fähigkeit einzuüben, aus der Flut der Ereignisse, die sich für einen Bericht oder eine Meldung anbieten, diejenigen herauszusuchen, die politische, militärische oder wirtschaftliche Entwicklungen durchschaubar machen, wird scheinbar Bedeutendes ausgewählt.
So entsteht ein Mosaik der Wirklichkeit, das diese immer weniger abbildet. Hintergründe und Motive, die Politiker, Militärs oder Manager antreiben, bleiben so im Dunkeln. Eine von der norwegischen Regierung in Auftrag gegebene Studie hat dies in beispielhafter Weise beleuchtet. Der Einsatz des Landes in Afghanistan erfolgte aus Bündniserwägungen gegenüber den USA und nicht, weil er wegen der Verhältnisse im Land am Hindukusch für notwendig erachtet wurde. Das ist ein Beispiel für «policy of pretention«, also für eine vorgespielte Politik, die Politikverdrossenheit auslösen muss. Es ist bezeichnend, dass die zunehmende Kluft zwischen Armen und Reichen, politische Weichenstellungen für Machtverschiebungen und wirtschaftliche Entwicklungen in ihrer Komplexität meist nur noch in gutem Kabarett dargestellt werden.
An der Politikverdrossenheit und am Wuchern von Verschwörungstheorien wird dieser Wandel und das damit verbundene Versagen der Medien deutlich. Mit an Vorurteilen anknüpfenden, verkürzten Erklärungsmustern wird der Weg für falsche Erklärungen vorbereitet. Plötzlich sind es Öl- und Gasinteressen, die Kriege im Mittleren Osten auslösen, obwohl diese Interessen in einer anderen Form existieren. Politiker werden zu Tätern stilisiert. Obwohl die Willkommenskultur für ausländische Flüchtlinge durch eine Abschottungskultur ersetzt wurde, werden Politiker zu Helfern des Terrors stilisiert.
In Talkshows diskutieren Prominente und Skurrile die Krise der etablierten Parteien des demokratischen Systems. Damit wird davon abgelenkt, dass die Talkshows selbst mit ihrer Beliebigkeit der Themenwahl und der Auswahl der Gäste einen entscheidenden Beitrag zu der Politikverdrossenheit geleistet haben.
Statt wirtschaftliche und gesellschaftliche Transparenz zu erleichtern, wird mit verkürzten Analysen das Verständnis der Wirklichkeit erschwert und damit rechten Verschwörungstheorien Vorschub geleistet. Natürlich werden solche dann in späteren Sendungen verurteilt. Doch das geschieht eher aus einer selbstverstandenen staatsbürgerlichen Pflicht heraus denn aus dem Impetus, die Komplexität der Prozesse nachvollziehbar zu machen. Journalistinnen und Journalisten, die sich diesem Verhalten nicht anpassen, wird die Arbeit erschwert, statt sie zu fördern.
Es gibt also Journalisten, die seitens der Mächtigen unterstützt werden, und Journalisten, denen man Steine in den Weg legt? Wie läuft so etwas konkret ab, und wer sind die Akteure in diesem Spiel?
Gute Berichte sind sehr arbeitsintensiv. Sie sind nicht nur teuer, sondern verlangen von den Macherinnen oder Machern sehr großen Einsatz. Die kritische Reportage wird nicht in Auftrag gegeben, oder das Budget ist so klein, dass wichtige Details für die Erklärung bedeutender Zusammenhänge wegfallen müssen oder nur um den Preis der Selbstausbeutung Bestandteil eines Berichtes werden können.
Zudem fördert oder blockiert auch die Entwicklung und Zunahme der Journalistenpreise oder die Einmischung in die Verleihung solcher Preise – man denke beispielsweise an Reemtsma (3) – Karrieren. Und auch das Auswärtige Amt, das neben dem Bundesministerium der Verteidigung und dem Bundeskanzleramt die Hauptverantwortung für das deutsche Afghanistan-Desaster trägt, fördert vor allem Journalisten, die die Hintergründe des Scheiterns von Entwicklungspolitik aussparen, und zeichnet eher solche Kolleginnen und Kollegen aus, die geneigt sind, westlichen Interventionen positive Aspekte abzugewinnen.
Können Sie bitte ein konkretes Beispiel geben, wo in Ihre Berichterstattung manipulativ eingegriffen wurde oder werden sollte?
Die Form dürfte eher indirekt gewesen und mir deswegen nicht bekannt sein. Doch erinnere ich auch Beispiele. Obwohl ich beispielsweise ab 2004 beim ZDF für die Afghanistan-Berichterstattung zuständig war, hat das BMVg einen anderen Kollegen für einen Bericht über die Arbeit der Bundeswehr in Afghanistan angefordert. Dieser Kollege wurde auch von einer ZDF-Redaktion wiederholt nach Afghanistan geschickt, ohne mich vorab darüber zu informieren. Mit der Begründung einer persönlichen Gefährdung hat später der BND dem ZDF meine Abberufung aus Teheran nahegelegt, der das ZDF jedoch nicht nachkam.
Das für Afghanistan zuständige Einsatzführungskommando in Potsdam hat einfache und sogar von einem kommandierenden Offizier vorgeschlagene Drehwünsche mit der Begründung nicht genehmigt, ich hätte sie nicht vorab beantragt. Dabei wusste ich vorher gar nicht, dass ich überhaupt in diesen Teil Afghanistans, nämlich nach Faisabad, kommen würde, hatte zu derlei Antrag also keinerlei Gelegenheit.
Und, kaum zu glauben: Ein Presseoffizier der Bundeswehr in Kundus weigerte sich am 22. Mai 2007 kurz vor einem Interview im »Mittagsmagazin« des ZDF, die vorherige Anwesenheit des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier zu bestätigen, obwohl der morgens das dortige »Wiederaufbauteam« im Bundeswehr-Heerlager besucht hatte und bereits wieder abgereist war. Die Weigerung erfolgte mit dem Hinweis auf die Bild-Zeitungs-Berichterstattung über den Tod von drei deutschen Soldaten im Bazar von Kundus am 19. Mai. Das Interessante: Der deutsche Außenminister war mit Bild-Zeitungs-Kollegen unterwegs, die live über seinen Besuch berichtet haben.
Und schließlich wurde eine Dokumentation über das Scheitern der Entwicklungspolitik vom Schweizer Fernsehen an die Bedingung geknüpft, dass ich 100 000 Schweizer Franken für diesen Beitrag beim Außenministerium in Bern beantragen würde.
Gibt es ähnliche Erlebnisse auch jenseits von »NATO-Politik« und Bündnistreue? Mir erscheint etwa evident, dass die Medien in aller Regel vollkommen unkritisch die neoliberale Agenda des Sozialabbaus und der Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge begleitet haben und weiter begleiten. Statt über das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes und der sich daraus ableitenden Notwendigkeit zu informieren, jedem und jeder ein Leben in Würde zu ermöglichen, werden wir berieselt von Nachrichten über etwa die »Faulheit der Armen«, »spätrömische Dekadenz« und so geistreiche wie verächtliche Thesen vermeintlich sozialer Politiker, dass, wer nicht arbeite, auch nicht essen solle … Gibt es nicht auch eine massive Parteilichkeit der Medien wider die Armen in unserem Land?
Zu diesem Thema kann ich wenig sagen. Als Medienkonsument bin ich jedoch enttäuscht, dass zum Beispiel bei Berichten über die Zahl der Arbeitslosen die Definition der Bundesregierung genutzt wird. Seit dem Grundstudium Politik in den 1970er Jahren ist mir die Problematik der Nutzung von Begriffen und die damit verbundene Übernahme bestimmter Sichtweisen und Bedeutungen bekannt. Dass vor allem die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und auch die wichtigen Privatsender hier die Regierungsdiktion übernehmen, ist daher bezeichnend für mich.
Wird hier also seitens der Medien gelogen?
Die Medien lügen nicht – sie verkürzen, unterschlagen, verdrehen und verfälschen. Auf das Wort »Lügenpresse« reagiere ich allergisch. Denn es unterstellt einen bewussten Akt. Genau diesen gibt es in den Medien aber ausgesprochen selten.
Vielmehr haben die dort Beschäftigten ihre eigene Wahrnehmung einer immer komplexer werdenden Wirklichkeit, von der sie dann Ausschnitte zeigen. Sie übernehmen oft Positionen der offiziellen Politik oder ihrer Arbeitgeber. Um Widersprüche zu vermeiden, greifen sie zum Mittel der Verkürzung – nicht zuletzt, weil sie glauben, dass diese Verkürzung dem Publikum das Verständnis erleichtere.
Die Konsumenten leben in dieser komplexer werdenden Wirklichkeit und beobachten in ihren Lebenszusammenhängen, wie die Welt aus den Fugen gerät. Mit Hilfe der immer oberflächlicher werdenden Darstellung in den Medien können sie die Prozesse der Wirklichkeit nicht mehr adäquat erklären und greifen daher immer häufiger zu im Internet angebotenen Scheinanalysen, die ebenfalls mit Verkürzungen arbeiten.
Verschwörungstheorien nationalistischer und rechter Politiker und Organisationen haben es heute auch deshalb so leicht, weil die Zahl der Spin-Doktoren beständig zunimmt und diese Spezialisten der Verdrehung zunehmend auch von Politikern beschäftigt werden. Meist arbeiten sie jedoch in der Öffentlichkeitsarbeit oder bei Public-Relations-Agenturen, deren Ziel es ist, die Öffentlichkeit zu manipulieren.
Ein weiteres Phänomen besteht darin, dass sich Redaktionen ein fiktives Publikum vorstellen. Ich erinnere mich etwa an eine Zeit, als ich beim NDR im Hörfunkprogramm für die Stadt Hamburg arbeitete. In der Redaktion tummelten sich die Vierzigjährigen. Sie machten ein Programm für Vierzigjährige. Doch statt zu fragen, was sie selber gern hören würden, versuchten die meisten, sich in die Rolle eines fiktiven »typischen Vierzigjährigen« zu versetzen und für diese Zielperson ein Programm zu gestalten. Dass ein derartiges Programm langweilig wird und sich das Publikum abwendet oder immer mehr Musik fordert, verwundert nicht.
Noch mal zum Wort »Lügenpresse«: Es verhindert, dass die verhängnisvollen Mechanismen in den Medien aufgedeckt und verändert werden können. Natürlich ist es in Anbetracht der derzeitigen Machtverhältnisse eine Illusion zu glauben, es sei möglich, die Berichterstattung zu ändern. Nur sollte eine Änderung das Ziel der Forderungen sein. Der Begriff »Lügenpresse« klingt zwar griffig, verfehlt aber den Kern des Problems.
Geichwohl gibt es aber auch glasklare Lügen, die dann Verbreitung finden und deren Wirkung beispielsweise in Kriegszeiten oftmals verheerende Folgen hat. »Im Krieg lügen Offiziere der Amerikaner, dass sich die Balken biegen«, sagten Sie etwa in unserem Vorgespräch zu diesem Interview …
Das stimmt. Ich versuche immer wieder, die Mechanismen zu zeigen. Im Krieg gelten besondere Regeln. Das müssen Journalisten wissen und in ihrer Berichterstattung berücksichtigen. Ein US-Offizier ist ein fantastischer Gesprächspartner. Er ist in Friedenszeiten in der Regel bereit, einem zu helfen, sollte man eine Situation nicht verstehen. Ein deutscher Offizier redet dagegen erst nach seiner Pensionierung offen, wie mir einmal ein deutscher Diplomat zutreffend erklärte. Auf Pressekonferenzen oder bei offiziellen Briefings begegnet man jedoch Offiziellen, die für ihr Auftreten bezahlt werden. Medienschaffende sollten sich dessen bewusst sein und nicht auf vordergründige Propaganda hereinfallen oder sich zum Spielball bei der Durchsetzung offensichtlicher Interessen machen lassen.
In der Politik ist es ähnlich. Auch dort beginnt eine Kursänderung oftmals mit dem Dementi eines Politikers. Es heißt ja nicht umsonst nach Carl von Clausewitz: »Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.« Dass Journalisten »Lügen« nicht entlarven und den wahren Bedeutungsgehalt bestimmter Aussagen nicht aufdecken, zeigt nur, wie schlecht sie sind oder dass sie sich bei der Ausübung ihres Berufs immer weniger Mühe geben beziehungsweise unter immer größerem Zeitdruck arbeiten müssen.
Warum machen die Journalisten und Medien da denn überhaupt mit?
Weil Journalistinnen und Journalisten als abhängig Beschäftigte das machen und zu weiten Teilen auch machen müssen, was von ihnen erwartet wird. Das ist kein besonderes Verhalten der Medien. In der Wirtschaft und in den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft erfüllen Menschen ihre Aufgaben, auch wenn sie wissen, dass ihre Arbeit, für die sie bezahlt werden, unmoralisch ist. Der VW-Abgas-Betrug wurde von Ingenieuren ermöglicht. Dass die Manager dabei wie üblich ungeschoren davonkommen, ist ein Skandal.
Doch das Problem liegt im Detail der alltäglichen Arbeit. Fondsmanager kassieren Hunderte von Millionen Euro. Sie plündern ihre Banken aus, und die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler müssen es dann ausbaden. Und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Steuerverwaltung etwa verschicken Bescheide, obwohl sie wissen, dass sie damit einen Beitrag zur Vergrößerung der Einkommensunterschiede leisten. Medienschaffende sind insofern auch nur ein Teil der Maschinerie eines insgesamt absurden Systems.
Im Internet kursiert ein Zitat, das Ihnen zugeschrieben wird. Es lautet: »Die Zuschauer wissen nicht, dass sogar bestimmte Journalisten für die jeweiligen Auslandseinsätze ausgewählt und angefordert werden. Statt Berichte über die Einflussnahme der Politik auf den Journalismus zu fertigen, verkümmert die kritische Distanz. Zwischen Medien und Politik entwickelt sich ein Verhältnis, mit dem die Berichterstattung plan- und berechenbar wird. Wie von Geisterhand gesteuert, berichten Medienvertreter aus fernen Landen genau dann über die Notwendigkeit zusätzlicher Soldaten, wenn Politiker in der Heimat entsprechende Initiativen ankündigen. Im Kontext von Wirtschaftsjournalismus wird dies als Sponsoring und in der Politik als Hofberichterstattung bezeichnet. Dieser Art Journalismus fehlt die Unabhängigkeit, die notwendig wäre, um ein Problembewusstsein zu schaffen.« Haben Sie das gesagt? Und, wenn nicht: Stimmen Sie zu?
Ja, das entspricht meinen Erfahrungen. Leider gibt es in Deutschland zu wenige »Whistleblower«. Das Verkümmern des kritischen Journalismus ist für mich Ausdruck eines sich wieder und weiter ausbreitenden »Mitläufertums«.
Was müsste denn geschehen, um diese Krise zu meistern? Wie bekommen wir wieder Medien, die der Wahrheit und Unparteilichkeit verpflichtet sind?
Ohne eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse kann ich mir keine Veränderung der Medien vorstellen. Sie sind Ausdruck der heutigen Lage, die dringend einer Veränderung bedarf. Doch insbesondere in Deutschland wird dies nicht einfach, da sich Wirtschaft und Politik in einer im internationalen Vergleich komfortablen Situation befinden und die Erfahrung fehlt, Krisen durch Veränderungen im eigenen Land zu bewältigen. Leider ist das deutsche Establishment daran gewöhnt zu versuchen, Krisen auf Kosten anderer zu lösen.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Stimmen zum Buch:
„Selten habe ich ein so differenziertes und fundiertes Buch über die Fragwürdigkeit unserer modernen Medienindustrie gefunden. Wer bisher nur geahnt hatte, dass da etwas schiefläuft, findet hier vieles bestätigt und wer noch immer glaubt, dass es jemand gibt, der das alles lenkt und steuert, kann hier sehr viel über sich selbst organisierende Systeme lernen...“
Gerald Hüther, Neurobiologe
„‚Das Medienkritik-Kompendium‘ steht eher klein auf dem Cover. Wie das Verlage halt so machen, normalerweise. Viel versprechen, damit die Kunden anbeißen. Nicht so bei diesem Buch. Jens Wernicke versammelt wirklich alles, was Rang und Namen hat in Sachen Medienkritik, und hebt dieses Genre so auf eine neue Stufe. Weg von plumper Journalistenschelte, weg auch von der Idee, im Kanzleramt oder irgendwo dort in der Nähe sitze jemand, der die Redaktionen im Land dirigiere. In diesem Buch geht es ans Eingemachte. Es geht um Medienbesitz, um Gedankenkontrolle und um den BND, um die journalistische Berufsideologie, um Wording. Kurz: Es geht darum, endlich zu verstehen, was die Medien mit uns machen.“
Michael Meyen, Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft
Ulrich Tilgner, Jahrgang 1948, berichtete dreißig Jahre als Korrespondent aus dem Mittleren Osten. Anfangs als freier Korrespondent für Zeitungen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, von 2003 bis 2008 dann als Leiter des ZDF-Studios in Teheran und Sonderkorrespondent für den Nahen und Mittleren Osten und von 2008 bis 2014 schließlich für das Schweizer Fernsehen (SF). Er schrieb zahlreiche Bücher, unter anderem: »Die Logik der Waffen« (2012), »Zwischen Krieg und Terror« (2006), »Der inszenierte Krieg« (2003), »Umbruch im Iran« (1979). Einige seiner Filme: »Schah Matt« (1981), »Die Kurden – ein Volk, das es nicht geben darf« (1983), sowie unterschiedliche Fernsehdokumentationen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Hans Leyendecker, Christopher Keil: »Wundgerieben«, 17.5.2010, sueddeutsche.de, http://www.sueddeutsche.de/kultur/ulrich-tilgner-im-konflikt-mit-dem-zdf-wundgerieben-1.260493
(2) Ebd.
(3) Seit 2007 wird der Journalistenpreis »Reemtsma Liberty Award« jährlich von der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH vergeben. »Der Preis würdigt im Ausland arbeitende Korrespondenten und Reporter, die sich durch ihre Arbeit um die Freiheit verdient machen – die Freiheit der Medien, der Gesellschaft und damit die Freiheit eines jeden Einzelnen«, heißt es seitens der Gesellschaft zu Sinn und Zweck der Preisverleihung.
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