Der Gegensatz konnte nicht größer sein: In Frankreich lähmte am 6. Dezember ein landesweiter Streik das öffentliche Leben. Bereits am Tag zuvor waren 800.000 Menschen auf die Straße gegangen, um gegen den geplanten Umbau der Rentenversicherung und drastische Rentenkürzungen zu demonstrieren — Gewerkschafter, Anhänger der Gelbwestenbewegung und die Führungen aller französischen Linksparten. Ebenfalls am 6. Dezember versammelten sich in Berlin die Delegierten des SPD-Parteitags, um sich mit großer Mehrheit für die Fortsetzung der Koalition mit CDU und CSU auszusprechen. In Paris offener Klassenkampf — in Berlin das erneuerte Bekenntnis der Sozialdemokratie zur Burgfriedenspolitik mit den Parteien des deutschen Kapitals.
Für einen historischen Augenblick hatte es so ausgesehen, als ob es diesmal anders kommen könnte.
Die SPD-Mitgliederbefragung über die neuen Parteivorsitzenden endete mit einer großen Überraschung: Gewonnen hatte mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ein Kandidatenteam, das bei den 23 Vorstellungsrunden zumindest den Eindruck vermittelt hatte, dass sie es ernst meinen mit ihrer grundsätzlichen Kritik an der Fortsetzung der großen Koalition. Esken war in verschiedenen Äußerungen sogar so weit gegangen, deren unverzügliches Ende zu fordern.
Davon blieb auf dem Parteitag nichts übrig. In dem mit großer Mehrheit angenommenen Beschluss „Aufbruch in die neue Zeit“ heißt es:
„Weder der Verbleib in einer Koalition noch der Austritt sind ein Selbstzweck. Für uns steht nicht die Frage im Vordergrund, ob wir die Koalition weiterführen oder beenden. Entscheidend ist, dass wir jetzt die uns wichtigen, noch offenen Punkte aus dem Koalitionsvertrag zügig umsetzen und mit CDU und CSU die Weichen für eine gute und gerechte Zukunft unseres Landes und Europas richtig stellen.“
Möglichst bald will man dafür Gespräche mit den Koalitionspartnern aufnehmen. Im Mittelpunkt stehen: ein Programm, mit dem „Zukunftsinvestitionen“ angeschoben werden, eine Klimapolitik mit einem „gerechten und wirksamen CO2-Preis“, „die Anhebung des Mindestlohns auf mindestens 12 Euro“ — allerdings nur „perspektivisch“ —, sowie „die Ausweitung der Investitionen im Bereich der digitalen Infrastruktur.“ All diese und einige weitere Forderungen sind sehr allgemein gehalten, weder werden konkrete Gesetzgebungsvorhaben noch Zeiträume genannt, in denen sie realisiert werden sollen.
Doch der wichtigste Satz des Beschlusses findet sich ganz zum Schluss:
„Der Parteivorstand wird auf Grundlage der Gespräche bewerten, ob die drängenden Aufgaben in dieser Koalition zu bewältigen sind.“
Über den Fortbestand der Koalition soll also nicht einmal mehr ein Parteitag entscheiden dürfen, von einem erneuten Mitgliedervotum ganz zu schweigen. Im Parteivorstand dominieren aber die Anhänger der großen Koalition. Und so kann man schon jetzt vorhersagen, dass nach den irgendwann einmal abgeschlossenen Gesprächen sich dort eine Mehrheit für die Fortsetzung der großen Koalition aussprechen wird. Also: alles wie gehabt!
Die beiden neuen Parteivorsitzenden zeigten sich ausgesprochen zufrieden mit dieser Entschließung. Lediglich Esken merkte in ihrer Vorstellungsrede kurz an, dass sie „skeptisch“ bleibe gegenüber den Erfolgsaussichten der weiteren Arbeit der Koalition.
Da war also über Wochen über das bevorstehende Ende der schwarz-roten Bundesregierung spekuliert worden, sollte das von den Jungsozialisten unterstützte Team Esken/Walter-Borjans als Sieger vom Platz gehen. Da hatten Jusos bereits frohgemut skandiert: Nikolaus ist GroKo aus! Und nun das. Es dürfte in den letzten Jahren kaum eine ähnlich schnelle Selbstdemontage von Politikern gegeben haben wie die von Esken und Walter-Borjans in den Tagen nach der Ergebnisbekanntgabe der Mitgliederbefragung und ihrer Wahl auf dem Parteitag eine Woche später.
Dabei hätten sie es in der Hand gehabt! Ihr überraschender Sieg über das Kandidatenduo Olaf Scholz/Klara Geywitz war Ausdruck des verbreiteten Unmuts in der Mitgliedschaft über eine Parteiführung, die stur am Bündnis mit CDU und CSU festhält. Vor allem deshalb stimmten ja mehr als 110.000 Parteimitglieder für zwei weitgehend unbekannte Politiker. Sie entschieden sich gegen Olaf Scholz als den Repräsentanten des alten, noch aus der Zeit Gerhard Schröders stammenden Machtzentrums der Partei, das von einer rot-rot-grünen Zusammenarbeit und einer Abkehr von Hartz IV nichts wissen will. Verloren hatte der Finanzminister und Vizekanzler, für den der Parteivorsitz nur den Weg zur Kanzlerkandidatur ebnen sollte. Es war die Mitgliedschaft, die ihm ihr Misstrauen ausgesprochen hatte.
Diesen starken Rückenwind hätten Esken und Walter-Borjans nutzen können, ja nutzen müssen, um ein Nein zur Fortsetzung der großen Koalition zu erzwingen. Zumindest hätten sie den offenen Konflikt mit dem alten Machtzentrum wagen müssen!
Diese Chance haben sie vertan. Und so wird von dem Parteitag lediglich in Erinnerung bleiben, dass sich die SPD zwar ein aufwändiges Auswahlverfahren für die Besetzung des Vorsitzes geleistet hat, das Ergebnis am Ende aber enttäuschend war. Die neuen Parteivorsitzenden dürften — nach ihrem verpatzten Start — nur noch wenig Gewicht haben. Saskia Esken ist eine Hinterbänklerin im Bundestag ohne eigene Hausmacht und Norbert Walter-Borjans ein ehemaliger Landesminister, der bereits vor Jahren mit der Politik abgeschlossen hatte. Es wäre eine große Überraschung, sollten beide am Ende mehr als nur zwei weitere Gesichter in der langen Reihe der SPD-Übergangsvorsitzenden sein. Viel Lärm also um Nichts!
Auf dem Parteitag entzaubert hat sich auch der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert. Galt er noch gestern als entschiedener Koalitionsgegner, so bekundete er nun, „keine Oppositionssehnsucht zu haben“. Seine wundersame Wandlung erklärte er damit, dass er Anfang 2018 kein Vertrauen in die Verhandlungsführung der Parteiführung gehabt habe. Diesmal aber sei alles anders: Jetzt vertraue er den neugewählten Parteivorsitzenden. Eine andere Haltung hätte wohl auch seine Wahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gefährdet. Damit dabei alles glatt ging, hatte der Parteitag zuvor — auf Empfehlung des Vorstands — die Zahl der Stellvertreter von drei auf fünf erhöht. Wohl noch nie ist einem Juso-Bundesvorsitzenden so schnell der Aufstieg in die Parteiführung gelungen.
Der Antrag einiger verbliebener Linker, die Koalition aufzukündigen, musste so chancenlos bleiben. Für ihn sprachen sich die frühere Juso-Bundesvorsitzende Franziska Drohsel und Hilde Mattheis vom Netzwerk Demokratische Linke 21 aus.
Wie zu erwarten zeigen sich CDU und CSU erleichtert über den Ausgang dieses Parteitags, weiß man doch dort nur zu genau, was man an dieser SPD hat. Sie steht selbst dann noch als treuer Koalitionspartner bereitwillig zur Verfügung, wenn es einmal mit anderen Konstellationen nicht klappt wie etwa nach der Bundestagswahl im September 2017, als das angestrebte Jamaika-Bündnis von CDU, CSU, Grünen und FDP nicht zustande kam. Obwohl die SPD nach ihrer desaströsen Niederlage eine weitere große Koalition ausgeschlossen hatte, war sie am Ende dann doch wieder dazu bereit.
Für die Unionsparteien ist die SPD inzwischen zu einer reinen Funktionspartei geworden, ganz ähnlich wie es die FDP einmal war. Und je schwächer die Sozialdemokraten dabei als Juniorpartner werden, umso kleiner wird ihr verbleibender Handlungsspielraum. Zwar wird immer mal wieder über eine rot-rot-grüne Bundesregierung als Alternative geredet, doch die hat bekanntlich keine Mehrheit im Bundestag. Und als es dafür gereicht hätte, hatte die SPD sich verweigert.
Auch die Verbände des Kapitals wissen eine solch harmlose SPD zu schätzen.
Ein sich in der Tradition Wolfgang Schäubles sehender Finanzminister Olaf Scholz, der stolz auf die schwarze Null im Bundeshaushalt ist und jede Neuverschuldung ablehnt, ist für sie ebenso wertvoll wie ein Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil, der die Hartz-IV-Sanktionen verteidigt. Eine solche, sich selbst fesselnde Sozialdemokratie hält ihnen — zusammen mit sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Gewerkschaften — den Klassenkampf vom Hals! Fürchten doch die deutschen Kapitalisten nichts mehr als „französische Verhältnisse“, wie sie sich jenseits des Rheins gegenwärtig so eindrucksvoll auf der Straße zeigen.
Und so findet die Wut, der Protest gegen wachsende Armut, zu geringe Renten, einen viel zu niedrigen Mindestlohn und gegen die sich ausbreitenden prekären Arbeitsverhältnisse keinen politischen Adressaten. Die Partei DIE LINKE bietet hierfür keinen Ersatz, gefällt sie sich doch als kulturalistische Linke, und sieht ihr Vorbild in den Grünen. Die mit so viel Hoffnung gestartete Bewegung Aufstehen verlief im Sande, da die Initiatoren sich scheuten, sie zu einer wahlpolitischen Alternative weiterzuentwickeln.
So gelingt es der AfD umso leichter, diesen Unmut für sich zu nutzen. Gestärkt wird so nicht nur eine in Teilen rechtsradikale, sondern auch eine in der Wolle gefärbte neoliberale Partei. Düstere Zeiten!
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