von Sarah Gangoli und Bob Gill
Einem rational denkenden Menschen würde sich eigentlich die Frage stellen, warum es Großbritannien in der Covid-19 Pandemie so schlecht ergeht. Es ist ja ein reiches Land und weltweit die sechstgrößte Wirtschaftsmacht mit einer stolzen Geschichte des Gesundheitswesens und einem staatlichen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS), der aus der Asche des Zweiten Weltkrieges erstanden ist. Dieser bildet die wesentliche Säule des Wohlfahrtstaates, indem er für alle Bürger allgemeine und umfassende Vorsorge und Fürsorge bietet, unabhängig von deren Geldbeutel.
Trotz dieser guten Ausgangslage gibt es schätzungsweise eine Übersterblichkeit von mehr als 50.000 Menschen, womit Großbritannien an zweiter Stelle steht nach den USA, wo weltweit die höchste Übersterblichkeit zu verzeichnen ist.
Um diese Katastrophe richtig einzuordnen ist es notwendig, die neoliberalen Reformen zu verstehen, die diesen Gesundheitsdienst über Jahrzehnte stetig verändert haben. Nach beinahe 27 Jahren unmittelbarer Erfahrung und genauer Beobachtung dieses heimtückischen Prozesses sind wir als Allgemeinmediziner und NHS-Ärztin schockiert, allerdings auch nicht überrascht.
Zwei Jahre nach der globalen Finanzkrise von 2008 startete die Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten ihr Sparprogramm. Dieser Plan war von wirtschaftlicher Ignoranz geprägt, indem er den abwegigen Vergleich unternahm zwischen Makroökonomie und den Finanzen eines Privathaushaltes, ein Ansatz, den die frühere Premierministerin Margaret Thatcher populär gemacht hatte.
Eine getäuschte Öffentlichkeit nahm ihnen dieses Narrativ ab, und mit ihm die Stagnation in der Lohnentwicklung und Einschnitte im Bereich öffentlicher Dienstleistungen: durch eine monumentale Lüge wurde die Schuldenlast, die durch Bankenrettungen entstanden war, auf den Schultern der Schwächsten abgeladen. Für den NHS bedeutete dies ein Jahrzehnt der Kürzungen bei den Finanzmitteln und eine Verringerung des historischen durchschnittlichen jährlichen Zuwachses bei den Gesundheitsausgaben von vier Prozent auf ein Prozent. Gleichzeitig wurde der NHS weiterhin umstrukturiert in einem seit den 1970er Jahren andauernden Prozess, der sich aber unter dem Schutzmantel der Sparpolitik beschleunigte.
Marc Britnell, der ehemalige NHS-Generaldirektor für die Auftragsvergabe, erklärte dies im Jahre 2010 so:
„In Zukunft wird der NHS eine staatliche Versicherung sein, und nicht nur ein staatlicher Lieferant und Retter. In Zukunft wird es jedem interessierten Anbieter aus dem privaten Sektor möglich sein, Güter und Dienstleistungen an das System zu verkaufen. Der NHS wird keine Gnade erfahren, und die beste Gelegenheit, dies auszunutzen, wird in den nächsten paar Jahren bestehen.“
Der Health and Social Care Act von 2012 stellte sicher, dass man sich dies zunutze machen konnte, indem ein vollkommen marktorientierter NHS geschaffen wurde. Die „Verpflichtung“ des verantwortlichen Ministers „zu versorgen“ entfiel und wurde ersetzt durch eine „Verpflichtung“, Gesundheitsdienstleistungen „zu fördern“, womit die zentrale Grundvoraussetzung des NHS abgeschafft wurde. Es wurden neue Finanzierungsstrukturen geschaffen als Kopien der privaten Krankenversicherungsgemeinschaften der USA, dort auch bekannt als Clinical Commissioning Groups, um die Auslagerung medizinischer Dienstleistungen zu erzwingen.
Es wurden QUANGOS (quasi non-governmental organisations) geschaffen — NHS England und Public Health England — die von Regierungsbeauftragten geleitet wurden. Fest etablierte dezentrale Infrastrukturen der Gesundheitsversorgung wurden aufgelöst und institutionelle Erfahrung und Expertise wurden beiseite geräumt als eine der Folgen von 10.000 Entlassungen und einer Kürzung der Finanzmittel um 700 Millionen Pfund innerhalb von fünf Jahren.
Das Brexit-Referendum im Jahre 2016 schuf eine breite öffentliche Anti-Establishment-Stimmung. Das Leiden unter der Sparpolitik wurde gelindert durch den Balsam des Nationalismus und einer Ablehnung europäischer Bürokratie. Dies führte zu dem Austrittsvotum, das Großbritannien in eine politische Zwickmühle stürzte und eine schmerzliche Spaltung zur Folge hatte.
Ein Land mitten in einer Produktivitätskrise, die herbeigeführt wurde durch Industrieabbau, betrieben von einer Regierung nach der anderen, und der einhergeht mit der Prekarisierung der Arbeitswelt und der Unterordnung der Wirtschaft unter die Interessen der Finanzwirtschaft, hat auch zentrale Sicherungssysteme abgeschafft. Zunehmende Ungleichheit, die Popularität von Null-Arbeitsstunden-Verträgen, und sprunghaft ansteigende Lebenshaltungskosten führten zu unsicheren Verhältnissen in einer Situation, in der zehn Millionen Haushalte ohne jegliche Rücklagen dastanden.
Im Jahre 2019 dann war der NHS niedergerungen: ein Jahrzehnt finanzieller Kürzungen hatte zur Streichung von 17.000 Betten geführt und es fehlten 10.000 Ärzte und 40.000 Pflegekräfte. Großbritannien hatte nun pro Kopf die geringste Anzahl Ärzte und Krankenhausbetten in Westeuropa.
Dieses geschwächte Gesundheitssystem und diese geschwächte Bevölkerung sollen nun diese Pandemie abwehren, mit einer menschenverachtenden Regierung am Ruder, für die der Brexit vor allem anderen kommt.
Nachdem die Vorarbeiten erledigt waren, konnten nun die profitablen Überreste des NHS an die Unternehmen ausgehändigt werden. Die Armen waren nicht mehr abgesichert, ihre Notlage von dem Satiriker Rick Mayall im Jahre 1980 vorhergesagt worden:
„Schauen Sie, in den guten alten Tagen war man arm, man wurde krank und man starb. Und trotzdem scheinen heutzutage die Leute zu glauben, sie hätten irgendein gottgegebenes Recht darauf, behandelt zu werden!“
Die Parlamentswahl 2019 war eine vernichtende Niederlage für Labour. Die simple Botschaft der Tories „Get Brexit Done“, ständig wiederholte Antisemitismus-Vorwürfe gegenüber Labour, der Angriff rechter Medien und parteiinterne Zerwürfnisse bei Labour führten dazu, dass ein gestärkter Boris Johnson in einem Erdrutschsieg zurückkam an die Macht.
Besessen von Fantasien à la Churchill, hatte er alle Hände voll zu tun, sein Vermächtnis abzusichern und die Aussicht darauf zu genießen, die Rechte der Arbeiter zu schreddern, ebenso wie in einem Handelsabkommen mit den USA die Auflagen zum Schutz der Umwelt und des öffentlichen Gesundheitswesens. Dann kam aus Wuhan die Nachricht von einer todbringenden neuen Viruskrankheit, Covid-19, die bei einigen Erkrankten schwere Atemwegsprobleme verursachte und lebenserhaltende künstliche Beatmung erforderte. Kurz darauf wurde die Übertragung von Mensch zu Mensch bestätigt. Aus weiteren Ländern, so auch aus Südkorea, wurden Fälle berichtet, und am 30. Januar rief die Weltgesundheitsorganisation WHO einen „internationalen Gesundheitsnotstand“ aus.
Am 18. April enthüllte ein Sensationsartikel in der Sunday Times unter dem Titel „Coronavirus: 38 Tage, in denen Großbritannien in die Katastrophe schlafwandelte“:
„Boris Johnson hat an fünf Kabinettssitzungen zu der Virusproblematik nicht teilgenommen, Aufforderungen zur Anschaffung von Schutzausrüstung wurden ignoriert, und Warnungen von Wissenschaftlern stießen auf taube Ohren. Schwere Versäumnisse im Februar haben möglicherweise tausende Menschenleben gekostet.“
Johnson war vor allem mit persönlichen Dingen beschäftigt gewesen, und damit, seinen historischen Brexit zu sichern. Die Notsitzungen der Regierung wurden von anderen geleitet, trotz wachsender internationaler Besorgnis. Seine Minister und wissenschaftlichen Berater versicherten mehrfach, wie gut der NHS vorbereitet sei, und spielten die Bedeutung der Bedrohung durch die Pandemie herunter.
Die Strategie der Herdenimmunität, so der wissenschaftliche Berater der Regierung Sir Patrick Vallance, sah vor, die Übertragungsgeschwindigkeit zu reduzieren im Wege einer natürlichen Immunisierung der Bevölkerung durch Ansteckung, und auf diese Weise eine Überlastung des NHS zu verhindern. Großbritannien sollte sich über die fundamentalen Eindämmungsmaßnahmen hinwegsetzen, die in Form von Testungen, Kontaktverfolgung und Quarantäneregelungen in vielen Ländern so erfolgreich waren.
Wiederholte Appelle der WHO zu „testen, testen und nochmal testen“ stießen auf taube Ohren, und Johnson fasste die verdammte Strategie der Herdenimmunität folgendermaßen zusammen:
„Wissen Sie, eine der Theorien besagt, dass man es irgendwie mit Fassung tragen muss, dass man alles in einem Aufwasch geschehen lässt, und der Infektion sozusagen freien Lauf lässt durch die gesamte Bevölkerung.“
Anfang März hatten mehrere europäische Länder einschließlich Großbritannien Corona-Todesfälle vermeldet. Italien und Griechenland hatten die Schulen geschlossen und öffentliche Versammlungen untersagt. Trotz des Fehlens klarer Regierungsempfehlungen hatten einige britische Organisationen und Sportverbände beschlossen, Veranstaltungen abzusagen. Johnson jedoch beliebte es, gemeinsam mit 82.000 weiteren Personen ein Six Nations Rugby Match zu besuchen.
In dramatischen Videoaufnahmen aus Norditalien wurde die völlige Überforderung des dortigen Gesundheitssystems vorgeführt, und das obwohl im Vergleich zu Großbritannien doppelt so viele Intensivbetten vorgehalten werden. Befreundete Anästhesisten, die auf Intensivstationen arbeiten, zeigten sich schockiert über die unverantwortliche Untätigkeit und die fehlende Einsatzbereitschaft angesichts der Bedrohung.
Eine Umfrage des britischen Ärztebundes zeigte, dass eine überwältigende Mehrheit von 99 Prozent der Befragten der Meinung sei, der NHS sei auf die Pandemie nicht vorbereitet, und dass es vor allem einen Mangel an Personal und an Schutzausrüstung gäbe. Von den 18 Millionen Menschen, die von Januar bis März nach Großbritannien kamen, wurden weniger als 300 in Quarantäne geschickt. Am 12. März beendete die Regierung die Massentestungen und die Kontaktnachverfolgung.
Johnson hatte bereits am 3. Februar seine Prioritäten skizziert in einer Rede, die sich auf Twitter blitzschnell verbreitete:
„... und wenn ein Risiko besteht, dass neue Krankheiten wie das Coronavirus eine Panik auslösen und ein Wunsch nach Abschottung der Märkte, der über das medizinisch Vernünftige hinausgeht und ernsthaften und unnötigen wirtschaftlichen Schaden anrichtet, dann braucht die Menschheit in dem Moment irgendwo eine Regierung, die Willens ist, zumindest ein kraftvolles Zeichen zu setzen für freien Austausch. Ein Land, das bereit ist, die Clarke Kent Brille abzunehmen, in die Telefonzelle zu springen und mit wehendem Umhang wieder herauszukommen als der superstarke Verteidiger des Rechts der Völker dieser Erde auf freien Warenaustausch. Und ich versichere Sie in aller Bescheidenheit, hier in Greenwich, in der ersten Februarwoche 2020, dass das Vereinigte Königreich bereit ist, diese Rolle zu übernehmen.“
Johnsons Bekenntnis zum freien Warenaustausch und seine Ansichten bezüglich der Gefahr der Überbevölkerung passten zu seiner laxen Art des Umgangs mit der Pandemie. Etliche rechte Kommentatoren warnten vor einem Schaden für die Wirtschaft, und waren eher geneigt, die Alten und Kranken sterben zu lassen im Sinne des Gesamtwohls.
Laut der Sunday Times vom 22. März umriss der Berater des Premierministers, Dominic Cummings bei einem privaten Treffen Ende Februar die Strategie der Regierung.
„Augen- und Ohrenzeugen berichten, die Strategie sei Herdenimmunität, Schutz der Wirtschaft, und sollten dadurch einige Rentner sterben, nun, was für ein Pech'.“
Die britische Regierung ließ zu, dass sich das Coronavirus ausbreitete und eine durch die Sparpolitik bereits geschwächte Bevölkerung heimsuchte.
Wissenschaftliche Untersuchungen schätzen, dass allein die Sparpolitik zu einer Übersterblichkeit von 120.000 Menschen geführt hat, wie auch zu einer verringerten Lebenserwartung und einer höheren Säuglingssterblichkeit.
Eine Politik, die beabsichtigt, das teure, dysfunktionale aber höchst profitable US-Gesundheitssystem zu kopieren, verursacht zwangsläufig viele weitere vermeidbare Todesfälle. Die Untätigkeit der Regierung war vollkommen konsequent und bewusst, getrieben von Profitdenken, nicht von dem Ziel, Leben zu retten.
Vietnam, mit seiner Landgrenze zu China und einer Bevölkerung von 96 Millionen Menschen hatte keine Corona Todesfälle zu vermelden. Der indische Staat Kerala mit einer Bevölkerung von 34 Millionen Menschen verzeichnete bis zum 14. Mai nur sechs Todesfälle. Beide Beispiele legen Zeugnis ab für die Wirksamkeit einfacher, intensiver Maßnahmen, die die Ausbreitung der Krankheit drastisch reduzieren, und Leben retten konnten.
Großbritanniens Ansatz, wertvolle Vorbereitungszeit verstreichen zu lassen, widersprüchliche Botschaften auszusenden und das Risiko herunterzuspielen, hatte völlig andere Auswirkungen.
Intensivstationen füllten sich mit Coronavirus-Patienten, und in der Spitzenzeit starben annähernd 1.000 Menschen pro Tag. Ärzten und Pflegepersonal standen keine angemessenen Vorräte an Schutzausrüstung zur Verfügung, und es wurde berichtet, dass einige auf Plastik-Müllbeutel und selbstgemachte Masken zurückgriffen.
In einer BBC Panorama-Dokumentation wurde gezeigt, wie eine Entscheidung der Regierung, das Coronavirus als Infektionskrankheit herunterzustufen von „sehr bedeutend“ auf „weniger bedeutend“, zu neuen Empfehlungen dergestalt führte, dass das Krankenhauspersonal lediglich Plastikschürzen und Gesichtsmasken aus Papier tragen solle.
Eine Pandemie-Übung im Jahre 2016 hatte offenbart, dass zu wenige Beatmungsgeräte zur Verfügung standen. Die Empfehlungen des Berichts wurden nicht umgesetzt. Wenn man sich nicht vorbereitet, dann ist man zum Scheitern verurteilt. Diesen Preis mussten mehr als 220 Ärzte und Pflegekräfte zahlen, die bislang am Coronavirus verstorben sind.
Es geschahen mehrere Tragödien. Auf Intensivstationen kämpften Menschen um ihr Leben, das Virus verbreitete sich ungehindert, aber am erschütterndsten war das Schicksal gefährdeter älterer Menschen in Pflegeeinrichtungen. Anstatt einen „Schutzring“ um sie herum zu errichten, wie von Gesundheitsminister Matt Hancock behauptet, wurden Patienten in Pflegeeinrichtungen abgeschoben, ungeachtet einer Diagnose auf Coronavirus oder eines Tests, eine Praxis des „eisernen Besens“, um freie Kapazitäten in den Krankenhäusern zu schaffen.
Ein Kardiologe beschrieb es so: „Unsere Strategie bestand darin, das Virus sich austoben zu lassen, und dann die ‚Älteren abzuschirmen‘. Man weiß nicht, ob man lachen soll oder weinen, wenn man das vergleicht mit dem, was wir wirklich taten.
Wir schoben bestätigte Fälle, Verdachtsfälle und unbekannte Fälle in unvorbereitete Pflegeeinrichtungen ab, ohne formale Warnung, dass die Patienten infiziert seien. Diese Pflegeheime verfügten weder über Testmöglichkeiten noch über die nötige Schutzausrüstung, um eine Übertragung zu verhindern. Das Virus wurde von uns aktiv genau in die Bevölkerungsgruppe hineingetragen, die am verletzlichsten ist.
Wir ließen diese Menschen sterben ohne Schmerzlinderung. Die offizielle politische Strategie war, in Pflegeeinrichtungen keine Visiten zu machen — und sie machten keine (und tun es bis heute nicht).
Nachdem wir sie also mit einer Krankheit angesteckt hatten, die zu einem bösen Ende führt, verweigerten wir unseren älteren Menschen den Zugang zu einem Arzt — verweigerten Besuche beim Hausarzt — und verweigerten die Aufnahme in ein Krankenhaus. Einfache Dinge wie Flüssigkeit wurde ihnen vorenthalten. Wirksame palliativ-medizinische Möglichkeiten wie Spritzenpumpen wurden ihnen vorenthalten.“
Während wir den 75. Jahrestag der Befreiung feierten, wurde die Generation, die die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges durchlebt hatte, auf direkte und indirekte Weise dahingerafft. Eine Schätzung spricht von 22.000 Todesopfern.
Eine epidemiologische Modellierung des Imperial College, die der Regierung und sachverständigen Beratern am 12. März vorgelegt wurde, prognostizierte nun, dass über 250.000 Menschen sterben könnten, sollte an dem Plan zur Herdenimmunität festgehalten werden und äußerten dringenden Handlungsbedarf.
Andere europäische Länder hatten Schulen und Universitäten geschlossen. Unter wachsendem Druck aus der Öffentlichkeit und den Medien dauerte es dennoch weitere 11 Tage, bevor Schulen geschlossen und Versammlungen im öffentlichen Raum verboten wurden. Es begann scheibchenweise ein partieller Lockdown, aber er war zu zaghaft, zu spät.
Bauarbeiter wurden als systemrelevant eingestuft und durften weiter arbeiten. Das öffentliche Nahverkehrsangebot in London wurde reduziert, was zu überfüllten Zügen und Bussen führte. Ein Lockdown ist ein stumpfes Schwert, wenn er nicht flankiert ist von den notwendigen Maßnahmen wie Testungen, Kontaktverfolgung und wirksamer Isolation. Es wurde weiterhin die Strategie der Herdenimmunität verfolgt, nur unter einem anderen Namen.
Da jegliche gesundheitliche Routineversorgung ausgesetzt war, hatte sich die Arbeitsbelastung für Allgemeinärzte und Krankenhauslabore des NHS drastisch reduziert. Es standen öffentliche Mittel zur Verfügung für den landesweiten Aufbau dezentraler integrierter Teststellen und Labore mit erfahrenem Personal unter Nutzung bestehender IT-Systeme.
Diese Möglichkeiten wurden aber ignoriert, und stattdessen wurden drei neue öffentlich-private Lighthouse Labs installiert, die, wie auf ihrer Website angegeben, „aktiv gefördert werden von den Pharmaunternehmen GSK und AstraZeneca, die Zugang bereitstellen zu Daten und Mitteln, um unsere Kapazitäten in Rekordtempo weiter auszubauen und zu vergrößern. Parallel zu dem Wellcome Trust ist eine umfangreiche Lieferkette für alles Nötige, einschließlich Amazon, Boots und Royal Mail eingerichtet worden, um weitere Ressourcen in unsere Einrichtungen zu bringen.“
Arztpraxen wurden übergangen zugunsten eines Netzwerks von 50 regionalen Teststellen, die von dem Facility-Management-Riesen Serco und der Unternehmensberatung Deloitte betrieben wurden. Menschen mit Verdacht auf Corona wurden an die telefonische Anlaufstelle und die Website der ausgelagerten 111-Notrufzentrale verwiesen. Erfahrene NHS-Ärzte wurden vom Krisenmanagement ausgeschlossen und durch unqualifiziertes Personal ersetzt, das sich an ein rechnergestütztes Flussdiagramm hielt.
Es wurden Verträge geschlossen mit Big Tech Firmen wie Microsoft, Google, Amazon Web Services, Palantir Technology UK und Fakulty. Eine umstrittene Tracing App der Firma Faculty wird auf der Isle of Wight in einem Pilotprojekt getestet, trotz Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes und der Cybersicherheit und trotz des Potentials einer schleichenden Ausweitung in Richtung Massenüberwachung.
Für jedes Problem sollte der Privatsektor eine Lösung bieten, statt des bewährten und erprobten öffentlichen Sektors, der nun brach lag. Die Option, eine zentrale Struktur im öffentlichen Gesundheitswesen wieder herzustellen wurde überhaupt nicht in Erwägung gezogen, während gleichzeitig Johnson stattdessen seine Privatisierungsaktivitäten verdoppelte.
Tägliche Anweisungen aus Downing Street offenbarten die geplante mediale Strategie.
Der dreizeilige Slogan „Bleibt Zuhause, Schützt den NHS, Rettet Leben“ war klar und wirksam, und die Mehrheit der Menschen beschränkte sich auf allernötigste Fahrten und Einkäufe, und arbeitete, wo möglich, von zuhause aus.
Ein Beurlaubungsprogramm garantierte 80 Prozent des Gehaltes für Millionen Menschen. Beunruhigend war allerdings, dass die Notaufnahmen einen deutlichen Rückgang ihres Betriebs verzeichneten, und 80 Prozent weniger Patienten mit Krebsverdacht von den Hausärzten eingewiesen wurden. Die „Bleibt Zuhause“-Parole und die Furcht vor Ansteckung führte zu einem indirekten Tribut an die Pandemie, auch weil Journalisten, mit wenigen Ausnahmen, die Regierungsbeschlüsse nicht scharf und eingehend prüften.
„Unter Führung der Wissenschaft“ wurde zu einem Standardausdruck, und einige von uns verstanden ihn so, dass diese Gruppe zukünftig möglicherweise als Sündenböcke würde herhalten müssen. Als der Epidemiologe Professor Neil Ferguson vom Imperial College öffentlich bloßgestellt wurde, weil er bei einem Liebschaftstreffen die Abstandsregeln nicht eingehalten hatte, war das keine große Überraschung. Es bot sich eine günstige Gelegenheit, seine Prognosen zu untergraben, die zu dem Lockdown geführt hatten.
Am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, waren die Medien in Feierlaune und verknüpften den Sieg über den Faschismus vor 75 Jahren mit dem Sieg über das Virus und einer zu erwartenden Lockerung des Lockdowns. Zwei Tage später kam Johnson diesem Wunsch nach in einer Rede an die Nation, mit einem neuen Slogan:
„Bleibt wachsam. Haltet das Virus unter Kontrolle. Rettet Leben.“
Zuhause zu bleiben wurde nicht mehr als notwendig erachtet.
Ungeachtet täglich neuer hoher Fallzahlen von ungefähr 20.000, unverhältnismäßig weniger Tests und nur minimaler Kontaktverfolgung, ermunterte die Regierung die Menschen wieder zur Arbeit zu gehen, und plante, die Schulen wieder zu öffnen. Tags darauf drängten sich all jene wieder in die öffentlichen Verkehrsmittel, die keine Alternative hatten oder die am dringendsten auf ihr Einkommen angewiesen waren.
Unabhängige Experten, die öffentlich ihre Kritik geäußert hatten, warnten vor einer zweiten Infektionswelle. Lehrkräfte und ihre Gewerkschaften verlangten nach klaren Plänen zur Risikominimierung und zur Einhaltung der Abstandsregeln — schwierig mit kleinen Kindern, die möglicherweise die Infektion weiter übertragen könnten in ihre Familien. Einige Journalisten reagierten darauf so, dass sie die Lehrkräfte als pflichtvergessen darstellten.
Als Folge eines Jahrzehnts der Sparpolitik sind kranke und alte Menschen sehr schnell aussortiert worden. Bei einer binären Wahlmöglichkeit hat selbst ein Narr eine Chance von 50 Prozent, etwas richtig zu machen. Bericht zur Einsatzbereitschaft bei einer Pandemie umsetzen: ja oder nein? Eine Strategie des Testens, der Nachverfolgung und der Isolation verfolgen: ja oder nein? Für angemessene Schutzausrüstung sorgen für alle, die sie benötigen: ja oder nein? Die Ausbreitung der Infektion auf die am stärksten gefährdeten Menschen in der Gesellschaft verhindern: ja oder nein? Bestehende öffentliche Kapazitätsreserven nutzbar machen zur Bekämpfung der Epidemie: ja oder nein? Dienstleistungsverträge mit Privatunternehmen abschließen, für die diese weder die Expertise noch die Erfahrung haben: ja oder nein? Eine ungetestete Tracking-App fürs Smartphone einführen trotz erheblicher Bedenken: ja oder nein?
Die ideologisch agierende britische Regierung hat die sozialen Determinanten der Gesundheitspolitik zum Schlechteren verschoben, und wiederholt Handlungsoptionen gewählt, die die Sterberate erhöhen mussten.
Die Strategie der Herdenimmunität ist weiterhin die Basis des Regierungshandelns. Die mitverantwortlichen Medien beschönigen weiterhin die vorsätzliche Schaffung einer Situation, die zu tausenden vermeidbarer Todesfälle geführt hat. Die Verantwortlichen genießen Indemnität, sind also geschützt vor strafrechtlicher Verfolgung für die Entscheidungen, die sie in ihrem öffentlichen Amt fällen.
Diese perverse Ungerechtigkeit muss aufhören. Dies ist die Pandemie, vor der Gesundheitsexperten immer gewarnt haben. Unsere einzige Verteidigungsstrategie kann nur eine gute Vorbereitung und eine rechtzeitige und robuste Reaktion sein. In dieser Hinsicht ist die Fehlleistung der Regierung gewaltig.
Die BBC und viele der Mainstream Medien haben in ihrer Aufgabe versagt, das Regierungshandeln kritisch zu begleiten und die führenden Personen zur Verantwortung zu ziehen. Deshalb gilt es, alternative Stimmen in der Medienlandschaft zu stärken und zu unterstützen. Wir alle können an einem Wandel mitarbeiten, indem wir anderen die Realitäten unserer gegenwärtigen schlimmen Lage erklären, und indem wir uns engagieren. Wir müssen den Zugriff der Big Tech-Unternehmen unterbinden, die versuchen, reale Dienstleistungen durch virtuelle, unerprobte Technologien zu ersetzen, die in sich ein offensichtliches Potential für Massenüberwachung und Kontrolle tragen.
Wir brauchen eine Graswurzelbewegung, um den Neoliberalismus zurückzudrängen, der zunehmend auf Autoritarismus zurückgreifen muss, um den Status quo zu erhalten.
Unmittelbar unterstützt werden sollten Menschen in Schlüsselberufen sowie Lehrkräfte, die das Ergreifen klarer und sicherer Maßnahmen fordern, bevor sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Hohe Dringlichkeit haben verstärkte Aufrufe zu Massentestungen, Nachverfolgung und Isolation. Und wir müssen Corona-infizierte Menschen unterstützen, damit sie in ihrer Isolation bleiben können und dadurch die Übertragungskette dieses Virus unterbrechen.
Dr. Bob Gill hat den preisgekrönten australischen Journalisten John Pilger für seinen aktuellen Dokumentarfilm „The Dirty War on the NHS“ beraten. Er ist Allgemeinmediziner in London, NHS-Aktivist und Produzent des Films „The Great NHS Heist“. Sarah Gangoli ist eine NHS-Ärztin.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien unter dem Titel „Why Britain’s Covid suffering is a crime against humanity“ zuerst in Green Left Weekly, Australien. Er wurde von Matthias Thomsen aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.
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