Kennen Sie den Juden Robert Emil Weichselbaum? Nein? Das ist nicht weiter verwunderlich. Dieser Jude war nämlich nie einer. Was die Nationalsozialisten in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts aber nicht weiter interessierte. Ihre absurden Rassengesetze konstruierten sich Juden, wo und wie es ihnen gefiel. Und weil der Vater des kleinen Robert Ignatz Weichselbaum hieß und in der Tat mosaischen Glaubens war, wurde aus dem Münchner Buben mit einer evangelischen Mutter ein Jude. Punkt.
Mit Sicherheit kennen Sie aber Robert Emil Lembke. Sie kennen ihn nicht als Juden, sondern als „Rateonkel“. Sie kennen seine Sendung, seine „Schweinderl“ und seine Fragen. Sie wissen vielleicht auch, aber sicherlich eher weniger, dass er, nachdem er die Kriegsjahre in diversen Verstecken überlebt hatte, beim Aufbau der „Neuen Zeitung“ – heute bekannt als „Süddeutsche Zeitung“ – tätig war. Zusammen mit Erich Kästner, Hans Habe und Stefan Heym.
Was Sie vielleicht schon wieder wissen ist, dass er ab 1949 zum Bayerischen Rundfunk wechselte. Dort arbeitete er als Hörfunkchef, als stellvertretender Chefredakteur und Leiter der Nachrichtenabteilung. Beim „Wunder von Bern“, der Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz, assistierte er Herbert Zimmermann.
1956 wurde er Chefredakteur des BR, 1969 Geschäftsführer des Deutschen Olympiazentrums und er war für die Rundfunk- und Fernsehübertragungen bei den Olympischen Spielen 1972 in München verantwortlich. Danach kamen noch andere Funktionen hinzu, aber das Jahr 1972 ist durchaus wichtig für die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte. Ich wurde in diesem Jahr geboren. Drei Tage nach der Eröffnung der Olympischen Spiele.
Falls Sie sich wundern, warum ich mich für einen Nichtjuden mittlerer Statur, mit kahlem Kopf, in braven, meist in unauffälligen Brauntönen gehaltenen Anzügen interessiere, der panzerglasdicke Brillengläser brauchte, weil er sonst blind wie ein Maulwurf war, der ein Faible für hysterische Foxterrier hatte und das Image eines unpolitischen Urmünchners pflegte, der das Gestern genauso verschwieg wie alle anderen Deutschen, die sich durch die „Stunde Null“ in eine heile Welt entlassen sahen: Der kleine Mann war mein Großvater. Und ihm verdanke ich auch meinen Viertnamen: Olympia.
Ich weiß nicht allzu viel von diesem Mann. Er war vielbeschäftigt mit allen möglichen Dingen. Und ich mit meiner grenzenlosen Liebe zu ihm. Was wir immer schon teilten, war eine tiefe Zuneigung zu Büchern, zu Sprachen und zu Schweizerschokolade.
Was uns beide aber weit mehr eint, als ich es mir je träumen lassen hätte, ist die Tatsache, dass unser Land, unsere Stadt, uns zu Menschen macht, die wir nicht sind.
Was im Falle meines Großvaters nicht so schlimm gewesen wäre, hätte sich das politische System, in dem er zu leben gezwungen war, sich nicht der Vernichtung der Juden verschrieben. Ein Jude zu sein ist ansonsten wie ein Katholik zu sein. Oder ein Protestant.
Mein Großvater hatte sich, als er wieder leben und sich entscheiden durfte, für den Journalismus entschieden. Ich mich dagegen. Ich war eine politische Journalistin. Ich habe in London Politik studiert. Mit Schwerpunkt auf dem Nahostkonflikt. Ich habe über 20 Jahre immer wieder in Israel und in den vom israelischen Staat besetzten Gebieten gelebt, studiert und gearbeitet. Ich habe dort Dinge erlebt, israelische Militärgewalt, Zerstörung von palästinensischem Hab und Gut, Vertreibung von Palästinensern und Auswüchse von israelischem Rassismus und Arroganz, dass ich heute noch Alpträume habe.
Aber keine Zeitung wollte drucken, was ich vor Ort recherchierte. Die Hasenfüßigkeit vieler Redakteure war erschreckend, ihre Unwissenheit häufig nicht minder.
Aber am größten war ihre Angst. Angst, eine Israellobby zu irritieren, der es in den letzten Jahren aufs Vortrefflichste gelungen ist, jegliche Kritik an der Politik Israels als ,antisemitisches Geschmiere‘ zu bezeichnen.
Man kann dieser Lobby aus Zionisten, Evangelikalen, Jüdischen Gemeinden, Antideutschen und Israelapologeten auf der ganzen Welt nur „Chapeau!“ zurufen, so erfolgreich waren ihre Bemühungen. Ich habe daraufhin beschlossen, keine Journalistin mehr sein zu wollen.
Und so komme ich zum Ende meiner Geschichte. In München und in anderen deutschen Städten – aber die interessieren mich gerade weniger – dürfen seit Monaten keine Menschen mehr in öffentlich-städtischen Räumen auftreten, die Israel kritisieren, weil behauptet wird, sie wären alle Antisemiten, würden das Existenzrecht Israels in Frage stellen.
All jenen, die sich nach der Bitte der palästinensischen Zivilgesellschaft, nachdem aller andere Protest nicht gewirkt hat, entschieden haben, die Besatzungsmacht wirtschaftlich und kulturell zu boykottieren, wird vorgeworfen, alten, hässlichen Antisemitismus in neuen Kleidern spazieren zu tragen.
Israelische Journalisten dürfen daher nicht erzählen, wie in ihrer Heimat die Menschenrechte der Nichtjuden mit Füßen getreten werden. Menschenrechtler dürfen dies ebenso wenig berichten wie Menschen jüdischen Glaubens. Diese werden schlicht als „selbsthassende Juden“ diffamiert. Und das in einem Land, in einer Stadt, in der zunehmend das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, Artikel 5 unserer feinen Verfassung, ausgesetzt wird. Weil manche das so wollen, weil sie so lange etwas behaupten, bis sie es zur Wahrheit polemisiert haben.
Unterstützt werden sie von Stadtpolitikern, die die Verhältnisse vor Ort nicht kennen, politischen Selbstmord fürchten und eingeschüchtert und unsicher sind im Umgang mit dem jüdischen Staat und seiner permanent rechtbrechenden Politik. Die größte Vernichtung jüdischen Lebens in Europa, durchgeführt von Deutschen, verstehen sie als persönliche Schuld, und sie verbieten jedem, sich – auch auf Basis internationalen Rechts – mit der Politik Israels öffentlich auseinanderzusetzen.
Mein Großvater und ich, wir wurden beide in der Stadt an der Isar geboren. Er in Schwabing, ich in Neuhausen. Mein Großvater lebte dort fast sein ganzes Leben und starb auch hier. Ich habe weniger Leben in München verbracht, ob ich hier sterben werde, weiß ich noch nicht. Was ich aber weiß, ist, dass diese, unsere Stadt, die „Hauptstadt der Bewegung“, das „Millionendorf“, die „nördlichste Stadt Italiens“, die Stadt des zelebrierten jährlichen Massenbesäufnisses, uns zu dem macht, was ihr gerade einfällt oder ihr eingeflüstert wird: Meinen Großvater zu einem Juden. Und mich zu einer Antisemitin.
Wir waren weder das eine, noch sind wir das andere. Aber das scheint unsere Stadt nicht zu interessieren.
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