„Ich sehe das jetzt eigentlich als den Fall Skripal 2.“ Das meint Walter Katzung, international rennommierter Chemiewaafenexperte, zu dem Fall des angebich vergifteten russischen Anwalts und Aktivisten Alexei Nawalny. Im Gespräch sagte er:
„Das läuft nach der gleichen Methode ab. Wenn man die Mitteilungen verfolgt, merkt man, dass es einen großen Widerspruch gibt. Die russischen Behörden und Institute behaupten von Anfang an, dass sie in den Blutproben und anderen biologischen Proben von Nawalny keinerlei Giftstoffe, die in diese Richtung deuten, gefunden haben.“
Katzung verwies auf eine Mitteilung aus dem Moskauer Toxikologischen Institut, dass dort das neueste US-Massenspektrometer eingesetzt werde. Dabei werde mit der aktuellen Spektrum-Bibliothek NIST gearbeitet, die von dem NIST-Institut in den USA kommt. Damit sei in den Proben von Nawalny nichts festgestellt worden.
Dagegen habe nun das Labor an der Bundeswehr-Akademie in München erklärt, es habe in den Nawalny-Proben aus der Berliner Charité eine Substanz aus der Nowitschok-Gruppe gefunden. Das Bundeswehrlabor arbeite garantiert auch mit gleichwertigen hochauflösenden Geräten und mit der gleichen aktuellen US-NIST-Spektrum-Bibliothek, so Katzung. Es sei aber nicht gesagt worden, welcher von den zahlreichen Nowitschok-Stoffen gefunden wurde. Der Experte betonte, er zweifle absolut nicht an den Aussagen und der fachlichen Wahrhaftigkeit der Wissenschaftler in München. Doch es bleibe für ihn die Frage, wie der Nervenkampfstoff in die Probe von Nawalny kam.
Katzung erinnerte an die Fragezeichen im Fall Skripal: So ist bis heute nicht einmal das weitere Schicksal des Ex-Agenten bekannt. Ebenso unbekannt ist, wer die Skripals mit der später im Labor in Porton Down festgestellten Nowitschok-Substanz vergiftet hat. Der Bericht der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) spricht nur von „einer toxischen Substanz“. Doch in beiden Fällen, Skripal und Nawalny, ist angeblich klar, dass nur Russlands Präsident Wladimir Putin dahinter stecken kann. Katzung hat an dieser vermeintlichen Klarheit deutliche Zweifel.
Viele Fragezeichen
Er sieht „viele Fragezeichen“ im Fall Nawalny und dessen angeblicher Vergiftung am 20. August. Dazu gehöre, dass der russische Anwalt und Aktivist als ein äußerst vorsichtiger Mensch gelte. So habe er immer mehrere Hotels für Übernachtungen vorbestellt, aber jeweils kurzfristig ganz woanders geschlafen. Sein Umfeld, sein Stab, sei immer um ihn herum gewesen. Das müsse auch der Fall gewesen, als Nawalny auf dem Flughafen von Omsk einen Tee bestellte und trank.
Das Gift hätte von der Bedienung an der Bar zum Beispiel unter dem Tisch oder anderswo eingefüllt werden müssen. „Das wäre doch dem auf Vorsicht und Sicherheit achtendem Nawalny-Umfeld aufgefallen“, meinte der Experte dazu. „Dazu kommt bei einem solch hochgiftigen Stoff auch der Selbstschutz des Vergifters — auch wenn nur kleinste Mengen zu händeln sind.“
Es sei unwahrscheinlich, dass das im Flugzeug geschah. Dort habe Nawalny laut den Berichten nichts mehr zu sich genommen. Kurz nach dem Start in Omsk sollen schon die ersten Symptome aufgetreten sein. Für den Experten ist die Frage: „Wie ist das angebliche Gift in den angeblichen Tee gekommen, wo doch alle rundum genau aufgepasst haben?“ Eine andere Frage sei, warum die russischen Mediziner in Omsk bei Nawalny kein Gift fanden, in der Berliner Charité aber etwas gefunden wurde.
Ihn mache nach dem gemeldeten Analyseergebnis aus München von einer Nowitschok-Substanz noch etwas „sehr stutzig“: Die Charité habe dem russischen Politiker mit Atropin nur ein symptomatisches Gegengift (Antidot) verabreicht, das üblicherweise im Rahmen der Ersten Ärztlichen Hilfe und unterstützend gegeben wird. Das sei auch schon in Omsk geschehen. Das Mittel wirke bei Vergiftungen mit Cholinesterase-Hemmstoffen, zu denen die Nowitschok-Stoffe gehören, nur gegen die Symptome, nicht gegen die Ursache der Enzymhemmung.
„Wenn man ihn in der Charité angeblich nur mit Atropin behandelt, kann ich das überhaupt nicht verstehen — oder man legt aus informationstaktischen Gründen wie analog zum Fall Skripal die Klinik Salisbury die Therapie bewusst nicht offen.
Denn bei der bekannten Giftigkeit von Nowitschoks hätte er das nach aktuellem Kenntnisstand gar nicht überleben dürfen bisher.
Oder er hat nur sehr wenig aufgenommen, doch das erklärt wiederum das Koma nicht. Also irgendwo beißen sich hier die veröffentlichten Tatsachen. Leider sind umfänglichere verifizierbare Fakten Mangelware.“
Unklare Umstände
Soweit bekannt gebe es gegenwärtig kein sogenanntes kausales Antidot gegen Nowitschoks, erklärte der Experte. Deshalb werde in solchen Fällen bisher auf entsprechende Mittel, die Cholinesterase-Reaktivatoren, zurückgegriffen, die bei Vergiftungen mit phosphororganischen Stoffen, militärisch die G- und V-Kampfstoffe, eingesetzt werden. Die alleinige Behandlung Nawalnys mit Atropin, von der die Charité am 24. August sprach, sei unverständlich. „Das widerspricht den herkömmlichen Erkenntnissen.“
Die Nowitschok-Kampfstoffe hätten den gleichen strukturellen Aufbau wie die G- und V-Stoffe, so Katzung. Sie seien aber aufgrund ihrer speziellen Struktur noch wesentlich giftiger. Eine Vergiftung mit einem Nowitschok-Kampfstoff direkt im Umfeld von Nawalny hätten dessen Begleitpersonen nicht unbeschadet überstanden. Sein Stab habe sich ja intensiv, auch körperlich nahe, um ihn gekümmert. Das habe schon zu den Merkwürdigkeiten der offiziellen Erklärungen zum Skripal-Fall gehört.
„So wie der Vergifter braucht auch der Helfer Selbstschutz. Diese Stoffe gehen auch durch die Haut, sie sind perkutan wirksam. Das wissen wir aus dem 1995 erfolgten Mordfall an dem russischen Bankier in Moskau, wobei er und seine Sekretärin durch Anfassen des vergifteten Telefonhörers ums Leben gekommen sind. Nowitschok-Stoffe wirken auch inhalativ — das scheidet hier sicher aus — und natürlich auch oral, bei der Aufnahme mit Essen oder Trinken.“
An dem Ort, wo Nawalny mutmaßlich mit dem Tee das angebliche Gift aufnahm, hätten sich die mutmaßlichen Täter selbst schützen müssen. „Das wäre ja dort aufgefallen, wenn da jemand mit Handschuhen oder Maske hantiert. Da muss man irgendwie stutzig werden. Das gab es aber nicht.“
Fehlende Transparenz
„Nun steht Meinung gegen Meinung. Aus meiner Sicht wäre es nun Aufgabe der Bundesregierung, die immer auf absolute Transparenz dringt, die Transparenz zu gewährleisten. Nicht nur zu sagen, da wurde etwas gefunden, sondern die Analyseergebnisse offenzulegen.“
Die russische Generalstaatsanwaltschaft habe vor Tagen ein Ermittlungsersuchen an die Charité geleitet und um die Behandlungsunterlagen gebeten. Russland sei ebenso an den Analyseergebnissen interessiert. „Bisher hat die Bundesregierung das alles verweigert.“
Der aus der DDR stammende Experte hat mehrere Jahre in der forensischen Chemie sowie militärtoxikologisch gearbeitet und war auch gutachterlich tätig. Auf die Frage, ob die russische Bitte einem üblichen Verfahren entspricht, sagte er:
„Das ist völlig normal und ‚lege artes‘, entspricht also den Regeln. Es geht um einen gerichtsfesten, von unbeteiligten Dritten nachprüfbaren und nachzuvollziehenden Nachweis bzw. Beweis, so wie das von jedem Gutachter gefordert ist. Die russische Generalstaatsanwaltschaft und Polizei, sogar schon in Omsk, haben ja kurz nach Bekanntwerden der Vergiftungsvermutungen angefangen, selbst zu recherchieren. Somit ist das aus meiner Sicht völlig legal und trägt natürlich auch zu einer wirklichen Aufklärung bei.“
Aus Sicht von Katzung steht auch im Fall Nawalny die Frage nach dem Cui bono, die Frage, wem ein Verbrechen nutzt.
„Das schadet Russland in jedem Maße. Da sind die harten Auseinandersetzungen in der EU und in der Nato gegen die Bundesrepublik wegen des Baus der Pipeline Nord Stream 2. Das sehe ich an erster Stelle. Zweitens ist da der Wahlkampf von Trump. Der braucht Erfolgserlebnisse und der will sein Fracking-Gas verkaufen. Das wäre ein Erfolg, auch ein wirtschaftlicher, wo die USA-Wirtschaft ja ziemlich heruntergefahren wurde und auch schon Fracking-Unternehmen pleite gegangen sind.“
Hinzu kämen die üblichen Falken in der bundesdeutschen und europäischen Politik. Zu Ersteren gehören für ihn die Grünen, zu den anderen Polen, Ukraine und die baltischen Staaten. Diese würden die relativ gemäßigte Russland-Haltung der Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisch sehen. Die aktuelle Situation in Belarus gehöre ebenfalls dazu, wo dem Anschein nach versucht werde, dort ukrainische Verhältnisse zu schaffen.
„Das fällt ja auf, dass in solcher schwierigen Situation genau so was passiert, was eigentlich nur Russland schaden kann. Russland hätte ja dann, wenn das absehbar ist, die Ausreise gar nicht genehmigen brauchen. Sind Verantwortliche dort wirklich so unbedarft, um es höflich auszudrücken, so ein Echo loszutreten?“
Politischer Hintergrund
Zu den Äußerungen bundesdeutscher Politiker meinte er:
„Ich kann nicht immer bloß Anschuldigungen von mir geben, wenn ich die nicht belege. Demzufolge sollte man die Analyseergebnisse offenlegen.“
Schon beim Fall Skripal seien die Analyseergebnise nicht offengelegt worden. Erst nach Verhandlungen innerhalb der OPCW seien den Mitgliedsländern die Testergebnisse übermittelt worden. Aber für die Öffentlichkeit habe es nur ein Kommuniqué gegeben. Das habe die Tatsache der Vergiftung der beiden Skripals bestätigt, aber nichts zu den Analyseergebnissen gesagt. Aber selbst dieses Vorgehen fehle nun im Fall Nawalny.
Zur Frage, warum die Fakten nicht offengelegt werden, sagte der Experte: „Ich sehe da nur einen politischen Hintergrund. Es ist auffällig, dass diese Sache Nawalny ähnlich wie die Sache Skripal zu einem politisch angespannten Zeitpunkt auftaucht. Hier sind wirtschaftliche und politische Interessen miteinander vermengt.“
Katzung wundert sich, warum sich die Bundesregierung diese Probleme selbst „an den Hals geholt hat“, indem sie auf die Ausreise von Nawalny aus Russland nach Berlin in die Charité gedrungen hat. „Interessant ist, dass die russische Regierung, selbst Putin, gesagt hat: Dem steht überhaupt nichts entgegen. Und wenn ich etwas verbergen will, hätte ich das nicht genehmigt.“
„Hier laufen eine ganze Menge politischer Situationen zusammen, die gegeneinander stehen. Ich denke, dass hier die Politik versucht, zu dominieren, und die wirklichen Fakten dabei hinten runter fallen.“
Westliche Kenntnisse
Katzung erinnerte daran, das die in der Sowjetunion entwickelten Nowitschok-Kampfstoffe dem Westen seit Anfang der 1990er Jahre bekannt sind. Die USA haben 1992 ausführliche Informationen vom Überläufer Wil Mirsajanow erhalten. Sie haben zudem damals die entsprechende Produktionsanlage in Nukus südlich vom Aral-See im heutigen Usbekistan auf Bitten von dessen Regierung abgebaut. Das geschah laut Katzung „ohne internationale Kontrolle“. Die USA hätten verständlicherweise vor allem Interesse am Wissen um die Kampfstoffe gehabt, erklärte er im Gespräch.
Deshalb sei das damalige angebliche westliche Nichtwissen um den angeblich im Skripal-Fall eingesetzten Nowitschok-Stoff A 234 erwiesenermaßen nur vorgetäuscht gewesen. 2018 berichteten bundesdeutsche Medien, dass auch der Bundesnachrichtendienst (BND) sich in den 1990er Jahren Nowitschok-Proben aus Russland organisierte.
Katzung wies ebenso darauf hin, dass die OPCW 2016 vier iranische Wissenschaftler beauftragte, Stoffe aus der Nowitschok-Gruppe zu synthetisieren. Ziel sei gewesen, die Nachweismethoden zu entwickeln, um bei eventuellen künftigen Zwischenfällen mit diesen Giftstoffen diese schnell bestimmen zu können.
Viele Unklarheiten
Der Experte verwies auf eine Merkwürdigkeit im aktuellen Fall Nawalny: Nur in einer Meldung der russischen Nachrichtenagentur Interfax sei ein Stoff genannt worden, der angeblich in den Proben des angeblich vergifteten Politikers gefunden worden sei.
Danach habe die Polizei von Omsk mitgeteilt, sie habe bei Nawalny den Stoff 2-Ethylhexyl-Diphenylphosphat gefunden. Das ist laut Katzung an sich ein relativ ungefährlicher Stoff. Er werde in der Regel Kunsstoffen als Flammenhemmer hinzugesetzt.
Dieser Stoff könne aber als Komponente für hochgiftige Bicyclo-phosphororganische Verbindungen dienen, von denen einige die Gefährlichkeit der bekannten Nervenkampfstoffe einschließlich der Nowitschoks weit übersteigen. Allerdings steht bei ihnen die Cholinesterasehemmung nicht im Vordergrund. Das Opfer erleide in der Folge schnell heftige Krämpfe, die angeblich bei Nawalny beobachtet wurden. Der Experte ist aber nicht sicher, ob die entsprechenden Informationen zu dem gefundenen Stoff korrekt sind und ob dem Polizeilabor in Omsk eventuell ein Fehler unterlief.
Gefragt, was aus seiner Sicht im Fall Nawalny als gesichert gelten kann, sagte Katzung:
„Sicher ist nur, dass er schwerkrank ist. Gut, man hat diesen Stoff gefunden. Wie er dahin gekommen ist, weiß niemand im Augenblick.“
Er erinnerte an den Fall des 2004 bei einem Giftanschlag verletzten ukrainischen Präsidentschaftskandidaten Viktor Juschtschenko. Später wurde berichtet, dass damals Juschtschenkos Blutproben nach der Entnahme mit einem Dioxin versetzt wurden, bevor sie offiziell untersucht wurden.
Es sei berichtet worden, „dass die Proben von Juschtschenko in die USA geflogen wurden und dort mit Dioxinen, das ist ja eine ganze Gruppe, versetzt wurden, und dann erst wieder zur eigentlichen Untersuchung kamen. Juschtschenko hat einige Jahre später gesagt: Er wisse darum, aber er könne dazu nichts sagen. Eine Mitarbeiterin der Kiewer Generalstaatsanwaltschaft, Larissa Tscherednitschenko, hat in der ukrainischen Zeitung Segodnja darüber berichtet. Die Veröffentlichungen liegen vor.“
Das weise in eine mögliche Richtung auch im Fall Nawalny, wofür es aber derzeit keine Belege gebe. Katzung meinte abschließend im Gespräch:
„Es gibt derzeit keinen Beleg für die schnellen Erklärungen, was mit Nawalny passiert ist. Und wenn irgendwo ein Wasserhahn tropft, ist immer Putin schuld.“
Dr. Walter Katzung im März 2018 bei einem Vortrag
Dr. Walter Katzung, Jahrgang 1942, war mehrere Jahre im Chemischen Dienst der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR und als Leiter der Unterabteilung (UA) Chemischer Dienst des Ministeriums für Staatsicherheit (MfS) tätig. Später arbeitete er als Wissenschaftler mit dem Status „OibE“ (Offizier im besonderen Einsatz) an der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin, im Fachbereich Forensische Chemie. Nach dem Untergang der DDR war er als Toxikologe freiberuflich und als Projektleiter in einer Kampfmittelbeseitigungsfirma, Bereich Chemiewaffen, tätig und wurde als solcher von nationalen Behörden und von internationalen Organisationen auch als Chemiewaffenexperte angefragt. Weitere Informationen zu Dr. Katzung sind hier am Ende eines Beitrages bei Sputniknews zu finden.
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