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Vergessliche Gedenkkultur

Vergessliche Gedenkkultur

Im Herbst wird in Deutschland jedes Jahr an eine Reihe historischer Ereignisse erinnert — man lässt jedoch alles, was für die DDR wichtig war, gern unter den Tisch fallen.

An wenigen Kalendertagen in einem Jahr häufen sich erstaunlicherweise ganz verschiedene historische Ereignisse. In Deutschland ist solch ein Tag der Häufung von historischen Begebenheiten etwa der 9. November, in Amerika der 11. September, auch wenn ich persönlich gestehen muss, an diesem Tag alle Jahre zuerst den Tod von Salvador Allende 1973 im Präsidentenpalast La Moneda von Santiago de Chile zu betrauern und erst dann auch an „9/11“ zu denken. Für viele Menschen in Ostdeutschland ist auch heute noch der 7. Oktober als „Tag der Republik“ unvergessen. Die aktuelle weltpolitische und innenpolitische Lage hat mittlerweile wohl überall in der Bundesrepublik spürbar werden lassen, dass viele Menschen in den Regionen der früheren DDR noch immer irgendwie anders ticken, auch wenn viele nicht begreifen wollen, warum das so ist.

Am 7. Oktober 1949 erfolgte seitens der damaligen Sowjetischen Besatzungszone im besiegten Deutschland die einzig mögliche Antwort auf die von den drei westlichen Alliierten lange, spätestens seit 1946, angestrebte Spaltung Deutschlands. Denn am 23. Mai 1949 war mit der Verabschiedung des im Auftrag der Westalliierten erarbeiteten Grundgesetzes der Bundesrepublik und am 7. September mit der Konstituierung des ersten Deutschen Bundestages in Bonn das Projekt der deutschen Spaltung vollendet worden. Das alles passierte trotz der zwischen den alliierten Siegermächten zäh errungenen Beschlüsse der Konferenzen von Teheran Ende 1943, in Jalta auf der Krim vom Februar 1945, der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 nach der Befreiung Deutschlands von der Nazidiktatur und schließlich noch des Potsdamer Abkommens Anfang August 1945, wo alle noch „ein Deutschland — samt Berlin — als Ganzes“ anzustreben vorgaben. Wirtschaftlich jedoch war 1949 die Spaltung Deutschlands im Westen längst vollzogen worden: durch die Bildung der angloamerikanischen Bizone zum 1. Januar 1947 und wenig später der gesamten westlichen „Trizone“ als „Vereinigtes Wirtschaftsgebiet“, schließlich mit der separaten Währungsreform im Westen am 20. Juni 1948.

Warum ist der 3. Oktober nun auch in diesem Jahr für viele frühere DDR-Bürger und deren Nachkommen ein denkwürdiger Tag, über den heute viele Bewohner im übrigen Deutschland noch etwas dazulernen könnten?

Wenige Tage vor dem 7. Oktober 1969, dem 20. Jahrestag der Gründung der DDR, wurde am 3. Oktober 1969 in Berlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, planmäßig der Berliner Fernsehturm eingeweiht. Die für Rundfunkausstrahlungen ohnehin günstige Lage im Zentrum Berlins bot als weiteren Zweck des Unternehmens den Start des regulären Sendebetriebs des Zweiten Deutschen Fernsehens der DDR in Farbe.

Und warum ist das heute erwähnenswert? Weil es sonst in Vergessenheit geraten könnte oder — wie manch andere Facette des Lebens in der DDR — in Vergessenheit geraten soll. So sagte mir tatsächlich unlängst ein ansonsten sowohl politisch aufgeweckter als auch historisch interessierter Bekannter aus den „alten Bundesländern“ in unerschütterlichem Ernst, der Fernsehturm am Alex sei doch von West-Architekten gebaut worden.

So vieles wurde im Sinne der Verfälschung von DDR-Geschichte bereits aus den Hirnen gewaschen oder unablässig mit Zerrbildern in die Köpfe projiziert.

Das ist auch kein Wunder angesichts der heutigen „gesamtdeutschen“ Lehrinhalte und Schulbücher besonders für nachwachsende Generationen und erst recht angesichts tendenziöser Informationen aus dem Internet wie auch bei Wikipedia. Über die frühere DDR wird nach Belieben hergezogen, ganz ähnlich zu der diesem Staat heute vorgeworfenen Indoktrination, denn es ist wie schon zu Zeiten Roms: Sieger schreiben die Geschichte um, auch wenn sich die Balken biegen. Dann kann es auch gar nicht sein, dass erstens die DDR solch einen Turm überhaupt zustande bekommt und auch noch dort hinsetzen konnte, wo er Dutzende Kilometer weit — auch aus Berlin-West — nicht zu übersehen ist.

Und zweitens ist es außerdem verwunderlich, dass man dieses „Ding“ dann bis heute auch noch stehen gelassen hat, statt dieses Andenken schleunigst zu entsorgen — wie etwa den einstigen „Palast der Republik“ am heutigen Humboldt-Forum, das mit den Humboldt-Brüdern weit weniger zu tun hat als mit den Hohenzollern. Der Sieger schleift die Geschichte und die Zeugnisse der Verlierer, bis alles glatt und rund im erwünschten Glanz erstrahlt. Und dieser Turm aus DDR-Beton ist seit nunmehr über einem halben Jahrhundert nicht einmal von selbst umgefallen — obwohl es Gelegenheit dafür durch Ausläufer der Bodenwellen von Erdbeben gab.

Heute scheint die Geschichte des Wiederaufbaus von Berlin bei den Berlinern fast vergessen oder ihnen nicht mehr bekannt oder bewusst zu sein — erst recht vielen Zugezogenen und den Touristen. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, mit all den Verheerungen der deutschen Wehrmacht in nahezu ganz Europa seit 1939, war der Krieg als Bombenkrieg der Alliierten gegen deutsche Städte zurückgekehrt; auch Berlin lag in Schutt und Asche, insbesondere auch das Zentrum um den Alex.

Faschistische Durchhalteparolen zum Straßenkampf gegen die von allen Seiten rund um die Stadt vorrückende sowjetische Rote Armee hatten der Stadt bei der Befreiung den Rest gegeben, es blieb für Jahre eine schier endlose Ruinenlandschaft.

In Ost wie West mussten jahrelang in der Nachkriegszeit mühsam Trümmer weggeräumt werden, wurden bergeweise zusammengekarrt und aufgeschüttet — vom Berliner schnoddrig „Mont Klamott“ genannt. Und es waren reichlich Trümmer da, sogar genug für mehrere besonders stattliche Berge: für den Großen Bunkerberg im Volkspark Friedrichshain im Ostteil unweit vom Alex, aber auch für den „Insulaner“ in Schöneberg und den Teufelsberg im Grunewald wie auch viele weitere kleinere Trümmerberge. „Auferstanden aus Ruinen“ wuchs in Ostberlin Jahr für Jahr nach der Gründung der DDR wieder eine nun separate deutsche Hauptstadt für diese jetzt abgetrennte, andere Republik. Nicht nur der neue Lebensmut und der feste Wille vieler Überlebender und Heimkehrer nach dem Krieg, sondern auch der Ideenreichtum namhafter Architekten half dabei, mit der DDR den Versuch einer neuen Ordnung in der Gesellschaft zu wagen. Damit sollte auch diese Stadt wieder zum Leben erweckt und immer lebenswerter aufgebaut werden.

Der Kalte Krieg und ein heute geradezu skurril erscheinender Viermächte-Status von Berlin — in seiner Mitte mit einer Trennlinie zwischen den zwei größten Militärblöcken weltweit, der NATO und den Warschauer Vertragsstaaten — ließen in dieser geteilten Stadt Berlin damals gar nichts anderes zu, als nun de facto zwei Stadtzentren zu errichten. Dabei befand sich im sowjetisch besetzten Ostberlin — wohl wegen des unaufhaltsamen Vormarschs und des damit absehbaren Löwenanteils und Blutzolls der Roten Armee bei der Befreiung Berlins — auch der mittelalterliche Stadtkern um die Marienkirche, Nikolaikirche und Petrikirche zwischen dem Königstor am Friedrichshain und dem Brandenburger Tor in Richtung Tiergarten. Also war das eigentliche Zentrum Berlins durch die vier Siegermächte dem „Ostsektor“ zugesprochen worden.

Wen wundert es, dass in der DDR — ohne ein „Wirtschaftswunder“ dank Marshall-Plan, stattdessen auch trotz aller Reparationszahlungen der DDR an die zerschundene UdSSR — die Ressourcen für den Wiederaufbau knapp waren? Für das nahezu vollständig zerbombte Schloss der Hohenzollern-Dynastie im Zentrum jedenfalls fehlten sowohl ökonomisch die Mittel als auch politisch der Wille — und so gähnte dort noch Jahrzehnte zwischen Unter den Linden und Alexanderplatz eine Lücke. Umgeben vom traditionsreichen Lustgarten sowie dem des Neuen Museums von Karl Friedrich Schinkel und vom Berliner Dom, steht neben dem früheren Marstall bis heute der Neubau des DDR-Staatsratsgebäudes, in das wenigstens das Portal IV des Schlosses nach dem Goldenen Schnitt architektonisch eingefügt worden war, quasi als Erinnerung an Karl Liebknechts unerfüllt gebliebenen Traum von einer anderen als der Weimarer Republik, den er in den Wirren der Novemberrevolution 1918 von ebenjenem Balkon verkündet hatte.

Über die Architektur in der jüngeren deutschen Geschichte, insbesondere in der DDR, könnte man viele Bücher schreiben — einige gibt es sogar. Schon lange bevor heute krampfhaft in Endlosschleife versucht wird, die 40 Jahre der DDR und die Leistungen ihrer Bürger zu diskreditieren, lächerlich zu machen oder gänzlich zu verschweigen, wurde im Westen bereits vor der „Wende“ des Ostens bekanntlich nach Kräften Spott und Häme über die DDR ausgeschüttet. In Bezug auf den Fernsehturm übrigens gepaart mit kaum verhohlenem Neid. Der steht nun immer noch, obwohl landauf, landab doch alles in der DDR angeblich nur schrottreif war. Im 600-Seiten-Wälzer „Das große ADAC Deutschland Buch“ von 1986 sucht man vergebens einen Fernsehturm.

Weder im Kapitel über „Das andere Deutschland: Ein Porträt der DDR“ noch über die deutsche Technikgeschichte. Mehr noch: Im Kapitel über das — inoffizielle — „Bundesland Berlin — Geteilte Stadt …“ wird auch sicherheitshalber nicht einmal der ansonsten gern als Westberliner Wahrzeichen vorgezeigte Funkturm erwähnt, vermutlich um nicht versehentlich noch auf den Fernsehturm der DDR-Hauptstadt eingehen zu müssen. Nur ein Foto des 1979 eröffneten Internationalen Congress Centrums (ICC) — vom Funkturm aus aufgenommen! — lässt den Berlin-Kenner am Horizont im Dunst den Fernsehturm am Alex und unweit daneben das Internationale Handelszentrum am S-Bahnhof Friedrichstraße erahnen.

Seit Anfang der 1950er-Jahre hatten in der DDR teils weltbekannte Architekten, oft nach Wettbewerbsausschreibungen, ihre Ideen und Konzepte eingebracht, diesem Versuch einer neuen, menschlicheren Gesellschaft auch architektonisch Ausdruck zu verleihen. Das waren meist Gratwanderungen zwischen sich rasch wandelndem Zeitgeschmack, auch angesichts politischer Vorgaben, und vor allem der wirtschaftlichen Machbarkeit. Einige wenige Bauten in Ostberlin überdauerten — trotz der im Einigungsvertrag 1990 als „Beitritt“ verbrämten Vereinnahmung der DDR anstelle einer Vereinigung beider deutscher Staaten auf Augenhöhe.

Andere intakte Prachtbauten wurden regelrecht in Siegermentalität — wie der Palast der Republik — oder aus Profitgier geschliffen, so geschehen beim gegenüber am Spreeufer gelegenen einstigen Palasthotel. Das musste — obwohl ein schwedischer Neubau in der DDR — aus Profitgier der Bauwirtschaft dem heutigen AquaDom weichen, der mittlerweile durch das 2022 geplatzte Aquarium aus Acrylglas weltweit bereits einige Berühmtheit erlangt hat. Beim Palast der Republik war vermutlich die Volkskammer — als DDR-Parlament — mit ihren vergleichsweise wenigen Räumlichkeiten an der Schmalseite des Gebäudes 1990 der Stein des Anstoßes. Als fadenscheinige Begründung für den Abriss musste dagegen der Spritzasbest-Brandschutz im gesamten Palast der Republik — damaliger Stand der Technik in Ost wie West — herhalten: Eine Sanierung sei unbezahlbar und somit die Bewahrung untragbar; wogegen das etwa zeitgleich und daher mittels gleicher Asbest-Methoden brandgeschützte ICC-Raumschiff neben dem Westberliner Funkturm fachgerecht vom Spritzasbest befreit und saniert wurde, dort ohne die Kosten zu scheuen.

So wurde in Ostberlin seither demonstrativ in retrospektiver Nostalgie gemäß den Postkartenfotos vor der „Unzeit“ der DDR zurückgebaut, auch wenn das Kaufhaus Galeries Lafayette Berlin in der Friedrichstraße nun auch bereits wieder seine Pforten schließen musste. Diese Abrissmentalität, so viele Zeugnisse der DDR-Architektur wie möglich zu vernichten, offenbart den heute weiter lebendigen Ungeist des Kalten Krieges, als das andere Deutschland bestenfalls die „sogenannte DDR“ hieß. Selbst dann, wenn einige dieser Bauprojekte, wie etwa vom Anfang der 1950er die Karl-Marx-Allee zwischen Frankfurter Tor und Strausberger Platz, um die 1970er weitergebaut bis zum Alexanderplatz, unter Denkmalsschutz gestellt wurden. Keineswegs übertrieben, so bezeichnete bereits Mitte der 1950er-Jahre der renommierte brasilianische Architekt Oscar Niemeyer nach seinem Berlin-Besuch ebendiese gemäß den Entwürfen von Hermann Henselmann aus Trümmern gebaute Ost-West-Magistrale als „eine der bedeutendsten Alleen der europäischen Metropolen“. Heutige Tendenzen der urbanen Gentrifizierung durch privatwirtschaftliche Profitmaximierung im Dschungel des Gesetzgebers zwischen Mieterhöhungen und öffentlich gefördertem Denkmalsschutz bremst das natürlich keineswegs, „Zuckerbäckerstil“ bleibt Schimpfwort.

55 Jahre hat der Berliner Fernsehturm also bereits auf dem Buckel, auch fast 35 Jahre Nach-Wende überstanden und ist — welch Wunder — quasi über Nacht zum gesamtdeutschen Markenzeichen geworden. Mindestens für Berlin — „arm, aber sexy!“ —, wenn nicht stellvertretend für ganz Deutschland, ist er ein weltweit bekannter Touristenmagnet: In den ersten drei Jahren besuchten ihn über 4 Millionen Besucher, heute Jahr für Jahr mehr als eine Million Touristen.

Im wahrsten Sinne des Wortes „überstanden“ hat er dieses halbe Jahrhundert. Im italienischen Friaul bebte 1976 gleich dreimal die Erde: am 6. Mai, am 11. September und vier Tage später, am 15. September 1976, das stärkste der Beben, das dort viele dort vorher lediglich beschädigte Gebäude vollends zerstörte. Transversale Erdbebenwellen gelangten bis nach Deutschland, versetzten an jenem Tag auch in Berlin Pendellampen in bedenkliche Schwingungen, was auch Der Spiegel seinerzeit (39/1976) meldete. Manch einer mag sich gewundert haben, dass der Fernsehturm stehen blieb, aber es war eben kein Schrott, sondern er ist bis heute ein Geniestreich.

Die Vorgeschichte des Fernsehturms bis zu seiner Einweihung 1969 birgt viele wechselvolle Höhen und Tiefen — wie so manche anderen Bauprojekte der Nachkriegszeit auch — zwischen Wünschen und Machbarkeit. Einerseits Ergebnis einer nüchternen technischen Analyse, dass zeitgemäßer Rundfunk — wenn schon nicht von den Müggelbergen — vom geografischen Mittelpunkt Berlins, am besten wenige hundert Meter vom Alex entfernt im Friedrichshain ausgestrahlt werden sollte. Andererseits brauchte die DDR-Hauptstadt ohnehin die Fertigstellung ihres Zentrums, mit möglichst attraktiven wie zweckmäßigen architektonischen Neugestaltungen breit nutzbar, ganz im Sinne ihres neuen Gesellschaftsmodells.

Ein erster Anlauf für die technische Seite, einen ganz Berlin abdeckenden UKW-/VHF-/UHF-Sendeturm an einem zukunftssicheren Standort zu errichten, scheiterte schon Mitte der 1950er-Jahre. Immerhin hatte 1952 die Europäische Rundfunkkonferenz in Stockholm der DDR, die damals von vielen Staaten noch nicht politisch anerkannt war, die von Technikern ungeliebten, weil störanfälligen Sendefrequenzen für das Fernsehen im Band I und Band III zugeteilt. Zwar wurde am Müggelsee — unweit des Müggelturms heute noch erkennbar — der Bau eines Fernseh-„Turms“ beantragt und bewilligt; 130 Meter Höhe hätten dort oben gereicht. Aufgrund der möglichen Gefährdung des Flugverkehrs, nämlich am Rande der Einflugschneise zum DDR-Flughafen in Schönefeld gelegen, wurde das Projekt 1954 kurzerhand wieder abgeblasen. Der bereits errichtete Sockel des Bauwerkes diente teils als „Observatorium“ und ist heute noch ein Richtfunkknoten der Deutschen Telekom.

Nach dem Reifen der Erkenntnis über eine möglichst optimale Platzierung im Zentrum — wegen der immer schmerzhafteren Versorgungslücken der UKW- und TV-Sender in der DDR — wurde kurzerhand der Standort westlich des Alexanderplatzes als die Ideallösung abgesegnet — sowohl aus technischer Sicht als auch für die Schaffung eines städtebaulichen Blickfangs („Point de mire“). Diese städtebauliche Gestaltung eines repräsentativen Zentrums, um die fast ein Jahrzehnt mühsam gerungen worden war, fand später noch ihren Abschluss in der Errichtung des Palastes der Republik von 1973 bis 1976 mit einem 5.000 Plätze bietenden Multifunktionssaal für Großveranstaltungen, mit Restaurants, Theater, Post und außerdem auch noch mit der Volkskammer, der Legislative in der DDR, an einem zentralen wie auch repräsentativen Ort.

In dieser Geschichte des Ringens um die vielen Architektur-Konzepte und Städtebau-Planungen gab es auch früher bereits mehrfach Turmkonzepte, was am Ende — lange nach der Errichtung und der nun wohl zeitlosen Erfolgsgeschichte des Fernsehturms — illustre Streitigkeiten um die „wahre“ Urheberschaft des Konzepts aufkommen ließ. Der Erfolg hat bekanntlich stets viele Väter. Wahr ist, dass Hermann Henselmann, der seit 1953 aufgrund seiner Leistungen bei der Bebauung der Stalinallee — der heutigen Karl-Marx-Allee — Chefarchitekt des Berliner Magistrats war, bereits 1958/59 seinen „Turm der Signale“ vorgeschlagen hatte, was sogar 1961 durch die DDR-Zeitschrift Deutsche Architektur öffentlich war. Anderseits war der ebenfalls weltbekannte Architekt Gerhard Kosel von Juli 1964 bis Dezember 1965 gesamtverantwortlich für dieses Bauvorhaben und reklamierte, dass er sowohl den endgültigen, heutigen Standort als auch Entwürfe der Gestalt entscheidend geprägt habe, bevor ihm schon 1965 — wegen bei Bauvorhaben nahezu stets drohender Kostenexplosion — diese Verantwortung wieder entzogen wurde.

Er fiel keineswegs in Ungnade, denn wenig später (1967 bis 1972) war er wieder in Amt und Würden, aber an anderer Stelle: als Stellvertretender Minister für Bauwesen der DDR und danach DDR-Vertreter in der UN-Kommission für menschenwürdige Siedlungen. Schließlich sollte man aber heute nachdrücklich anerkennen, dass viele endgültige Details der Konstruktion wie der Gestalt des Berliner Fernsehturmes von einem Architektenkollektiv des VEB Industrieprojektierung (Ipro), einem Betrieb im Bau- und Montagekombinat Kohle und Energie, dem größten Baubetrieb der DDR, unter Leitung von Fritz Dieter für die Kugel und Günter Franke für den Turmschaft projektiert wurden, bei dem zweifelsfrei Hermann Henselmann als künstlerischer Berater zur Seite stand.

Ohnehin sind mittlerweile alle diese namentlich Genannten bereits verstorben, viele Erbauer des Turms nicht. Im Übrigen wurden neben diesem Publikumsliebling von jenem volkseigenen Baukombinat zuvor und danach weitere Industriegiganten vergleichbarer Höhe errichtet, die heute bereits wieder verschwunden sind. So wurden allein für das leistungsstärkste DDR-Kraftwerk in Boxberg Anfang der 1970er sogar vier Schlote mit je 300 Metern Höhe errichtet.

Unter heute zahllosen Fernseh- und sonstigen Turmbauten auf der Welt ist die Kugel als Form des Turmkopfes unterhalb des Sendeantennen-Mastes zweifellos das markanteste Unterscheidungsmerkmal, mittlerweile ein Logo für Berlin. Dennoch war diese Kugel nicht allein der damaligen angeblichen „Sputnik-Ikonografie“ in der DDR geschuldet, sondern folgte ganz nüchternen technischen Anforderungen, nämlich zwecks Beherrschbarkeit der Klimatisierung aller Sendeanlagen im Turm ein maximales Raumvolumen bei minimaler Außenfläche zu bieten, was allein für sich schon eine Kugel als geometrische Idealform nahelegte.

Übrigens, was das Erdbeben betrifft: Die tiefe Lage mitten im Urstromtal von Berlin erwies sich für das Fundament erstaunlicherweise nicht als ein Nachteil. Es ist mit 2,70 bis 5,80 Metern vergleichsweise flach gegründet, weil man gerade dort Schichten aus Kies und Sanden mit einer guten Tragfähigkeit nachweisen konnte — ganz im Gegensatz zum sumpfigen Untergrund des Schlosses und vieler anderer Bauwerke im heutigen Zentrum Berlins. Moorlandschaften hat Deutschland bekannterweise reichlich; dass die meisten davon trockengelegt wurden, erweist sich mittlerweile sowohl für Hochwassergefahren wie Arterhaltung als ein menschengemachter Nachteil in der Landschaftsgestaltung.

Nachzutragen ist ganz zeitgemäß: Als zweithöchste Bauwerke Deutschlands, errichtet von 1977 bis 1982, dienen dort die Sendemasten mit 352,9 Metern Höhe als Antenne des Längstwellensenders, der von der Deutschen Marine für ihre U-Boot-Kommunikation betrieben wird. Diese Marinefunksendestelle Rhauderfehn mit der Bezeichnung NATO VLF/MSK liegt innerhalb des Naturschutzgebiets Esterweger Dose im niedersächsischen Landkreis Cloppenburg. Dort kommt der „Kriegstüchtigkeit“ die ausgedehnte Moorlandschaft sogar zugute — als feuchtes und somit besonders niederohmiges Erdnetz für diese Antennenanlage.

Unangefochten das höchste Bauwerk in Europa ist seit 1967 bis heute allerdings noch immer der Moskauer Fernsehturm in Ostankino mit seinen 537 Metern Höhe; der Berliner Fernsehturm war 1969 mit 365 Metern der zweithöchste der Welt und hat nach einem Umbau der Antennenanlage über der Kugel seit 1997 eine Höhe von gut 368 Metern.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel: „Noch ein Jubiläum: Was erinnert zum Tag der Deutschen Einheit an die DDR?“ bei den Nachdenkseiten


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Quellen und Anmerkungen:

Video-Links:
https://www.youtube.com/watch?v=7NP8xkgU7hs
Fernsehturm-Eröffnung durch Walter Ulbricht und Erich Honecker 1969.
50.863 Aufrufe seit 20. Mai 2019.
footage berlin — rbb media (18.200 Abonnenten).
Video-Angaben: 1969, Auflösung: SD, 4:3; Originalton.
Quelle: DRA — aus „Aktuelle Kamera“, DDR-Fernsehen, 3. Oktober 1969.
Für Archivrecherchen, Materialsichtung und -bereitstellung, Rechteklärung und kommerzielle Lizenzierungen besuchen Sie: https://footage-berlin.com/.
Für nichtkommerzielle Anfragen: http://www.dra.de/.

Dokumente von Baubeteiligten:
https://www.youtube.com/watch?v=pgmU7SxjcwI
Berliner Fernsehturm 1966 bis 1969 vom 7. Mai 2011, 11.534 Aufrufe.
Der Bau des Berliner Fernsehturms von 1966 bis 1969.
Fotos von Klaus Liesack, Film: Michael Leps.
Siehe auch unter www.berlinfan.de.
https://www.youtube.com/watch?v=ZXvhzSgojxo
Die Kollegen — Berliner Fernsehturm 1966 bis 1969 (Fotos).
107.878 Aufrufe seit 13. Juli 2009 kabelmail24 (100 Abonnenten von kabelmail24).
Zweite Zusammenstellung mit den Kollegen, die damals am Turm gearbeitet haben! Alle Fotos unter www.berlinfan.de. Die privaten Fotos über den Bau des Berliner Fernsehturms sind von Klaus Liesack zur Verfügung gestellt und zusammengetragen von Kollegen und Pressefotografen der Bauphase. Baubeginn war 1965. www.fernsehturm.seite.com.

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