(ap, 12. Oktober 2022) Ga Ying Hao (21) erhält für den neuen Bestseller Child in Time von Juliette Garrett ein Rekordhonorar von 40 Euro – immerhin dreimal so viel wie seine unterhaltungsliteraturproduzierenden Kollegen im Industriegebiet von Nanjing. Zu verdanken hat Hao diese finanzielle Auszeichnung seinen exzellenten Englischkenntnissen und seiner Originalität, denn der junge Chinese versteht es vorzüglich, automatisch generierte Manuskripte dort zu humanisieren, wo die Statistik es ihm erlaubt. Zwar sind Haos „Spielflächen“ im Skript klein, seine Befugnis bleibt beschränkt auf stilistische Veränderungen in Dialogen und in Beschreibungen, aber hier lässt sich tatsächlich mit individuellem Talent der Eindruck erwecken, das gesamte geschriebene Werk stamme von einem Menschen und sei nicht computergeneriert.
Die deutsche Fertigung von Garretts Roman durch Amazons Übersetzungsprogramm Babel Fish überwachte Dr. Emma Winkler (47), freie Lüra (Lektorin/Übersetzerin/Redakteurin), auch Winkler wird mit 200 Euro für den Auftrag deutlich über Tarif bezahlt, in guten Monaten kommt die renommierte, noch in ihrem Elternhaus lebende Germanistin gelegentlich auf fast 1.200 Euro Bruttogehalt.
Beim letzten Deutschlandbesuch der schillernd charmanten Juliette Garrett (anlässlich ihrer Hauptrolle im Film (Amazon Studios) nach ihrem Roman (Amazon)) durfte Winkler den von ihr betreuten Star treffen. Garrett gestand nach dem dritten Champagner (unter vier Augen), sie habe Child in Time zwar noch nicht gelesen, sei aber sehr gespannt auf ihren eigenen frischen Bestseller.)
Billiger Horror, weit hergeholt? Na ja. Na gut. Aber auch hartgesottene Freunde der Idee, das Menschliche sei gerade in der Erfassung und Weiterverarbeitung des humanen Alleinstellungsmarkmals Sprache unersetzlich, müssen wohl konstatieren, dass DeepL (1) auf interessante Weise deutlich smarter ist als der „Google Translator“ – und DeepL fängt ja gerade erst an zu lernen. Unseren Übersetzern wird also demnächst, und zwar zeitnah, tatsächlich die Knochenarbeit abgenommen, die dicken Muret-Sanders-Schinken können endgültig ins Altpapier, gefragt wird nur noch feine menschliche „Supervision“ sein, also behutsames Eingreifen, wo die Maschine tatsächlich (noch) nicht entscheiden will oder kann, welche von 4 oder 10 Übersetzungsvarianten an kniffligster Stelle kongenialer ist. 90 Prozent unserer Übersetzerjobs aber sind nach dem kommenden Quantensprung hinfällig.
Den Autoren selbst wird es indes auch nicht besser ergehen, denn der Bestseller Code ist ja frisch entschlüsselt. Auch wenn die Programmierer/Autoren Jodie Archer und Matthew L. Jockers ausdrücklich betonen, ihr unter eben diesem Titel erschienener Bericht (2) sei eben kein Buch, in oder aus dem man (= Mensch) lernt, todsichere Bestseller zu schreiben, hat der von den beiden entwickelte Algorithmus doch weitreichende Konsequenzen. Denn wenn es zutrifft, dass das ominöse AJ-Programm mit 90-prozentiger Sicherheit vorhersagen kann, ob ein abgeliefertes Skript ein Bestseller wird oder eben nicht, sind a) 90 Prozent unserer Lektoren ab übermorgen entbehrlich und werden b) von den großen Publikumsverlagen fürderhin nur noch Bücher verlegt, die diese Bestseller-Code-Maschinenprüfung überstehen. Der nächste Schritt ist ein sehr kleiner, denn Amazons Algorithmen wissen ja ohnehin längst alles, und eben auch, welche Passagen oder Seiten von Kindle-Büchern „ankommen“ – und welche eben nicht. Die im Hintergrund mitlesende KI weiß also, welche Bücher Pageturner sind. Und warum. Und welche nicht. Und warum. Amazons Algorithmus weiß mithin auch, wo die Schwächen eines Skripts liegen. Wo der Leser aufhört zu lesen. Und wann er weiterliest. Wenn überhaupt. Folglich weiß der Algorithmus, wie man Skripte verändern muss, um sie marktkonform, sprich: erfolgreich zu machen.
Wie, Schwarzseher, pessimistischer? Unsinn! Die Schreibkunst stirbt doch nicht! Jedenfalls nicht ganz. Wohl wird es auch weiterhin Verleger geben, die sich 5 oder 10 schwerverkäufliche Titel pro Jahr gönnen – denn sie werden ja nach der Maschinenprüfung nur genauso schlau sein wie vorher, sprich wissen: „Das kaufen nur ein paar Leute, ich mach´s aber trotzdem“. Die Bestseller-und-Lesefluss-Optimierungs-Algorithmen bedrohen also beileibe nicht das Schöne, Wahre, Gute, im „Markt“ Erfolglose, das ja sowieso schon immer in Nischen lebte und weiter dort leben wird; die Maschine bedroht nur, wie die meisten Maschinen, die 50 Prozent in der Mitte. Also all jene Verwalter, Vermittler und Durchschnittlichen, die nicht zwingend gebraucht werden, allerdings eben bislang nicht kalt rechnend als „entbehrlich“ überführt waren. Was im Gesamtgesellschaftlichen, im großen Arbeitsmarkt, für Verwalter, Verkäufer, Zettelsortierer, mittleres Management und sogar (fehlbare, weil menschliche) Diagnostiker gilt, wird auch jene nicht verschonen, die sich als Sprachkünstler (noch) allzu sicher fühlen: Rechtschreibkorrigierer, Übersetzer, Lektoren, Redakteure und eben Autoren, die halbgares Zeug an jedem Markt vorbeischreiben.
So wird also die Qualität unserer Übersetzungen ebenso zunehmen wie die maßgeschneiderte Schlichtheit unserer Bestseller – die Effizienz steigt, auch in Sachen Kreativproduktion. Ob wir Mitleid (oder gar einen Sozialplan) haben für die 50 bis 80 Prozent Kreativer, die danach mangels Massenkompatibilität nicht mehr gebraucht werden, wird sich zeigen, aber unterm Strich wird sich ja wenig ändern. Es war immer und wird immer potenziell brotlos bleiben, sich als Künstler zu versuchen, die Wahrscheinlichkeit, dass eine/r den „Durchbruch“ schafft und von Kunst leben kann, lag und liegt auch weiterhin im Promillbereich. Wir werden wohl nur damit leben müssen, dass die Chance auf einen Zufallstreffer noch weiter abnimmt, denn der Algorithmus wird dem Vertrieb jede Unsicherheit nehmen, ob nicht gerade dieses ungewöhnliche, schräge, so ganz originelle Werk nicht doch, vielleicht, ein Bestseller sein könnte. Die Einschätzung der KI wird diesen Zweifel schlicht nicht mehr zulassen.
Hoffen wir also auf zukünftige Verleger mit Superkräften, insbesondere einem Rückgrat aus Stahl, Sturheit und Mut zur Fehleinschätzung. (Lachen vom Band: Man stelle sich vor, so ein Mensch würde sich bei einem unserer Fließband-Kultur-Monopolisten von Bertelsmann bis Holtzbrinck auch nur vorstellen, der käme doch nicht mal heil am Pförtner vorbei).
Quellen:
(1) https://www.deepl.com/translator
(2) Jodie Archer / Matthew L. Jockers (Ü: Sascha Mattke), Der Bestseller-Code: Was uns ein bahnbrechender Algorithmus über Bücher, Storys und das Lesen verrät, Plassen, Juli 2017
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