Rubikon: Herr Katchanovski, am heutigen Tag jährt sich das Massaker vom Maidan zum fünften Mal. Bitte fassen Sie den Ablauf der blutigen Ereignisse des 20. Februar 2014 in Kiew knapp zusammen.
Katchanovski: Das Massaker vom Maidan im Februar 2014 begann am frühen Morgen mit der Erschießung von Polizisten und dann auch der Demonstranten durch „Scharfschützen“ vom Musikkonservatorium und vom Hotel Ukraina aus. In beiden Gebäuden befanden sich Maidan-Truppen. Die Schüsse brachen eine Waffenstillstandsvereinbarung, die erst wenige Stunden zuvor Präsident Janukowitsch und die Maidanführern der Opposition unterzeichnet hatten. Die Polizei und die Truppen des Innenministeriums flohen vom Maidan, den sie zwei Tage zuvor umzingelt hatten, nachdem drei von ihnen am Morgen dieses 20. Februar getötet und ein paar Dutzend von den Scharfschützen verwundet worden waren. Einige dieser Schützen wechselten die Stellung und begannen, von einer Barrikade vor der Maidanbühne zu schießen.
Nachdem die Maidan-Demonstranten der Polizei und den internen Truppen folgten, wurden 48 Demonstranten getötet und etwa 150 verletzt. Es gibt überwältigende Beweise dafür, dass zumindest die absolute Mehrheit von ihnen seitlich und von hinten vom Hotel Ukraina aus und von anderen vom Maidan kontrollierten Gebäuden erschossen wurde.
Eine Spezialeinheit der Berkut – der Anti-Aufstands-Polizei – stoppte kurzzeitig den Vormarsch der Demonstranten vom Maidan, indem sie mit scharfer Munition schoss, um Mitglieder der internen Truppen zu befreien, die sich noch im Oktoberpalast am Maidan befanden, nachdem die Polizei und die internen Truppen schon vom Maidan geflohen waren. Nach der Evakuierung dieser Truppen zog sich die Spezialeinheit der Berkut hinter Barrikaden zurück und schoss weiter. Meine Analyse und verschiedene Beweise legen nahe, dass sie im Allgemeinen Warnschüsse abgaben und auf Maidan-Scharfschützen schossen, die zuvor vom Hotel Ukraina, vom Oktoberpalast und von anderen Gebäuden auf sie und auf die Demonstranten geschossen hatten.
Welche Bedeutung hatte der Massenmord für den folgenden Machtwechsel in der Ukraine?
Das Maidan-Massaker war ein Schlüssel für den gewaltsamen Sturz der Regierung Janukowitsch. Es delegitimierte die Regierung und jegliche Gewaltanwendung durch die Regierungstruppen, weil ukrainische und westliche Medien, die Maidan-Opposition und westliche Regierungen sofort Regierungsscharfschützen beziehungsweise die Berkut-Sondereinheit der Polizei dafür verantwortlich machten, auf Janukowitschs Befehl hin unbewaffnete Maidan-Demonstranten ermordet zu haben. Janukowitsch verlor die Mehrheit im Parlament und unterzeichnete einen Vertrag mit der Maidan-Opposition inklusive Garantien deutscher, polnischer und französischer Außenminister.
Diese Vereinbarung forderte vorgezogene Präsidentschaftswahlen und den Abzug der Regierungstruppen aus der Innenstadt. Nach einem solchen Rückzug der Regierungstruppen und nach dem Beschuss seiner Wagenkolonne sowie der unmittelbar bevorstehenden Beschlagnahmung seines opulenten Wohnsitzes in der Nähe von Kiew und einer Reihe von Attentaten gegen ihn, flüchtete Janukowitsch in die Ostukraine und auf die Krim und wurde daraufhin zweimal von russischen Kräften nach Russland evakuiert.
Sie sichten und sammeln seit fünf Jahren alle öffentlich zugänglichen Materialien zu dem Blutbad. Was haben Ihre Untersuchungen ergeben?
Ich begann mit meiner Untersuchung des Maidan-Massakers im Moment seines Geschehens, weil ich es über Internet-Live-Streams sah und weil Konflikte und politische Gewalt in der Ukraine der Hauptbereich meiner Forschung sind. Ich habe diese Studien und mehrere Online-Videoanhänge mit verschiedenen Beweisen mehrfach vorgestellt: im Jahr 2015 auf den Jahrestagungen der American Political Science Association in San Francisco und in Boston 2018, sowie auf der Weltkonferenz der Association for the Study of Nationalities 2017 in New York und im September 2018 auf der gemeinsamen Konferenz des Instituts für russische und eurasische Studien der Universität Uppsala und der britischen Vereinigung für slawische und osteuropäische Studien im schwedischen Uppsala. Die Zusammenfassung dieser Studien ist bereits in einem wissenschaftlichen Sammelband erschienen.
Meine Studien haben gezeigt, dass das Maidan-Massaker ein Massenmord unter falscher Flagge war, der auf die Machtergreifung abzielte. Die Untersuchungen dieses Massakers werden aus diesem Grund vertuscht und blockiert. Teile oligarchischer und rechtsextremer Organisationen der Maidan-Opposition waren an dem Massenmord beteiligt. Die Mehrheit der Maidan-Demonstranten wurde von Maidan kontrollierten Gebäuden von Scharfschützen getötet oder verwundet. Meine Studien beinhalten Videos und Fotos von Scharfschützen in den vom Maidan kontrollierten Gebäuden, aufgezeichnete Funkkommunikation, Zeugenaussagen von 44 verletzten Maidan-Demonstranten über Scharfschützen in Maidangebäuden während des Massakers und während der Ermittlungen sowie Zeugenaussagen über solche Scharfschützen von mehr als 200 Zeugen, meist von Maidan-Demonstranten.
Unmittelbar nach dem Massaker hieß es in vielen ukrainischen und westlichen Medien, Präsident Janukowitsch habe das Massaker befohlen, seine Spezialpolizisten seien die Täter. So lautet auch die Anklage vor Gericht in der Ukraine. Welche Beweise für diese Ermittlungshypothese hat die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft (GPU) in den vergangenen fünf Jahren vorgelegt?
Weder in den Prozessen noch in den Ermittlungen oder in Medienberichten wurden konkrete Beweise für einen Befehl des damaligen Präsidenten Janukowitsch oder seiner Minister und Kommandanten zum Attentat auf unbewaffnete Demonstranten vorgelegt. Westliche und ukrainische Mainstream-Medien tun jedoch weiterhin so, als seien solche Anordnungen ein Fakt. Es gibt auch keine Berkut-Polizisten oder ehemalige Polizisten oder Sicherheitsbeamte oder ehemalige Regierungsmitglieder von Janukowitsch, die in ihren Zeugenaussagen eine Beteiligung an dem Massaker oder spezifisches Wissen über die Beteiligung von Regierungseinheiten, Kommandeuren oder Regierungsführern einschließlich Janukowitsch behaupteten.
Der Generalstaatsanwalt Juri Luzenko bestätigte kürzlich de facto, dass bei den GPU-Ermittlungen keine Befehle Janukowitschs, seiner Minister und Kommandanten gefunden wurden, Maidan-Demonstranten zu massakrieren. Luzenko kann solche Befehle nicht vorlegen, sondern bezieht sich als Beweis für seine Vorwürfe nur auf „Expertenprüfungen“.
Die Staatsanwaltschaft hatte dem Gericht bereits alle Dokumente vorgelegt, und kein einziges dieser oder anderer Dokumente im Maidan-Massaker-Gerichtsprozess enthüllte Schießbefehle. Auch die vorläufigen Gerichtsanhörungen im vergangenen Jahr erbrachten keinen solchen Befehl. Da bei dieser Anhörung ein solcher Mangel an Beweisen offensichtlich wurde, hat das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Anhörungen vor Gericht geschlossen. Ein ähnlicher Mangel an solchen Beweisen war auch beim jüngsten Prozess gegen Janukowitsch wegen Staatsverrats zu beobachten.
Auf wahrhaft Orwell‘sche Weise erklärte der Generalstaatsanwalt der Ukraine kürzlich sogar, die Untersuchung habe ergeben, dass Janukowitsch, sein Innenministerium, sein Sicherheitsdienst, sein Verteidigungsminister und seine Befehlshaber auch für das Massaker an ihren eigenen Polizisten und Soldaten verantwortlich seien. Er sagte, dass sie deswegen angeklagt würden. Luzenko zitierte erneut eine „Expertenprüfung“ als Beweis ihrer Schuld. Er bezog sogar die 18 getöteten Polizisten und Mitglieder der inneren Truppen in die „Himmlische Hundertschaft“ (1) mit ein.
Welche Fehler und absichtlichen Manipulationen werfen Sie den staatlichen ukrainischen Ermittlern des Massakers und der Regierung vor?
Es fällt auf, dass fünf Jahre nach dem Massaker niemand wegen Tötungen der Demonstranten und der Polizei auf dem Maidan verurteilt wurde. Immerhin ist es der am besten dokumentierte Fall von Massenmord in der Geschichte. Die Ermittler bestreiten einfach, dass es in den vom Maidan kontrollierten Gebäuden Scharfschützen gab. Das wird nicht untersucht, obwohl eigene Ermittlungen, das Verfahren und die öffentlich verfügbaren Beweise genau das feststellen. Zu den Belegen zählen Aussagen von über 100 verwundeten Demonstranten und über 200 Zeugen, Videos, Fotos, Tonaufnahmen von Scharfschützen in solchen Gebäuden, einschließlich der Erschießung von Demonstranten und Polizisten.
In seinen Ermittlungen stellte der Generalstaatsanwalt fest, dass fast die Hälfte der durch Schüsse verletzten Demonstranten – nämlich 77 von 157 – am 20. Februar aus Bereichen beschossen wurden, in denen sich die Polizei überhaupt nicht aufhielt. Niemand hat wegen dieser Schüsse Anklage erhoben. Der heutige Generalstaatsanwalt der Ukraine war einer der führenden Politiker des Maidan. Er erklärte kürzlich, die Ermittlungen gegen das Massaker vom Maidan seien abgeschlossen. Das passt gut zu der gesamten Vertuschung und Blockade der Untersuchung dieses Massenmords.
Auch öffentliche Äußerungen mehrerer Pro-Maidan-Politiker und Aktivisten sowie von fünf Georgiern über Scharfschützen und über die Verstrickung von Maidan-Führern in das Massaker wurden von offiziellen Stellen nicht untersucht. Der Ex-Präsident von Georgien Michail Saakaschwili wurde einen Tag vor seiner Aussage über „georgische Scharfschützen“ während des Maidan-Massaker-Prozesses eiligst aus der Ukraine vertrieben. Ebenfalls nicht untersucht wurde die öffentliche Erklärung eines Parlamentsabgeordneten, wonach der Anführer einer Schlägerbande, die am 19. Februar an der Ermordung eines Journalisten beteiligt war, für führende Maidan-Aktivisten gearbeitet hat und dass diese im Voraus über das Massaker Bescheid wussten.
„Entscheidende kriminaltechnische Beweisstücke sind verschwunden.“
In den Ermittlungen wurden die Geschossflugbahnen nicht mit Hilfe von Ballistikexperten bestimmt, selbst nachdem das Gericht solche Untersuchungen angeordnet hatte, um festzustellen, ob die Schussbahnen von Maidangebäuden kamen. Stattdessen wurden komplexe forensische Untersuchungen von Ärzten verwendet, um die Herkunft der Schüsse zu ermitteln – ohne Ortsbegehungen und ohne Angabe von Messungen und Erklärungen.
Überlebende Maidan-Verwundete sagten im Prozess und in Medien aus, dass die Kugeln, die Ärzte aus ihren Körpern entfernt hatten, in der offiziellen Untersuchung „verloren gingen“. Ein Demonstrant erklärte während des Gerichtsverfahrens, dass seine erste Aussage über die Erschießung von Maidan-Demonstranten durch einen Scharfschützen im Hotel Ukraina in den Ermittlungen „verloren“ ging, nachdem er sich geweigert hatte, seine Aussage über die Position dieses Opfers zum Zeitpunkt seiner Tötung zu ändern.
Entscheidende kriminaltechnische Beweise für das Massaker am 20. Februar verschwanden, sobald sie unter Kontrolle der Maidan-Führung beziehungsweise der Maidan-Regierung waren. Kein Verantwortlicher wurde hierfür ermittelt oder strafrechtlich verfolgt. Zu den verloren gegangenen Beweisstücken zählen auch fast alle Schilde und Helme getöteter und verwundeter Demonstranten. Durch Einschusslöcher oder deren Fehlen in diesen Utensilien könnten Standorte der Schützen und viele Kugeln identifiziert werden. Auch fast alle Kugeln sind verschwunden, die den Körpern der Demonstranten und Polizisten entnommen sowie in Bäumen, der Erde, einem Blumenkasten und auf dem Maidan sichergestellt wurden.
Einige Bäume mit Kugeln und Einschusslöchern wurden kurz nach dem Massaker gefällt. In ähnlicher Weise verschwanden Aufnahmen von Live-Online-Streams und anderen Videos aus der Zeit der Schüsse auf die Polizei am frühen Morgen des 20. Februar sowie von Überwachungskameras vom Hotel Ukraina, der Bank Arkada und anderen vom Maidan kontrollierten Gebäuden zu der Zeit, als sich dort Scharfschützen befanden.
Die GPU zog ohne Erklärung ihre eigenen früheren Untersuchungsergebnisse zurück, in denen sie noch eingestand, dass Demonstranten von Scharfschützen im Hotel Ukraina mittels SKS-Karabinern ermordet wurden und dass mindestens drei Demonstranten aus diesem Hotel und zehn von hohen Gebäuden aus getötet wurden. Die Untersuchungen der Massaker an Polizei und Demonstranten wurden getrennt, obwohl sie an denselben Tagen und an denselben Orten stattfanden. Es gab keine gerichtsmedizinischen Vergleiche der Kugeln, die aus Polizisten- und Demonstrantenkörpern entnommen wurden, obwohl Beweise dafür vorlagen, dass sie von denselben Scharfschützengruppen erschossen wurden. Niemand wird angeklagt und vor Gericht gestellt, weil er Polizisten am 18. und 20. Februar getötet und verwundet hat, und ein Amnestiegesetz, das direkt nach der Machtergreifung der Maidan-Führer verabschiedet wurde, verbietet sogar solche Ermittlungen gegen Maidan-Demonstranten, wenn sie Polizisten getötet haben.
Der Bau eines Denkmals für das Maidan-Massaker, der schon begonnen hat, ist die buchstäbliche Verschleierung des Maidan-Massakers und der wichtigsten Beweise. Die Landschaft, die Straße und die Bäume auf dem Gelände des Massakers sollen fast vollständig in einen Park und ein neues Maidan-Massaker-Museum umgewandelt werden. Es wäre dann physisch unmöglich, vor Ort nachträgliche Ermittlungsversuche durchzuführen, um die Flugbahnen der Kugeln zu bestimmen. Das Verfahren gegen Berkut zeigt, dass Beweise gegen die angeklagten Polizisten fehlen und dass die Staatsanwaltschaft daran gescheitert ist, ihnen auch nur einen einzigen Fall der Tötung oder Verletzung von Maidan-Demonstranten ohne begründeten Zweifel nachzuweisen.
Wie sind diese Fehler zu erklären? Immerhin beschwerte sich Chefermittler Serhij Horbatyuk im Oktober 2018 vor der ukrainischen Presse, dass die Regierung die Kriminaluntersuchungen zum Massaker aktiv behindert.
Das sind keine Fehler. Denn diese „Fehler“ treten systematisch auf und dienen nur der Verschleierung der Scharfschützen und der entscheidenden Beweise sowie der Blockade der Ermittlungen. Da der Generalstaatsanwaltschaft die obersten Staatsanwälte und die besten Ermittlungsressourcen und -technologien in der Ukraine zur Verfügung stehen, ist diese Vertuschung und das Scheitern der Ermittlungen auf politische Faktoren und auf Einmischung der höchsten Regierungsebene der Ukraine zurückzuführen. Die Generalstaatsanwaltschaft wurde von Maidan-Politikern oder engen Verbündeten des Präsidenten Petro Poroschenko geleitet. Die Untersuchung des Massakers wurde von Beginn an von führenden Köpfen der Maidanregierung kontrolliert.
Welche Rolle spielt Juri Luzenko, der vor fünf Jahren einer dieser führenden Maidan-Politiker war und der heute als Generalstaatsanwalt für die Untersuchungen verantwortlich ist?
Er ist ein Poroschenko-Mann und Pate eines der Kinder von Poroschenko. Luzenko wurde von Poroschenko vor allem wegen seiner persönlichen Loyalität ernannt. Ein Gesetz, das die Ernennung von Generalstaatsanwälten ohne Abschluss in einem juristisch relevanten Berufsbereich untersagte, wurde speziell für Luzenko geändert. Er ersetzte einen anderen Poroschenko-Mann, namens Viktor Schokin, nachdem US-Vizepräsident Biden den ukrainischen Präsidenten aufgefordert hatte, Schokin zu feuern (2).
Luzenko war auch einer der Maidan-Führer, und er erklärte am 19. Februar 2014 offen von der Maidan-Bühne, dass Waffen auf dem Maidan eintreffen, die zuvor in der Westukraine von der Polizei und vom Sicherheitsdienst beschafft wurden und dass Demonstranten diese Waffen einsetzen würden. Daher hat Luzenko kein persönliches und kein politisches Interesse an Ermittlungen gegen aktuelle Regierungsführer und gegen Maidan-Scharfschützen. Im Gegenteil, sein persönliches und politisches Interesse besteht darin, die offizielle Erzählung und den vorherrschenden Maidan-Mythos über das Massaker zu erhalten und voranzutreiben.
Welche wichtigen Erkenntnisse hat die Gerichtsverhandlung zum Maidan-Massaker bisher hervorgebracht?
Der Prozess untersuchte bisher nur die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweise. Er hat aber trotzdem bereits Zeugenaussagen von mindestens 25 der 66 verletzten Maidan-Demonstranten hervorgebracht, für deren Verwundung Berkut-Polizisten angeklagt werden. Diese sagten, dass sie aus Gebäuden oder Bereichen beschossen wurden, die vom Maidan kontrolliert wurden.
Es kam im Prozess zu weiteren 30 Zeugenaussagen verwundeter Protestierender, die sagten, dass sie Scharfschützen an diesen Orten gesehen haben oder von anderen Demonstranten darüber informiert wurden. Ich habe diese Aussagen mit englischen Untertiteln in einem Online-Video-Anhang in meiner Studie zusammengeführt. Sie stehen im Einklang mit den Aussagen zahlreicher Zeugen dieses Prozesses und mit anderen Untersuchungsergebnissen. Ich habe auch Zeugenaussagen im Online-Videoanhang auf YouTube für meine Multimedia-Präsentation auf Konferenzen kürzlich in den USA und in Schweden zusammengestellt. Seit dem vergangenen September gab es jedoch noch viele weitere solcher Zeugenaussagen, obwohl beim Prozess bisher nur Zeugen der Strafverfolgung und Angehörige getöteter Demonstranten angehört wurden.
Der Gerichtsprozess enthüllte auch Ergebnisse forensischer medizinischer und ballistischer Untersuchungen. Sie zeigen, dass auf die Mehrheit der Demonstranten am 20. Februar von oben, von der Seite und von hinten geschossen wurde, als sie gegen die Berkut-Polizisten vorrückten, die sich auf gleicher Höhe vor ihnen [hinter einer Straßenbarrikade aus Fahrzeugen] befanden. Dies ist der forensische Schlüsselbeweis dafür, dass Demonstranten von Scharfschützen aus Maidan kontrollierten Gebäuden im Rücken und aus seitlichen Richtungen erschossen wurden und dass Berkut sie nicht getötet hat.
Bei einer gerichtsmedizinischen Untersuchung, die Experten des Regierungsinstituts zur Anklageerhebung mit Hilfe eines automatischen, computergestützten IBIS-TAIS-Systems im Januar 2015 durchgeführt haben, stellte man fest, dass die Kugeln, die getöteten Demonstranten, Bäumen und Hotelzimmern entnommen wurden, nicht mit den Kugeln der polizeilichen Datenbank übereinstimmten. In dieser Datenbank waren alle Kugelproben der Kalaschnikow-Sturmgewehre – Kaliber 7.62x39 – des gesamten Kiewer Berkut-Regiments, einschließlich der angeklagten Berkut-Polizisten gespeichert.
Die Ergebnisse dieser computerbasierten Untersuchung und die Ergebnisse von rund 40 weiteren ballistischen Untersuchungen, die am Ende der Ermittlungen manuell durchgeführt wurden, wurden jedoch zurückgenommen. Keiner der ballistischen Experten konnte das erklären. Vor zwei Jahren wurde im Prozess eine neue ballistische Untersuchung angeordnet. Diese hat jedoch noch immer nicht begonnen. Das deutet darauf hin, dass sie befürchten, dass sogar die ballistischen Experten der Regierung zeigen würden, dass diese Rücknahme fingiert war.
Die gesamte Aufnahme des belgischen Senders VRT-News wurde im Gerichtsprozess gezeigt. Sie zeigte, dass Maidan-Demonstranten von einigen anderen Demonstranten an den Ort des Massakers gelockt wurden und dass sie brüllten, sie hätten Scharfschützen im Hotel Ukraina gesehen, die andere Maidan-Demonstranten erschossen. Einige zeigten auf die Schützen und nachdem eine Kugel knapp neben ihnen in einem Baum einschlug, riefen sie den Schützen zu, nicht zu feuern. Diese wichtigen Videosegmente wurden nur einer kleinen Anzahl von Leuten in der Verhandlung gezeigt, und ich habe sie in meinen Online-Videoanhang auf YouTube aufgenommen, nachdem ich das Video vom belgischen Fernsehen erhalten hatte.
Ausschnitt aus den Aufnahmen des belgischen Senders VRT vom 20. Februar 2014: Vorrückende Maidankämpfer drehen sich nach Schüssen von hinten um und zeigen auf Schützen im Hotel Ukraina. Bild: VRT/Ivan Katchanovski.
Andere Teile dieser Aufnahmen wurden einem Millionenpublikum in vielen Ländern gezeigt als Beweis dafür, dass Regierungstruppen die Maidan-Demonstranten massakriert haben. Tatsächlich zeigte sich das Gegenteil, dass in diesem vom Maidan kontrollierten Gebäude Scharfschützen waren, die Maidan-Demonstranten erschossen.
In der New York Times erschien eine Dokumentation, die den Tod von drei Opfern des Massakers rekonstruierte. Dieser Beitrag betonte, dass diese drei Opfer von Polizisten erschossen wurden. Was sagen Sie zu dieser Doku?
Als Wissenschaftler, der sich mit dem Massaker befasst, war ich überrascht, dass die NYT eine derart krasse Manipulation von Daten veröffentlicht. Die Schusswunden der getöteten Maidan-Demonstranten in diesem 3D-Modell stimmen nicht mit den Schusswunden der forensischen medizinischen Berichte überein, die in dieser Simulation verwendet wurden, um die Standorte der Schützen zu bestimmen und in ukrainischer und englischer Sprache auf der verlinkten Website veröffentlicht wurden. Laut diesen Berichten wurde Ihor Dmytriv in der „rechten Seitenfläche“ und der „linken Seitenfläche“ getroffen. Der Schusskanal in seinem Körper verlief „von rechts nach links, von oben nach unten und leicht von vorne nach hinten“, wobei die Eintrittswunde 20 Zentimeter höher liegt als die Austrittswunde.
In der Simulation wurden seine Wunden jedoch nach vorne und hinten verschoben und nahezu horizontal gemacht. Die Schusswunden der beiden anderen Opfer wurden ähnlich verändert. Ich habe ihre tatsächlichen und falsch dargestellten Wundstellen in Bildern gezeigt, die ich auf der APSA-Jahrestagung im vergangenen August in Boston vorgestellt hatte, sowie in einem langen Artikel, den ich gerade den US-Medien vorgelegt habe. Das Ändern der Wunden macht die gesamte Rekonstruktion und damit die Schlussfolgerungen des NYT-Artikels ungültig.
Wie schätzen Sie die Berichterstattung der großen nordamerikanischen Medien zu dem Massaker und den Ermittlungen insgesamt ein?
Die Berichterstattung über das Maidan-Massaker durch die Mainstream-Medien in den USA und Kanada beinhaltet eine grobe Falschdarstellung. Diese geschieht, indem Fake News über das Massaker veröffentlicht werden und keine wichtigen Enthüllungen über Maidan-Scharfschützen, die Beteiligung der Maidan-Führung und die Vertuschung und Behinderung der Ermittlungen gemeldet werden. Im Gegensatz zu vielen Interviews und Veröffentlichungen in amerikanischen und kanadischen Medien über meine Forschung zu anderen Themen wird über meine Forschung zum Maidan-Massaker nicht berichtet, obwohl meine Untersuchungen auf den wichtigsten wissenschaftlichen Konferenzen dieses Umfeldes präsentiert und von einem führenden wissenschaftlichen Verlag veröffentlicht wurden.
Die Berichterstattung über postkommunistische Länder, insbesondere die Ukraine, durch amerikanische und kanadische Medien ist ein weiterer Bereich meiner Forschung. Das Maidan-Massaker wird aus politischen Gründen falsch dargestellt, denn die Ukraine ist ein US-amerikanischer Klientelstaat. Kein großer US-Politiker wirft das Massaker als Thema auf, und die Berichterstattung in den Medien folgt häufig den von der heimischen politischen Elite produzierten Erzählungen.
Deutsche Journalisten, vor allem die Osteuropa-Korrespondenten der ARD, glauben bis heute nicht, dass es Schützen im Hotel Ukraina und anderen Maidan-Gebäuden gegeben hat. Dabei hatte das ZDF sogar selbst solche Schützen gefilmt, die das ZDF-Zimmer gestürmt hatten. Das ARD-Zimmer wiederum wurde aus Richtung des Maidan beschossen. Was sagen Sie zu dieser Realitätsverweigerung der Journalisten?
Das ist einfach nur erstaunlich aber auch aufschlussreich, was den Stand der Berichterstattung über das Maidan-Massaker betrifft und was den Zustand der Mainstream-Medien und ihrer politischen Vorurteile betrifft. Die Sichtprüfungen von Einschusslöchern durch Regierungsermittler bestätigten meine Untersuchungsergebnisse, dass ARD-Journalisten in Zimmern auf zwei Etagen des Hotels Ukraina aus Richtung des Hauptpostamts und des Konservatoriums beschossen wurden. Das Postamt war zu dieser Zeit der Hauptsitz des Rechten Sektors. Das Musikkonservatorium war Hauptsitz der rechtsgerichteten, speziell bewaffneten Maidan-Selbstverteidigungstruppe.
Ich habe vor kurzem die Schüsse auf Demonstranten und Journalisten auf dem Maidan visuell rekonstruiert. Diese zeigt auch mithilfe forensischer Untersuchungsberichte von Regierungsermittlern, mit Videos, mit Fotos sowie mit Social-Media-Berichten von Journalisten, dass Medienvertreter von ABC (USA), ABC (Australien), Associate Press, BBC, Sky News, RT und TVP im Hotel Ukraina von Scharfschützen aus anderen vom Maidan kontrollierten Gebäuden beschossen wurden.
Die visuelle Rekonstruktion zeigt zudem, dass die Polizei – Berkut und Omega – in der Regel über die Demonstranten hinweg in die zweiten und höheren Etagen des Hotels Ukraina und in elektrische Masten, einen Blumenkasten und Bäume schoss. Sie zeigt auch, dass Polizisten die Maidan-Demonstranten nicht ins Visier nahmen, denn Einschusslöcher im ersten Stock des Hotels Ukraina fehlen, das sich hinter mehreren Dutzend Demonstranten befand, die in diesem Bereich getötet und verwundet wurden. Synchronisierte Videos zeigen, dass sich Maidan-Demonstranten in der Massaker-Zone für die Berkut-Polizei in einem toten Winkel befanden.
In Deutschland hat der Fall des lügenden Journalisten Claas Relotius für Aufsehen gesorgt. Sie haben darauf hingewiesen, dass Relotius auch Falschmeldungen über das Maidan-Massaker produzierte. Worum ging es da?
Der preisgekrönte Journalist veröffentlichte Fake News darüber, dass ein Vater mit einem Kind im Arm während des Maidan-Massakers von einem Scharfschützen erschossen wurde und dutzende Demonstranten von Scharfschützen in der Nähe einer Mauer getötet wurden, die von Panzern des Militärs zerstört wurde. Das ist eine krasse Fälschung, da kein Vater mit einem Kind erschossen wurde, es keine solche Mauer und auf dem Maidan auch überhaupt keine Panzer gab.
Wie sieht heute die öffentliche Meinung und Berichterstattung in der Ukraine zu dem Massenmord aus?
Ich habe keine Kenntnis von jüngsten Meinungsumfragen in der Ukraine bezüglich des Massakers. Viele Menschen verlassen sich bei ihren Informationen und Nachrichten auf das Fernsehen und andere Medien. Alle großen nationalen Fernsehsender und fast alle anderen Medien müssen jetzt den Erzählungen der Regierung über das Massaker von Maidan und vom Krieg im Donbass folgen oder es drohen Schließungen, Geldbußen oder Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre oligarchischen Eigentümer. Ich habe in den vergangenen Jahren einige Interviews in bekannten Fernsehsendern zu meinen Nachforschungen zu diesem Massenmord gegeben. In diesem Jahr stimmte die Berichterstattung der Sender über das Massaker und andere Themen jedoch mehr mit der offiziellen Erzählung überein.
Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass sich die Situation in der Ukraine in gewissem Maße ändert, weil Poroschenko möglicherweise die Präsidentschaftswahlen im März verliert. Aus diesem Grund gibt es in letzter Zeit einige Anzeichen für mehr Offenheit in Bezug auf das Maidan-Massaker. Anatolii Hrytsenko, einer der führenden ukrainischen Präsidentschaftskandidaten, der auch ein Maidan-Politiker und Verteidigungsminister war, erklärte kürzlich in einem Interview, dass die Ermittlungen gegen das Maidan-Massaker wegen der Beteiligung eines Angehörigen der derzeitigen ukrainischen Führung eingestellt werden. Mein fast einstündiges Interview zu meinen Recherchen zu diesem Thema wurde vor einigen Tagen von einem Fernsehsender in Luzk in der Westukraine übertragen.
Zum Abschluss: Sie haben auch schon auf Parallelen zum Maidan-Massaker in anderen Ländern wie Venezuela oder Rumänien verwiesen. Können Sie das kurz näher erläutern?
Es gibt einige Parallelen zwischen dem Massaker vom Maidan im Jahr 2014 und dem Massaker der Llaguno-Brücke während des von den USA unterstützten Putschversuchs gegen die Regierung von Venezuela im Jahr 2002 und den Massakern in Rumänien nach dem Sturz Ceausescus im Jahr 1989. Eine Dokumentation und das Buch eines ehemaligen Korrespondenten von Associated Press in Venezuela und ein irischer TV-Dokumentarfilm legen nahe, dass nicht identifizierte Scharfschützen in Hotels und anderen Gebäuden sowohl auf regierungsfeindliche als auch auf regierungsnahe Demonstranten und auch auf die Polizei geschossen haben, nachdem Oppositionsführer eine große Demonstration in die Nähe des Präsidentenpalasts von Chavez gelenkt hatten.
Wie im Fall des Maidan-Massakers behaupteten die oppositionellen venezolanischen Medien, die westlichen Medien und die westlichen Regierungen sofort, dass die Demonstranten von Chávez-Anhängern, die von einer Brücke schossen, massakriert wurden. Angesprochene Dokumentationen und das Buch des AP-Reporters deuten jedoch darauf hin, dass die Anhänger von Chavez mit ihren Handfeuerwaffen schossen, nachdem sie von unbekannten Scharfschützen in nahe gelegenen Gebäuden und von der örtlichen Polizei beschossen worden waren. Die Identität dieser Scharfschützen bleibt unbekannt. Wie im Fall des Massakers vom Maidan, spielten nicht Massenproteste die entscheidende Rolle beim Sturz der Regierung, sondern das Massaker.
In Rumänien wurden im vergangenen Jahr der ehemalige Präsident und drei andere Führer der „Revolution“ von 1989 unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, nachdem sie die Macht ergriffen hatten, um Massenmorde unter falscher Flagge zu provozieren, die 863 Tote forderten. In den Anklagen der Staatsanwaltschaft heißt es, dass sie solche orchestrierten Tötungen und andere Gewalttaten eingesetzt haben, um ihre Macht zu legitimieren und Ceausescu für diese Massenmorde in einem Scheinprozess zu exekutieren, an dessen Durchführung sie beteiligt waren. Diese und andere Führer der neuen rumänischen Regierung und der militärischen Befehlshaber provozierten im Grunde die Ermordung von Anhängern der neuen Regierung durch andere Anhänger der neuen Regierung, einschließlich des Militärs, indem sie unter anderem falsche Informationen verbreiteten wie etwa, dass Ceausescu treue Scharfschützen die Anhänger der neuen Regierung töten.
Und es gibt noch eine weitere interessante Parallele zu Rumänien: Leonid Krawtschuk, der erste Präsident der Ukraine, hat kürzlich bekannt gegeben, dass er Informationen besitzt über einen Plan mit dem Decknamen „Ceausescu“. Diesem Plan zufolge sollte auch Viktor Janukowitsch während des Massakers von Maidan ermordet werden. Und auch das passt zu Zeugenaussagen und anderen Beweisen, die im Gerichtsprozess offen gelegt wurden.
Ivan Katchanovski stammt aus der westukrainischen Stadt Luzk, lebt aber seit mehr als 20 Jahren in Nordamerika. Der Universitätslehrer ist kanadischer Staatsbürger. Er promovierte an der George-Mason-Universität in Fairfax (Virginia) bei Washington und hatte später Forschungs- und Lehraufträge unter anderem in Toronto und Harvard. Derzeit lehrt er Politikwissenschaften an der School of Political Studies (Universität Ottawa). Seit dem Massaker auf dem Maidan sammelt er alle öffentlich zugänglichen Materialien zu dem Blutbad und wertet diese in einer ständig aktualisierten Studie aus.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Als „Himmlische Hundertschaft“ (Nebessna Sotnja) werden in der Ukraine die rund 100 toten Maidankämpfer und -demonstranten bezeichnet, die in den Straßenschlachten auf dem Maidan in Kiew aber auch in anderen Landesteilen getötet wurden. Die Maidanarmee Samoborona war paramilitärisch in Hundertschaften (Sotnjas) gegliedert. Die Polizei unter Janukowitsch galt der Maidanbewegung als Gegner beziehungsweise Mörder der Himmlischen Hundertschaft, so dass es ein propagandistisch bemerkenswerter Schritt ist, die durch Maidankämpfer getöteten Polizisten ebenfalls zur Himmlischen Hundertschaft und damit direkt zu den Opfern Janukowitschs zu zählen.
(2) Der damalige US-Vizepräsident Biden erzählte dies selbst in Washington auf einer Veranstaltung des Council on Foreign Relations im Januar 2018. Er habe mit der Blockade eines anstehenden IWF-Milliarden-Kredits für Kiew gedroht, wenn Schokin nicht innerhalb von sechs Stunden (!) entlassen werde. Wörtlich sagte er: „I said, nah, I’m not going to -- or, we’re not going to give you the billion dollars. They said, you have no authority. You’re not the president. The president said -- I said, call him. I said, I’m telling you, you’re not getting the billion dollars. I’m going to be leaving here in, I think it was about six hours. I looked at them and said: I’m leaving in six hours. If the prosecutor is not fired, you’re not getting the money. Well, son of a bitch. He got fired. And they put in place someone who was solid at the time.“
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