„Er stand mitten auf diesem majestätischen Friedhof der Zivilisation und fühlte sich wie ein Archäologe bei der Ausgrabung einer antiken Stadt, deren einstige Größe und Schönheit noch viele Jahrhunderte später beim Betrachter ehrfürchtiges Schaudern hervorrief.
Artjom versuchte sich vorzustellen, dass einst Menschen diese zyklopischen Bauten bewohnt hatten. Mit solchen Fahrzeugen hatten sie sich fortbewegt. Diese hatten damals sicher noch in allen möglichen Farben gefunkelt und waren sanft rauschend über die glatte Fahrbahn gerollt, sodass der harte Asphalt von ihren Gummireifen warm wurde. Die Metro hatten sie nur benutzt, um schneller von einem Ende dieser grenzenlosen Stadt zum anderen zu gelangen. Unvorstellbar. Woran hatten sie jeden Tag gedacht. Was waren ihre Sorgen gewesen? Welche Sorgen konnte man überhaupt haben als Mensch, der nicht jede Sekunde um sein Leben fürchten muss, der nicht ständig darum kämpft, es wenigstens noch um einen Tag zu verlängern. (…)
Unfähig sich zu rühren, sah sich Artjom wie verzaubert nach allen Seiten um und unterdrückte ein inneres Beben, das ihn plötzlich erfasst hatte. Erst jetzt begriff er, warum die Stimmen der Alten so sehnsüchtig geklungen hatten. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie weit sich der Mensch von seinen einstigen Errungenschaften entfernt hatte. Er gleicht einem herrlichen Vogel, der einst stolz am Himmel gekreist und nun ― tödlich verwundet ― auf der Erde gelandet war, um sich einen geschützten Winkel zurückzuziehen und dort leise zu sterben“ (1).
Das Unvorstellbare ist es, mit dem Glukhovsky in der Metro-Reihe arbeitet. Leser und Romanheld treffen sich in den Büchern an der eigenen Grenze ihrer Vorstellungskraft. So schwer es uns als Lesern fällt, uns mit allen Sinnen darin hineinzuversetzen, wie es wohl sein mag, die gesamte Lebenszeit in finsteren U-Bahnschächten und behelfsmäßig hergerichteten Metrostationen zu verbringen, so könnte der Romanheld die Welt des Lesers, unsere Welt, allenfalls erahnen.
Auf mehr als 2.000 Seiten macht Glukhovsky uns als Leser verständlich, was Nikita Chruschtschow meinte, als er sagte: „Im nächsten Krieg werden die Überlebenden die Toten beneiden.“
Im Jahr 2007 erschien der erste Band „Metro 2033“. Im Klapptext finden wir die Angabe, dass 25 Jahre vor der Handlung des Romans ein Nuklearkrieg die Welt verwüstet hätte und die verbliebenen Menschen ihr Dasein in den U-Bahnschächten der zerbombten und verstrahlten Welt fristen. Somit ist der alles vernichtende Krieg im Jahr 2008 zu verorten. In der realen Welt war damals das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen im Vergleich zum heutigen russophoben Klima geradezu freundschaftlich, wenngleich in Wladimir Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz bereits eine unverkennbare Unterkühlung zu vernehmen war. Von der derzeitiger Kriegsrhetorik und -besoffenheit waren Leitmedien und Gesellschaft noch meilenweit entfernt, ebenso im Jahr 2009, dem Erscheinungsjahr des zweiten Bandes. Ganz zu schweigen von der Vorstellbarkeit eines heißen Krieges zwischen Russland und der NATO.
Signifikant anders verhielt es sich dann im Jahr 2015, als der dritte Teil in den Regalen der weltweiten Buchhandlungen Platz nahm. Der Maidanputsch hatte sich im Jahr zuvor ereignet und seither tobt ― auch wenn das die meisten vergessen zu haben scheinen ― in der Ukraine ein Bürgerkrieg, während die Dämonisierung Russlands ungehindert ihren Lauf nimmt. Doch selbst in der Mitte der 2010er-Jahre war die Vorstellung eines heißen Krieges mit Russland eine Gefahr, die allenfalls im Kreise der damals erblühenden Alternativmedienszene diskutiert wurde. In der Breite der Gesellschaft dominierten andere Themenfelder die tagesaktuellen Gespräche.
Seit 2022 ist die Metro-Trilogie ― bedauerlicherweise ― sehr gut gealtert beziehungsweise hat sie nun ihre Reife im Sinne der Aktualität erlangt.
In allen Facetten zeigt sie uns die Konsequenzen eines Nuklearkrieges auf und fungiert als ein Mahnmal in Zeiten, in denen realitätsferne, wohlstandsverwahrloste und zugleich militäruntaugliche Kommentatoren des Zeitgeschehens einen Atomkrieg billigend in Kauf nehmen, während sie sich die vergangenen drei Jahre neurotisch vor einer Grippe fürchteten.
Für die Romanfiguren herrscht in der Diegese der Bücher eine wirkliche Maskenpflicht. Zumindest beim Betreten der radioaktiv verseuchten Oberfläche. Mit einem Stofflappen, einer OP- oder FFP2-Maske ist es dabei nicht getan. Hier bedarf es einer ABC-Maske mit Sauerstofffiltern, um im vormaligen Habitat des Menschen überleben zu können.
Dmitry Glukhovsky ― „uncancelbar“?
Russische Kultur wirkt seit 2022 auf den politisch korrekten Socical-Justice-Warrior wie Pollen bei einem Allergiker. Vollkommen gleich, ob bestimmte russische Künstler sich je zu Putin ― nicht ― bekannten oder bereits verstorben sind, ehe selbiger das Licht der Welt erblickte ― alles Russische muss weg! Fjodor Dostojewski soll nicht mehr an Universitäten gelesen, Peter Tschaikowski nicht mehr gespielt werden, russische Komponisten und Sängerinnen haben sich von Putin zu distanzieren, Longdrinks wie der „Moscow-Mule“ werden bei gleichbleibender Rezeptur in „Kiew-Mule“ umbenannt und russische Läden werden unter dem Schweigen der selbst ernannten Rassismusbekämpfer mit rassistischen Schmierereien beschädigt.
Der ungezügelte Russlandhass geht mittlerweile so weit, dass die Politikwissenschaftlerin Florence Gaub bei Markus Lanz zur *ZDF-Primetime verkündete, Russen seien, auch wenn sie europäisch aussähen, gar keine Europäer, sie hätten einen anderen Bezug zur Gewalt, zum Tod und ihnen fehle der postmoderne liberale Zugang zum Leben, der zur individuellen Selbstverwirklichung vonnöten wäre.
Kurzum: Russland, die Russen und die russische Kultur als Ganzes wird barbarisiert. Das ist schon außerordentlich vermessen, wenn dieser Fingerzeig aus Deutschland kommt, einem Land, in dem das „Blutbuch“ der genderfluiden Kim de l‘Horizon den Deutschen Buchpreis abstauben kann, in dem sich Millionen Menschen allsonntäglich vor den Flimmerkisten zum voyeuristischen Mordgucken versammeln und in dessen Top-10 der erfolgreichsten Filme sich zweimal ein Schundwerk befindet, das eines der größten literarischen Erben Deutschlands ― Goethes Werke ― schändet. Dieses Deutschland wirft Russland kulturelles Unterentwickeltsein vor. Das ist ungefähr so, als würde T-Low Karl Lagerfeld bezichtigen, stillos zu sein.
Doch wie würden es die Zensoren nun mit Dmitry Glukhovsky halten? Ist er nicht auch einfach nur ein weiterer Russe, der einfach aufgrund seiner Herkunft gecancelt werden „muss“? Doch genau hier ist der Knackpunkt: Glukhovsky ist Putinkritiker ― und das schon lange und aus vollster Überzeugung. Er kritisierte den Kriegseintritt Russlands scharf und bezahlte dies mit dem Erscheinen seines Namens auf der russischen Fahndungsliste. Kurz nach Kriegseintritt musste er Russland verlassen.
Die üblichen Cancel-Argumente, mit denen sonst jegliche russischen Laute zum Verstummen gebracht werden, ziehen im Fall Glukhovskys nicht. Nicht, dass man sich überhaupt auf diese Ebene begeben müsste. Doch scheint es mehr als erwähnenswert, dass wir es hier mit einem niedergeschriebenen Friedensmahnmal eines Putinkritikers zu tun haben. Während ein Tolstoi oder ein Dostojewski ― die hier nicht auf eine Stufe mit Glukhovsky gestellt werden sollen (!) ― sich gar nicht von einem nachgeborenen Präsidenten distanzieren können, ist die Distanz bei Glukhovsky durch und durch gegeben. Sein Parteiergreifen für den rechtsradikalen Alexei Navalny ist freilich verstörend. Doch dass er Putin kritisiert und zugleich auf hohem literarischen Niveau vor einem Atomkrieg warnen kann, bleibt unverändert ein beeindruckender Spagat.
In die Tiefe zwischen Gruseln und Grübeln
Seine Metro-Romane sind keine Bücher, die man am Stand liest. Auch nicht im Café. Im Grunde genommen nirgends dort, wo Geräuschkulissen einer intakten Welt die Leseatmosphäre stören können. Die Bücher sind dafür prädestiniert, mit Taschenlampe unter der Decke gelesen zu werden. Vielleicht noch ― um das Ambiente zu vervollständigen ― mit Dark Ambient auf den Musikboxen.
Das Lesen dieser Bücher bedarf einer gewissen Konzentration und einer stimmigen Hingabe. Nur so erhält der Leser Zugang zu diesem schwer benennbaren Etwas, das den Büchern das verleiht, was man in einem schöneren Kontext als „Magie“ bezeichnen würde. Hier wäre es angemessen, statt von „Magie“ von einem Gefühl zu sprechen, einem Gefühl für den Kosmos, die verschlungene, schwer erfassbare Räumlichkeit, in welchem sich die Buchreihe abspielt. Wir befinden uns in einer unterirdischen Welt, die die politische, ökonomische, historische und soziale Landschaft der oberirdischen Vorkriegszeit fraktal widerspiegelt.
Einzelne U-Bahnstationen- und Linien bilden Staaten oder kleine Reiche mit ihren jeweiligen Normen, Hierarchien, Außenpolitiken und Wirtschaftssystemen. In diesem Zusammenhang sei für jene zu erwähnen, die sich noch nie mit der Moskauer Metro befasst haben, dass dieses unikale U-Bahnnetz nicht mit denen von Berlin oder Paris vergleichbar ist. Die Moskauer Metro hat mit mehr als 80 Metern die tiefsten U-Bahnstationen der Welt, was es den Romanfiguren ermöglicht, sich vor der Strahlung zu schützen. In Berlin wäre das undenkbar in Stationen, die sich teilweise gerade mal eine Etage unterhalb der Straße befinden. Und bei diesen Stationen handelt es sich nicht einfach nur um längliche Räume mit einem Bahnsteig, nein, die Stationen entsprechen teilweise gigantischen, prunkvollen Palästen mit Marmorfliesen, majestätischen Bildhauereien und zentnerschweren Kronleuchtern an den gewölbten Decken.
Tatsächlich diente die Moskauer Metro den Menschen in der Vergangenheit schon mal als temporärer Zufluchtsort, als die Bomben der deutschen Wehrmacht-Luftwaffe auf Moskau niederregneten. Insofern beruhen die Romane konzeptionell auf einer wahren Begebenheit. Darüber hinaus ranken sich auch in der Jetztzeit Mythen rund um die Moskauer Metro, die in den Romanen aufgegriffen werden. Es wird gemunkelt, dass es parallel zur regulären Metro noch eine Metro-2 gäbe, von der allein der russische Militär- und Sicherheitsapparat wüsste. Dieses Metronetz würde alle wichtigen Staatsgebäude Moskaus miteinander verbinden.
Einige Tunnel sollen bis in das weit entfernte Uralgebirge führen, um das Staatsoberhaupt im Falle eins Vernichtungsangriffes in Sicherheit bringen zu können. Einige Mitarbeiter der Metro-1 wollen ihren Aussagen zufolge Züge in den Tunneln gesehen haben, die sonst nirgends verkehren. Diese Legenden befeuert sogenannte Digger, abenteuerlustige Adrenalinjunkys, in den Moskauer Untergrund vorzudringen und nach eben dieser Metro-2 zu forschen. So gäbe es in ganz Moskau zahlreiche, unaufbrechbar verriegelte Zugänge in den Untergrund, hinter denen die Eingänge zur Metro-2 vermutet werden.
Vor diesem Hintergrund errichtet Glukhovsky die Welt der postapokalyptischen Metro. Es gibt kommunistische Linien, einen liberal-demokratischen Stationenverbund mit einem vergleichsweise hohen Wohlstand, eine wirtschaftlich potente Hanse-Ringlinie, ein faschistisches Viertes Reich sowie unabhängige Stationen, verlassene, unerforschte Stationen, konföderale Stationen, von Sektierern oder Kriminellen besetzte Stationen und anarchistische Stationen. In den U-Bahnschächten lauern die verschiedenartigsten, teilweise nicht benennbare Gefahren.
Die Metrokarte mit allen Stationen, Stationsgemeinschaften und ausgewiesenen Gefahren. Siehe „Metro 2035“, München, 2015, im Buchumschlag. © Heyne-Verlag.
Die Ressourcen sind knapp und entsprechend hoch ist das Konfliktpotenzial, welches sich nicht selten in kriegerischen Handlungen entlädt. Die Gefahren sind radioaktiver, biologischer, aber eben auch mentaler Natur. Denn Glukhovsky scheut sich nicht, auch mit dem Paranormalen zu spielen. Man könnte ihm nun ankreiden, damit die an sich wichtige Thematik der Kriegsgefahr ins Unglaubwürdige, gar Lächerliche zu ziehen.
Doch wie eingangs erwähnt ist das Arbeiten mit dem Unvorstellbaren seine Spezialität. Wir können es uns doch ― wenn wir uns das ehrlich eingestehen ― gar nicht vorstellen, was es bedeutet, in einer nuklear verseuchten und zerbombten Welt zu (über)leben. Und wenn wir uns das nicht vorstellen können, dies aber innerhalb der Romanwelt die Realität darstellt, welche unvorstellbaren Gegebenheiten können dann noch Teil der Realität sein? Durch radioaktive Strahlung mutierte Wesen, die von der Oberfläche in die U-Bahnschächte eindringen? Halluzinationen in der alles Licht verschlingenden Dunkelheit der Schächte? Geisterzüge, die durch die Tunnel rauschen? Rote Sterne, die Menschen beim Anblick in einen hypnotischen Bann ziehen?
Glukhovsky (be)schreibt all dies, aber schreibt uns Lesern nicht vor, wie wir diese Phänomene zu deuten haben. Er stellt uns als Leser an die Seite des jungen Protagonisten Artjom und daher können wir die Welt der Metro nur so weit erfassen, wie Artjom sie mit seinen Sinnen ― nicht ― erfasst. Die Erzählungen aus den Mündern anderer Romanfiguren befeuern die Fantasie, sich einen Reim auf das Unerklärliche zu machen.
Die Geschehnisse in den Schächten und die Ereignisse an den anderen Stationen werden immer nur angedeutet, sodass wir als Leser unsere eigene Vorstellungskraft bemühen müssen, um uns auszumalen, was sich abseits des Wahrnehmungsradius des Protagonisten abspielt. Welches Schicksal hat die anderen, ausgestorbenen Stationen ereilt? Was passiert in den Schächten? Was befindet sich dort? Warum verschwinden dort Menschen? Warum kehren manche Menschen physisch aus den Schächten zurück, während ihr Verstand in selbigen verloren gegangen ist?
Wer die Heldenreise des Artjoms achtsam liest, bekommt Zugang zu diesem weiter oben beschriebenen gewissen Etwas ― das Gespür für die schwer greifbare Räumlichkeit. Die Metro ist eben mehr als nur als ein Netz aus Tunneln. Sie ist ― so wird es auch im Roman beschrieben ― ein lebender Organismus, der über die Jahre nach dem Krieg ein Eigenleben entwickelt hat. Die Metro atmet, denn Winde von der Oberfläche pfeifen durch die Gänge. Nichts ist statisch oder vorhersehbar. Stationen zerfallen durch Krieg und Seuchen, Tunnel stürzen ein, Mutanten dringen durch die Oberfläche ein.
Beim Lesen blättern wir immer wieder auf die im Buchumschlag eingezeichnete Metrokkarte zurück, um uns zu orientieren, wo wir uns gerade befinden. Wer die Metro-Reihe gelesen hat, würde sich durchaus bei seinem ersten Moskaubesuch im ÖPNV gut zurechtfinden, da sich die Karte irgendwann ins Gedächtnis eingraviert hat und die einzelnen Stationen mit bestimmten, emotionalen Romanereignissen verknüpft sind. Mit jedem weiteren Kapitel, jeder weiteren Reise von Station zu Station bekommen wir ein besseres Verständnis für diese Welt, während gleichzeitig neue Fragen aufgeworfen werden.
Irgendwann führt die Reise dann auch ― mit entsprechender Schutzausrüstung ― an die verstrahlte Oberfläche. Und hier kommt ein weiterer Aspekt von diesem gewissen Etwas hinzu. Es ist die unmittelbare Nähe der beiden Welten. Die Welt der Metro einerseits und die vormals intakte Welt der Oberfläche andererseits. Während wir mit Artjom in den Schächten die unheimlichsten Situationen erleben, kann es sein, dass an der Oberfläche gerade freundlichstes Frühlingswetter mit Sonne und angenehmen Winden herrscht. Und umgekehrt können wir uns die Oberfläche vorstellen, auf der zwar die Relikte der Zivilisation verwüstet brachliegen und die radioaktive Strahlung als unsichtbare Gefahr den Menschen das Leben verunmöglicht, die Natur sich jedoch ihr Territorium zurückerobert und die Stadt eine gewisse Renaturalisierung erlebt. Und nur wenige Meter unterhalb dieser menschenleeren Naturidylle tragen sich blutigste Kämpfe und unheimlichste Ereignisse zu.
Und zoomen wir noch weiter hinaus, bekommt das Bild des Nachkriegshöhlenmenschen einen noch bitteren Geschmack. Glukhovsky schuf mit den ersten beiden Teilen den Grundpfeiler für ein ganzes Metro-Universum, einen Literaturkanon, dem sich Autoren aus aller Welt anschließen konnten.
Neben der offiziellen Metro-Trilogie gibt es noch 25 (!) weitere Metro-Bücher aus nicht nur russischen Federn. Autoren aus aller Welt erweiterten die Fiktion einer postapokalyptischen Metro-Zivilisation. So gibt es Metro-Romane mit der Nachkriegsausgangslage, deren Handlungen in anderen russischen Städten wie St. Petersburg, Murmansk, Wladiwostok oder Jekaterinburg spielt, aber auch in britischen, italienischen, ukrainischen oder amerikanischen Metropolen.
Betrachtet man dies in der Gesamtheit auf planetarer Ebene, so sehen wir einen Planeten, auf dessen Oberfläche die Spezies des Homo sapien vormals lebte, ehe sie sich durch kriegerische Auseinandersetzungen ihr eigenes Habitat zerstörte und fortan gezwungen wird, in eigens errichteten Tunnelsystemen unter der Erde ein erbärmliches Dasein zu fristen. Der Mensch hat sich im Grunde genommen selbst zu einem Wurm degradiert. Nicht umsonst ist in dem Metrosystem eine Religion entstanden, die die Gottheit in Gestalt eines großen Wurms anbetet. Der Mensch griff vormals nach den Sternen, strebte gen Himmel, den Himmel der nun durchgehend durch dicke Betondecken versperrt ist.
Kann man noch deutlicher veranschaulichen, wie wir durch den leichtfertigen Umgang mit Massenvernichtungswaffen unser eigenes Grab schaufeln?
Was ist es ― so stellen sich auch die Romanfiguren die Frage ―, das die Menschen noch am Leben hält? Für was leben sie überhaupt noch? Was lässt sie an diesem kümmerlichen Leben festklammern, ein Leben, welches eigentlich nur noch ein Überleben ist? Gefilterte Luft, ekeliger Pilztee, gammeliger Alkohol, ranziges Essen, schlechte hygienische Bedingungen, kein Tageslicht, geschweige denn Augen, die selbiges noch aushalten können. Alle Genüsse des Lebens sind hinfort. Und ebenso sein Sinn. Was wird denn angestrebt? Auf welches Ziel arbeitet die Rest-Menschheit hin? Für wen oder was noch Nachkommen zeugen? Ein Neugeborenes von dem Gebärmutterkanal in ein Kanallabyrinth gebären, wo es eine Welt, aber kein Licht erblickt?
Messerscharf und erbarmungslos verhandelt Glukhovsky diese anthropologischen Fragen einer vollumfänglich entfremdeten, da aus ihrem natürlichen Habitat selbst verdrängten Nachkriegsmenschheit, die sich nicht durch einen roten Apfel vom Baum der Weisheit, sondern durch das Betätigen eines roten Knopfes aus dem Paradies katapultiert hat. Mit Metro 2033-35 repräsentierte Glukhovsky junge russische Literatur von ihrer besten Seite. Es ist weit mehr als eine plumpe Überlebensstory, wie wir sie aus Serien wie „The Last of Us“ kennen. Wer so etwas wünscht, kann zu dem Ego-Shooter-Spiel greifen, das auf den Metro-Büchern basiert.
In den Büchern stehen jedoch nicht die Gewehrläufe im Vordergrund, sondern zahlreiche Themen, die hier klug behandelt werden. Es geht um die Fähigkeit des Menschen, sich selbst auszurotten, die Macht der Ideologien, Glaubensdogmen, tiefenstaatliche Strukturen, Realitätserzeugung- und verzerrung, Biopolitik im Zusammenhang mit Seuchen, okkultes Wissen und Symbole sowie das Hinterfragen von Weltbildern.
Im letzten Teil traut sich Glukhovsky, seine eigens errichtete Welt radikal zu hinterfragen. Ist die Oberfläche wirklich unbewohnbar? Sind die Menschen wirklich gezwungen, ihr Leben lang in Tunneln zu verbringen? Liegt wirklich die ganze Welt in Schutt und Asche? Sind die ganzen Konflikte innerhalb der Metro das Divide et Impera einer elitären Kaste, die sich auf Kosten der Metrobewohner ein prunkvolles Leben leistet?
Die Metro-Bücher laden uns dazu ein, uns selbst zu hinterfragen, in welchen Bereichen wir selbst mental in einem Schacht leben und diesen mit der realen Welt (ver)wechseln, wo in unserer Wahrnehmung Schatten liegen, die wir nicht wahrnehmen möchten. Wo ― so können wir uns als Leser fragen ― leben wir selbst in einem metaphorischen Tunnel und wo ist das Licht am Ende von selbigen?
Eine Romanfigur formulierte es ― unverkennbar Carl Gustav Jung nachempfunden ― so treffend, dass es im Buchumschlag des ersten Bandes hervorgehoben wurde:
„Wer kühn und beharrlich genug ist, ein Leben lang in die Finsternis zu blicken, der wird darin als Erster einen Silberstreif erkennen.“
Hier können Sie das Buch bestellen: „Metro 2033“
Hier können Sie das Buch bestellen: „Metro 2034“
Hier können Sie das Buch bestellen: „Metro 2035“
Der voraussichtliche Ablauf der Reihe (weitere können folgen):
(23. Juni 2023) Lilly Gebert: Jenseits von Schuld und Sühne (über Nikolai Gogols „Tote Seelen“ und die Eigenheiten der russischen Literatur
(30. Juni 2023) Michael Meyen: Mit dem Wolf nach Russland (über die sowjetische Kinderserie „Hase und Wolf“)
(7. Juli 2023) Nicolas Riedl: Russischer Tiefgang (über die apokalyptische Science-Fiction-Trilogie „Metro 2033-35“ von Dimitry Glukhovsky)
(14. Juli 2023) Bilbo Calvez: Eine Gemeinschaft in Sibirien (über ihre Zeit in einem sibirischen Dorf, in dem sie Ende vorigen Jahres mit gebrochenem Arm gestrandet ist)
(21. Juli 2023) Kenneth Anders: Die Russen und wir (über seine persönlichen Erfahrungen vom Kontakt mit der russischen Besatzungsmacht in einer Garnisonsstadt der DDR)
(28. Juli 2023) Felix Feistel: Antiautoritäres Russland (über die anarchistische Mentalität der Russen und seine Eindrücke während einer Reise in der Coronazeit)
(11. August 2023) Aaron Richter: Ein Monument der Freundschaft über Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“)
(18. August 2023) Renate Schoof: Weltliteratur und Birkenwälder (über die Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko, „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski und „Der Weg des Schnitters“ von Tschingis Aitmatow)
(25. August 2023) Hakon von Holst: Versöhnung im Land der Verbannung (über den Baikalsee und die ZDF-Dokuserie „Sternflüstern“)
(8. September 2023) Owe Schattauer: Die harten Neunziger (über die beiden russischen Filme: „Bruder“ von Alexei Balabanow und „Toschka ― Der Punkt“ von Yuri Moroz)
(15. September 2023) Roland Rottenfußer: Der Himmel auf Erden (über russische Spiritualität und Orthodoxie)
(22. September 2023) Wolfgang Bittner: Hinter dem neuen eisernen Vorhang (über seine Vortragsreise durch Russland und die damit verbundenen Erlebnisse)
(29. September 2023) Lea Söhner: Der Feindkomponist (über die Musik und das Leben von Pjotr Iljitsch Tschaikowski)
(6. Oktober 2023) Laurent Stein: Ein unbekanntes Viertel (über das Viertel Sokolniki in Moskau und die Erinnerungen an seine russische Großmutter)
Quellen und Anmerkungen:
(1) Siehe Glukhovsky, Dimitry: Metro 2033, München, 2012, Seite 514 bis 515.
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