Aber die Aufregung bei den Mandatsträgern der Politik hielt sich auch nach diesen Mahnungen des Weltklimarats in Grenzen. Die immer wieder aufgeflammte Skepsis, ob das nicht doch alles natürliche Abläufe wären, verschwand auch jetzt nicht. Es war diese Skepsis, die von Teilen der amerikanischen Ölindustrie angeheizt worden war mit dem Ziel, die Glaubhaftigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse zu untergraben.
1992 hatten 145 Staaten die Deklaration von Rio für eine nachhaltige Entwicklung unserer Zivilisation unterschrieben, hatten sich auf nachhaltige Produktionsweisen und Konsumgewohnheiten ... und auf wirksame Umweltgesetze verpflichtet, um die Gesundheit und die Unversehrtheit des Ökosystems der Erde zu erhalten. Über diese Ziele herrschte zur Erleichterung der hoch engagierten Zivilgesellschaft politischer Konsens.
Die Erdöllobby zerstört den politischen Konsens
Das betraf natürlich auch unser Energiesystem und seine klimaschädigenden Auswirkungen. Diese Rio-Erklärung forderte letztlich von der Öl- und Gasindustrie die Umstellung auf emissionsfreie Energien, also praktisch die Aufgabe ihres Geschäftsmodells. Widerstand lag nahe.
Als erste begannen Shell und Exxon systematisch, Skepsis und Zweifel zu säen und gründeten dazu die Lobbyorganisation Global Climate Coalition. Die redete Politikern weltweit ein, dass der Klimawandel ein natürlicher Vorgang sei und im Übrigen eine Abkehr vom Primat der fossilen Energien katastrophale Wirtschaftskrisen auslösen würde. Man agierte weltweit und mit Erfolg.
Sonderlich bekannt wurde das damals nicht. Lobbyarbeit ist immer dezent. Heute kann man das in einem sorgfältig recherchierten Beitrag in Wikipedia nachlesen unter Leugnung der menschgemachten globalen Erwärmung.
Der internationale Konsens zerbrach, nun wollte keine Nation mehr die erste sein. Die UN-Klimakonferenz in Kyoto einige Jahre nach Rio wurde bereits zum Fiasko. Vermutlich war es auch die Öffentlichkeitsarbeit dieser Climate Coalition, die dem Öl-Unternehmer George Bush junior zum Wahlerfolg gegen den Umweltaktivisten Al Gore verhalf.
Dies und der zusammengebrochene weltweite Konsens erscheint als entscheidender Wendepunkt in der Fähigkeit der westlichen Zivilisation, globale Bedrohungen gemeinsam anzugehen. Schaut man auf die heutige Situation, ist die Gründung dieser Lobbyorganisation vielleicht das größte Wirtschaftsverbrechen überhaupt.
Der Klimawandel ist ein Versagen der Parlamente
Dieser rasche Erfolg ist allerdings in mehrfacher Hinsicht überraschend. Denn für uns in der Industrie ist es Standard, Warnungen der Wissenschaft über Risiken mit Maßnahmen zu beantworten. Diese Pflicht ist auch für die Mandatsträger der Politik normaler Standard. Sind die Maßnahmen unpopulär, hat allerdings der primär an Wiederwahl denkende Berufspolitiker einen Konflikt und zögert. Dieses Zögern wurde nun zum zentralen Problem beim Umgang der Parlamente und Regierungen mit dem Klimawandel.
Immerhin gab es in Deutschland zwei mutige Parlamentarier, die die Untätigkeit der Regierung und der Ministerien nicht akzeptieren wollten: der Grünen-Abgeordnete Hans Josef Fell und der inzwischen verstorbene SPD-Abgeordnete Hermann Scheer. Sie brachten ein Gesetz zur Förderung der Erneuerbaren Energien ein, das EEG. Bei der Wirtschaft unbeliebt und deshalb von Regierung und Ministerien nicht unterstützt. Aber Hans Josef Fell hatte mit Erneuerbaren Energien in seiner Heimatstadt Hammelburg positive Erfahrungen gemacht.
Dieser Weg führte zum bekannten Solarboom. Leider unterblieb die Abhängigkeit der Förderung von der Tageszeit. Zwangsläufig erzeugten die sonnigen Mittagsstunden eine Schwemme an Solarstrom. Aus wirtschaftlichem Blickwinkel war klar, dass man sofort die Pflicht zur Speicherung und Tageszeitverteilung hätte vorgeben müssen oder dies wenigstens raschestens korrigieren. Das sind Fehler, die in der Energiewirtschaft erfahrenen Abgeordneten niemals passieren würden. Aber die findet man in unseren Parlamenten kaum. Der größte Teil des Wissens ist "erworben" durch Beratung durch die Industrie.
Als MdB Fell aus dem Bundestag ausschied, hörte man sofort wieder auf die Angstmache der großen Energiekonzerne und verdünnte das Konzept schrittweise. Zunächst die Streichung großer Anlagen, dann Ausschreibungspflicht, Bevorzugung des Atom- und Kohlestroms, Gebührenbelastung von Eigenstrom und die Blockade von Bürgerinitiativen und Selbstversorgung. Die Energiekonzerne eroberten gegen ein zu schwaches Parlament ihren Einfluss auf die Gesetzgebung zurück mit den bekannten Konsequenzen: EEG-Umlage und Stromkosten stiegen und stiegen und die CO2-Emissionen Deutschlands sanken nicht mehr. Die Fachkompetenz der Parlamente reichte nicht, um den Einflüsterungen der Energiekonzerne zu begegnen.
Parlamente brauchen Sachkompetenz
Gerade solche Vernachlässigung der Anstrengungen gegen den Klimawandel zeigt, dass unser Regierungssystem ein Grundproblem hat. Machterhalt und Wiederwahl dominieren. Hohe sachliche Kompetenz hat dagegen wenig Priorität, ist aber bei solchen Herausforderungen entscheidend. Denn hohe Sachkompetenz heißt hohe Urteilskraft und ist damit die beste Abwehr gegen einseitigen Lobbyeinfluss. Sie ist für ein „Zähmen“ marktwirtschaftlicher Fehlentwicklungen unerlässlich. Die Kompetenzmischung im Team muss stimmen.
Erfolgreiche Teams aufzubauen, ist nicht nur im Fußball wichtig. Es ist die Stärke, die auch den Erfolg von Wirtschaftsunternehmen bestimmt. Die bemühen sich mit viel Sachverstand um die Auswahl und die Weiterbildung talentierten Führungsnachwuchses. Bei der Aufstellung der Kandidatenlisten der Parteien scheint Kompetenz nur eine nachgeordnete Rolle zu spielen. Parteizugehörigkeit, Redetalent und ein Schuss Populismus genügen. Bewähren muss sich diese Mischung dann im Wahlerfolg. Aber sollten die Parteien nicht zu allererst auf Kompetenz und berufliche Erfahrung achten, wenn Sie dem Wähler einen Kandidaten anbieten?
In meinem letzten Buch habe ich vorgeschlagen, diese Kompetenz auch für den Wähler sichtbar zu machen und die Kandidatenlisten einzuteilen in Sektoren für Soziales, Innenpolitik, Außenpolitik sowie Wirtschaft und Umwelt. Damit entstünden Kompetenzteams, die sich durch die interne Diskussion befruchten und einen Großteil der einfacheren Gesetze ohne Belastung des übrigen Parlaments abarbeiten könnten. Dem Wähler könnte man die Möglichkeit geben, für die genannten Themen jeweils Teams unterschiedlicher Parteien zu wählen. Der Wähler hätte also beispielsweise die Möglichkeit, die Innenpolitik der einen Partei und die Umweltpolitik einer anderen Partei zu wählen.
Dieses Prinzip bei der Aufstellung der Kandidatenlisten legt allerdings nahe, die Idee des Wahlkreiskandidaten zu verlassen und sich ganz auf die Frage der Eignung im Team zu konzentrieren, ohne Priorität der lokalen Wurzeln. Gibt man den Wahlkreiskandidaten auf, fallen naturgemäß die Überhangmandate weg und eine feste Größe des Parlaments wird möglich. Die hohen Kosten der Überhangmandate und die Aufblähung der Parlamente werden vermieden.
Das Schwierigste dem Bürger überlassen
In Vorlesungen über Sozialpsychologie während meiner Studienzeit in USA hatte ich gelernt, dass große „Organisationen“ sehr ähnliches Verhalten haben, wenn es um Motivation und Mitnahme geht. Kaum ein Unterschied besteht für die Psychologen zwischen den hunderttausenden von Mitarbeitern großer Konzerne und den vielen Bürgern einer Nation. Sie alle wollen informiert sein, mit einbezogen und sich respektiert fühlen. In der Wirtschaft entstand daraus die Mitbestimmung. Sie stellt sicher, dass Einzelthemen, die nach Meinung der Belegschaft vom Vorstand nicht optimal angegangen werden, durchgesprochen und teils sogar nur unter Beteiligung von Belegschaftsvertretern entschieden werden müssen.
Ein Analogon in der Demokratie ist der Volksentscheid. Er ist vor allem dann interessant, wenn die stark unterschiedlichen Meinungen im Parlament mutige Entscheidungen verhindern. Das beobachten wir derzeit beispielsweise beim CO2-Preis. Fragen wie diese sind naturgemäß komplex. Das wird gerne als Argument verwendet gegen den Volksentscheid. Richtig ist, dass ein Volksentscheid nur dann Qualität haben kann, wenn die Bürgerschaft vorher reichlich Gelegenheit hat, sich zu informieren und dabei auch von einem zweifelsfrei neutralen Informationsangebot begleitet wird. Nicht nur der Entscheid, sondern auch die Akzeptanz des demokratischen Systems können gewinnen.
Das Informationsangebot muss allerdings ein Verfahren sein, das aus der Bürgerschaft selbst kommt, eventuell unterstützt von werteorientierten Teilen der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft. Denn die Stellungnahmen der Politik sind naturgemäß gefärbt. Dazu gibt es Vorbilder in der Schweiz und in etlichen Bundesstaaten der USA.
Darauf aufbauend, ging gerade ein großes Experiment zu Ende, organisiert vom Verein Mehr Demokratie eV. In einem aufwändigen Verfahren wurden aus den Meldelisten unterschiedlich großer Gemeinden und Städte 4000 Bürger ausgelost. Sie stellen einen guten Querschnitt unserer Bevölkerung dar. 160 von Ihnen trafen sich nun zu einem Bürgerrat in Leipzig, um über den bundesweiten Volksentscheid und dessen Begleitung durch einen solchen Bürgerrat zu diskutieren. 99 % der Beteiligten treten für dieses Modell ein, ein hoffentlich überzeugender Aufruf, gerade zu den schwierigen Themen des Klimawandels die Bevölkerung durch Volksentscheide hinzuzuziehen.
Sie sind gerade dann hilfreich, wenn es um grundsätzliche Korrekturen unseres marktwirtschaftlichen Modells geht, die ja zwangsläufig besonders umstritten sind zwischen dem entsprechenden Wirtschaftszweig und mahnenden Teilen der Zivilgesellschaft. Die hohe Zustimmung beim bayrischen Volksentscheid zum Erhalt der Artenvielfalt ist ein typisches Beispiel. Auch der Bundestag sollte daraus seine Schlüsse ziehen und die im Koalitionsvertrag vereinbarte Expertengruppe nun zusammenstellen.
Nachbessern, zustimmen und Wahlrechtsreform
Gerade die heftige Kritik an der Gesetzesvorlage zum Klimaschutz fordert generell heraus, die Entscheidungsfindung in den Parlamenten zu überdenken. Wirtschaftsfreundlichkeit und Ängstlichkeit haben die Feder geführt — keine Lösung für ein so grundsätzliches Thema. Es wird vermutlich zu Nachverhandlungen für die Zustimmung im Bundesrat kommen. Eine Blockade ist nicht anzuraten, denn es handelt sich nur um erste Schritte und die Zeit drängt.
Aber zwangsläufig sollte zeitgleich überlegt werden, wie diesen Schwächen durch eine Wahlrechtsreform begegnet werden könnte. Die Antwort kann nur eine Neuordnung des Wahlrechts sein, das Kompetenz des Abgeordneten wieder in den Fokus stellt und Berufspolitik ohne vorherigen Berufshintergrund zur Ausnahme macht.
Das Parlament muss das Volk vertreten.
Als lebenslanger Beruf war der Parlamentarier nie gedacht. Der Klimawandel ist eine Fehlentwicklung unserer Marktwirtschaft. Zähmen können diese nur gute Regierungen und Parlamente. Es ist eine ihrer Schlüsselaufgaben.
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