Überall, also nicht nur in der bilderbuchschönen urdemokratischen Schweiz, haben es gesellschaftskritische Köpfe, ob sie nun Sozialwissenschaftler, Dichter, Denker, linke Politiker oder Whistleblower sind, sehr schwer, überhaupt Gehör zu finden, geschweige denn, auf dem roten Teppich gefeiert zu werden. Auch wenn sie es verdient hätten wie Peter Fahr, der bekennende „Rote“, der noch immer vom Berner Establishment totgeschwiegene Schriftsteller und Poet.
Gemessen daran, dass die Basisdemokratie Schweiz von einer mehrsprachigen, also zutiefst multikulturellen Gesellschaft getragen wird, von der man Weltoffenheit nicht nur für Schwarzgelder von Diktaturen und wohlhabende Touristen erwartet, sondern auch für selbstkritische Gedanken, sind linke „Eingeborene“ hier noch unbeliebter als in den meisten anderen europäischen und außereuropäischen kapitalistischen Demokratien.
Kritiker des eigenen Völkchens werden in der Schweiz selten offen bekämpft, sie werden einfach totgeschwiegen. Jean Ziegler genießt wahrscheinlich in der ganzen Welt mehr öffentliches Ansehen als in seiner geliebten Schweiz. Hier wird er auch nach Jahrzehnten weltweiter Brandreden gegen den Hunger in der Welt und öffentliches Aufsehen erregender globalisierungskritischer Bestseller noch immer als Nestbeschmutzer abgetan. Warum? Weil er den Schweizer „Bankenbanditismus“ für die sozialen und ökologischen Schäden der Globalisierung, den Hunger und das Unrecht in der Welt – meist unbezweifelbar belegt – mit verantwortlich macht.
Zwar haben auch die eingeborenen Schweiz-Kritiker ihre Gemeinden, ihre Fanclubs, ihren engeren Freundeskreis. Und die sind – zusammengezählt – keineswegs so bedeutungslos, wie man aufgrund fehlender Berichterstattung allzu gern glaubt. Allerdings gelten die, die man kennt, als „nicht ganz normal“, auch nicht, wenn sie bei öffentlichen Auftritten – zumindest in den Städten – große Säle füllen können. Der Vorwurf – „nicht normal“ – stimmt sogar, weil sich in der Schweiz Vieles als normal etabliert hat, was – wenn es sich in anderen Demokratien auch nur ansatzweise zeigt – sofort unter Anomalie- oder sogar unter Extremismusverdacht geriete.
Wer regt sich darüber auf, dass laut Weltgesundheitsorganisation in einer Meldung vom 18. Februar 2002 bei Schweizer Jugendlichen die häufigste Todesursache nach den Verkehrsunfällen der Selbstmord ist?
Peter Fahr hat dazu einen – leider noch immer aktuellen – Vierzeiler verfasst, der es in sich hat:
„die schule lehrt den schüler nicken,
denn wer sich wehrt ist vogelfrei.
sie will nicht formen, sondern knicken:
wer’s überlebt, ist mit dabei.“
Ab und zu gelingt es Totgeschwiegenen wie diesem hartnäckigen Peter Fahr, die Mauer des Schweigens, die die Mainstream-Medien der Alpenrepublik um ihre die Alpen-Idylle hinterfragenden Landsleute herum errichten, einen kurzen Augenblick zu überwinden.
Das gelingt ihm gelegentlich trotz der panischen Ängste der Mehrheit der Alpenrepublikaner, es könnte sich bankenfeindlicher Veränderungswille verbreiten. Die größte Angst scheint zu sein, dass die Masse der eingeborenen „Normalos“ und „Banalos“ vom Bazillus der Systemkritik befallen werden könnte. Nachdem am 6. Mai 2000 bekannt wird, dass die in der Schweiz deponierte Milliarde Franken des 1998 verstorbenen nigerianischen Diktators Sani Abachi von der Schweizer Justiz eingefroren und auf 15 Banken in Genf und Zürich aufgeteilt wurde, äußert sich Peter Fahr dazu, kurz und trocken:
„von dieben, dealern, diktatoren
sind banken dazu auserkoren,
das geld zu schützen in tresoren
vor jenen, die es einst verloren.“
Selten nur, erfreulicherweise aber doch immer wieder einmal, gelang es Peter Fahr, diesem systematisch totgeschwiegenen Berner Schriftsteller, die für Linke oder gar „Rote“ besonders dichte Schweizer Schallmauer zu durchbrechen. Fahr, der im Mai 2018 seinen 60sten Geburtstag feierte, ist – wenn man so will – ein Schweizer Alt-68er. In jungen Jahren war er ein wilder Aktionskünstler, man darf sagen, ein anarchischer Rebell. Aber damals schon zugleich Verfasser unglaublich fein gewobener Liebes- und Naturgedichte – was kein Widerspruch ist, wie manche grobschlächtige Ordnungsliebhaber glauben machen wollen.
In den vielen Jahrzehnten, die seither verstrichen sind, veröffentlichte Fahr neben Prosaschriften, Hörspielen, Kinderbüchern, Essays und einer sehr lesenswerten Dialog-Biographie mit dem Titel „Alles ist nicht alles“ mehrere Gedichtbände, die im August 2018 in einem umfangreichen Sammelband unter dem Titel „Selten nur“ im Basler Münster Verlag erschienen sind. Der in seiner äußeren Gestaltung sehr geschmackvolle, 383 Seiten starke Band enthält über 450 Gedichte, ein einfühlsames Nachwort des angesehenen Hermann Hesse-Gesamtwerk-Herausgebers Volker Michels und 36 Statements namhafter Persönlichkeiten zu Peter Fahrs bisherigen Veröffentlichungen, darunter Hilde Domin, Hellmuth Karasek, Kurt Marti, Rolf Hochhuth, Dorothee Sölle, Günter Wallraff, Konstantin Wecker und Jean Ziegler.
Sehr hilfreich für leidenschaftliche Gedichtliebhaber und Literaturwissenschaftler sind das Personenregister, das Inhaltsverzeichnis mit den Gedichtüberschriften, ein alphabetisches Verzeichnis der Gedichtanfänge sowie 249 Quellennachweise, also nicht nur Angaben darüber, in welchen Büchern die Verse schon einmal veröffentlicht wurden. Philologischen und anderen literatur- und sozialwissenschaftlichen Bedürfnissen ist also vollauf Genüge getan, mögen auch manche diesen Aufwand für überflüssig halten. Er ist es nicht.
Den großartigen Sammelband seiner Gedichte hat Peter Fahr dem ihm freundschaftlich verbundenen Konstantin Wecker, „dessen Lied ich lausche, in Freundschaft gewidmet“. Wecker und Fahr stellten am 16. November 2018 im „Auditorium Martha Müller“ des Paul Klee-Zentrums – gemeinsam – der Berner Öffentlichkeit ihre neu erschienenen Bücher vor.
Das war für Bern ein denkwürdiger und würdiger Sonntagvormittag. 300 Besucher füllten den Saal bis zum letzten Platz. Etwa 80 Interessenten konnten aus Sicherheitsgründen nicht mehr eingelassen werden und mussten sich mit einer Bildschirm-Übertragung der Diskussion und Lesung in einem benachbarten Raum begnügen. Als Augen- und Ohrenzeuge sage ich: Es war ein unvergessliches kulturelles Ereignis.
Die Veranstaltung wurde angenehm zurückhaltend moderiert von Tabea Steiner, einer Schweizer Autorin und Literaturvermittlerin. Im Grunde war es eine Lesung. Sie fand unter der Überschrift „Poesie ist Widerstand“ statt und war alles andere als „Tamtam“ und „Propaganda“, wie es Christoph Reichenau ohne jegliche Erklärung in seiner Rezension des Buches von Peter Fahr suggeriert. Diese Kritik ist unter der Überschrift „Nicht schlecht“ in der Berner Online-Zeitung „Journal B“ nachzulesen. Sie ist nicht nur wegen dieser kaltschnäuzigen Falschbehauptungen, sondern auch wegen einer Reihe pseudokritischer Aussagen zu Formen und Inhalten der Gedichte selbst ein Beispiel dafür, wie verkommen der sogenannte bildungsbürgerliche Kulturbetrieb inzwischen ist.
Dass Konstantin Weckers gleichzeitig vorgestelltes Buch „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“ von Reichenau gar nicht erst erwähnt wird, mag noch entschuldbar sein, weil es ja um eine Kritik des Buches von Peter Fahr geht. Aber Christoph Reichenau ist Präsident des Verbands der schweizerischen Volkshochschulen und Vorstandsmitglied im Trägerverein des „Journal B“. Könnte man nicht erwarten, dass er sich in diesen Funktionen selbst zu einer gewissen Objektivität verpflichtet fühlt? Wie kommt ein schreibender Kulturfunktionär zu derart falschen Wahrnehmungen und herabsetzenden Bewertungen? Das wird wohl jedem ein Rätsel bleiben, der an diesem denkwürdigen Sonntag dabei gewesen ist. Man fragt sich sogar: War er dabei?
Die in dem eigentlich eher linksliberalen und ökosozialen „Journal B“ veröffentlichte „Rezension“, es war übrigens bisher die erste über diesen Gedichtband, verdient diesen Namen nicht. Sogar Reichenau selbst scheinen Zweifel befallen zu haben, ob das, was er seinen Leserinnen und Lesern da zumutete, nicht doch etwas zu weit von der Wirklichkeit entfernt ist, zumal er davon ausgehen musste, dass sein „Verriss“ von Besuchern der Büchertaufe, wie die Schweizer solche Buchvernissagen auch nennen, gelesen wird. Sie mussten ja denken, auf einer völlig anderen Veranstaltung gewesen zu sein.
So stellt Reichenau am Schluss seines Pamphlets – vorsorglich Selbstkritik vortäuschend – die Frage, die er nach seinen eigens fabrizierten Fake-News mit Recht befürchten musste: „Warum so negativ?“ Aber seine Antwort macht alles, was er vorher von sich gegeben hat, nur noch schlimmer.
Es wird dabei das tiefe Dilemma der von vielen Nicht-Schweizern, vor allem naiven Deutschen, an der Schweiz so sehr bewunderten Normalität offenbar.
Er antwortet nämlich, dass das Buch „einschließlich des Tamtams um seine Vernissage im Zentrum Paul Klee den Eindruck zu vermitteln versucht, es gebe einen Schatz zu heben. Der aber besteht, ist das Wasser der Propaganda abgetropft, aus reichlich ‚normalen‘ Sätzen von eingemitteter Moral. Kein Geheimtipp, nichts, was man verpasst hätte. Nicht schlecht, aber nicht mehr.“
Wer die eher leise, besinnliche, geradezu nachdenkliche Veranstaltung im Klee-Zentrum als „Tamtam“ und „Propaganda“ erlebt zu haben behauptet, darf sich nicht wundern, wenn man bei ihm entweder bitterbösen Willen oder ernsthafte Wahrnehmungsstörungen vermutet. Herr Reichenau kann sich mit seiner Bewertung nicht einmal auf den Titel der Lesung „Poesie ist Widerstand“ berufen, denn es ging in den vorgetragenen Gedichten, auch jenen, die Kritik an gesellschaftlichen Missständen in der Schweiz und anderswo übten, eher leise und zurückhaltend zu. Seine Gedichte hat Fahr mit sehr ruhiger, fast etwas zu leiser Stimme vorgetragen. Und Wecker rezitierte sogar mit zarten Andeutungen der Singbarkeit seiner Gedichte.
In diesem Zusammenhang von Tamtam und Propaganda zu reden, riecht verdächtig nach beabsichtigter Denunziation und Diskriminierung.
Selbst ich – der ich nur selten auf solche durchschaubaren, geradezu plumpen Infamien reagiere – verspürte beim Lesen das unwiderstehliche Bedürfnis, diesen Erniedrigungsversuch durch öffentlichen Widerspruch anzuprangern. Ich fragte mich: Warum veröffentlicht ein Mann mit doch erheblichem Ansehen in der Schweizer Kulturlandschaft ein so offensichtliches Fehlurteil, das sogar seine Reputation gefährdet? Ich schrieb sofort einen Kommentar – zu dem man übrigens von der Journal B-Redaktion ermuntert wird. Man durfte ihn sogar direkt im Anschluss an die Kritik des Herrn Reichenau platzieren.
Aber das war gar nicht so einfach. Die Sicherheitsschranken des Internet führen die Aufforderung an Leserinnen und Leser, Beiträge der Online-Zeitung „Journal B“ zu kommentieren, ad absurdum. Denn die Zugänge sind durch die Sicherheitsvorkehrungen selbst extrem kompliziert.
Mit unverhältnismäßigem Zeitaufwand und fachkundiger Hilfe gelang es mir dann doch, meine Kritik an der Verunglimpfung des Buchs „Selten nur“ und seines Autors Fahr durch Christoph Reichenau zu „posten“, wie das neudeutsch heißt. Man kann im Netz danach googeln (Journal B eingeben, dann auf „Kultur“ und dann auf „Nicht schlecht“ klicken). Aber ich biete meine Kritik gern noch einmal im Rahmen dieser Buchbesprechung an: Ich schrieb:
„Die Rezension des von Peter Fahr zusammengestellten Sammelbandes seiner Gedichte mit der Schlussbemerkung abzutun: ‚Nicht schlecht, aber nicht mehr‘, fällt auf den Kritiker zurück, wenn man sich mit dem Werk tatsächlich befasst und auf den Autor einlässt. Das mag den ‚guten‘ Schweizern schwer fallen, weshalb sie sich keinen Gefallen damit tun, Gedichtbände überhaupt zu besprechen.
Hat der Herr Rezensent überhaupt bemerkt, dass die dritte Strophe des Gedichts über die Schweiz, das er zitiert, schon unübertrefflich genau die Kritik an der Kritik dieses Rezensenten vorweggenommen hat? Um es konkret zu machen: Der Schatz, den dieser Sammelband bietet, ist neben der ewig gültigen und seit Urzeiten immergleichen zarten Liebeslyrik der kritisch-anatomische Blick des Poeten auf das Böse der Schweizer Normalitäten und Banalitäten, das der Rezensent ungewollt selbstverräterisch als ‚eingemittete Moral‘ verharmlost.“
Diese Fassung ist eine leicht erweitere Version. Denn ich bat den Verlag, anstelle meines ersten Kommentars, den ich nur unter größten Schwierigkeiten und in einem verzerrten Format „posten“ konnte, meinen um einen weiteren Satz ergänzten Text selbst einzufügen. Die Redaktion war so fair, dies zu tun. Dafür bin ich natürlich dankbar. Denn nun habe ich meiner Replik die Frage hinzugefügt: „Hat der Herr Rezensent überhaupt bemerkt, dass die dritte Strophe des Gedichts über die Schweiz, das er zitiert, schon unübertrefflich genau die Kritik an der Kritik dieses Rezensenten vorweggenommen hat?“
Das Gedicht, von dem hier die Rede ist, entstand als Antwort Fahrs auf die Äußerung des rechtslastigen SVP-Präsidenten Albert Rösti zum 1. August 2016, zum Nationalfeiertag. Reichenau hat das Zitat Röstis aber um den Satz, auf den es Peter Fahr ankam, gekürzt. Wahrscheinlich, um seiner eigenen Kritik die Glaubwürdigkeit zu verleihen, die sie, wenn er das ganze Zitat gebracht hätte, nicht mehr hat.
Der Satz, den Reichenau einfach weglässt lautet: „Gemeinsam sind wir in der Lage, die 725jährige Geschichte der Schweiz erfolgreich weiterzuschreiben“. Der Fahr-Kritiker bringt nur den zweiten Satz: „Kämpfen wir gemeinsam für den Erhalt unseres wunderbaren und einzigartigen Landes!“ Dann bringt er Peter Fahrs gedichtete – man kann auch sagen verdichtete – Antwort:
i love switzerland
ich lebe im schlaraffenland,
hier alpenglüht’s und schneit’s.
das volk ist frei und traut sich nicht:
ich lebe in der schweiz.
hier wohnen bauern und bankiers,
vereint in gier und geiz.
man hortet gülle, scheffelt gold
und preist den standort schweiz.
und hast du andere ideen,
dann weiss man das bereits.
dann wirst du lächelnd abserviert:
ich liebe diese schweiz.
Reichenau fährt unvermittelt fort:
„Kann man es plakativer sagen? Wo bleibt der Widerhaken der Ironie, wo die Überraschung oder das Schräge oder das, was einem ‚einfährt‘? Wo ist der Gedanke zum Weiterdenken?“
Nicht einmal die dritte Strophe, die seine eigene, Reichenaus Kritik an Fahr geradezu prophetisch vorhersagt, erkennt er als Gedanken zum Weiterdenken. Was soll man danach noch auf die Fragen des Kritikers antworten, ohne ihn zu kränken? Zu seiner Entschuldigung unterstelle ich mal, weil ich auch bessere Artikel von ihm kenne, dass er, als er diese Kritik verfasste, entweder nicht bei sich selbst gewesen sein kann oder die Kritik eines Intimfeindes von Peter Fahr unter seinem Namen publizierte?
Das Gedicht ist doch selbst der „ironische Widerhaken“, nach dem er fragt. Es ist doch das „Schräge“, das er vermisst, enthält doch die Gedanken „zum Weiterdenken“, die er fordert. Es ist als Ganzes Fahrs Antwort auf das – allerdings ungekürzte – Zitat des SVP-Präsidenten Rösti. Und die plakativen Formulierungen sind der ironisierende Hinweis darauf, dass das in der Schweiz bekannte Gemeinschaftsgeschwafel des Rechtspopulisten Rösti die Schweizer nicht vereint, sondern spaltet. Rösti ist doch nicht zufällig einer der Amtsnachfolger des rechtspopulistischen Milliardärs Blocher. Da ich keine kritische Distanzierung Röstis von Blochers merkwürdigem Demokratieverständnis kenne, unterstelle ich – bis zu meiner Widerlegung – Übereinstimmung von Blocher und Rösti.
Herr Reichenau hätte übrigens auch die drei vierzeiligen Antworten Peter Fahrs auf Blocher-Zitate als Beispiele wählen können. Warum tat er das nicht? Der Schweizer Nationalrat Blocher stellte am 3. April 2000 auf einer Pressekonferenz in Zürich seine Streitschrift „Freiheit statt Sozialismus“ vor, in der er den staatsfrommen Schweizer Sozialdemokraten „linksextreme und totalitäre Tendenzen“ vorwarf – wie kürzlich BRD-Verfassungsschützer Maaßen der SPD – und sich in die irrwitzige Behauptung verstieg: „Fast alles am ‚Faschismus‘(…) ist sozialistisch.“ Auf diese schon 1976 in Westdeutschland von der rechts außen angesiedelten Stahlhelmfraktion der CDU unter Alfred Dregger praktizierte „Lumperei“ (so Freidemokrat Werner Maihofer damals dazu), des Schweizer Spitzenpolitikers Blocher antwortet Peter Fahr wie folgt:
„die wahrheit hat gewissermaßen
ein klares, offenes gesicht.
auch wenn sie foppen will und spaßen, verlacht sie ihre Gegner nicht.“
Wer könnte kürzer, zutreffender, ironischer, erhellender und zugleich vornehmer auf Blochers absurde Faschismustheorie antworten? Und zwingt diese Antwort nicht zum Weiterdenken? Mich schon. Zur Erinnerung: Blocher machte mit seinen rechtspopulistischen Parolen aus der einstigen Splitterpartei SPV die stärkste politische Kraft der Schweiz.
Als Deutscher darf ich vielleicht Blocher mit dem AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland vergleichen, der allerdings kein Milliardär ist, es aber wahrscheinlich gern wäre und sich deshalb als Handlanger der Reichen und der Superreichen anbiedert, das Land zurückzuholen, das heißt, von dem rotgrün versifften Establishment zu befreien und es durch ein braunes zu ersetzen. Gauland traue ich sogar zu, dass er vor 1989 – als er noch CDU-Mann und Mitglied des rechten Flügels seiner Partei war wie damals Blocher – Anhänger der südafrikanischen Apartheitspartei gewesen ist und ihr nachtrauert.
Wenn Reichenau die Frage nach der „Überraschung“ in einem Gedicht oder dem „Schrägen“, das einem „einfährt“, stellt, sagt er doch jedem, der etwas von Dichtung versteht, dass er das Gedicht, das er unter anderen als Beispiel abdruckt, nämlich „i love switzerland“, gar nicht gründlich gelesen haben kann. Schon die Alliterationen „Bauern und Bankiers“, „Gier und Geiz“, Gülle“ und „Gold“ sowie der Reim Geiz und Schweiz bieten alles, wonach Herr Reichenau angeblich vergeblich suchte. Überraschung, Schräge, Anstöße zum Weiterdenken.
Muss man sich da nicht fragen, ob der anerkannte Kulturkenner Reichenau dem Peter Fahr einfach nur eins auswischen wollte? Warum auch immer? Ich sage zu seiner Kritik, dass er falsch Zeugnis ablegt wider seinen Nächsten. Wer auf der „Büchertaufe“ im Klee-Zentrum dabei war, konnte es selbst feststellen. Allen anderen wird ein kurzer unvoreingenommener Blick in Peter Fahrs gesammelte Gedichte genügen, meine Kritik an Rezensent Reichenau auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
Ach ja! Noch etwas: Reichenau „wundert sich, dass so kluge und verständige Menschen wie Jean Ziegler, Hans A. Pestalozzi, Peter Surava, Hans Saner, Simonetta Sommaruga, aber auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller, etwa Silja Walter, Dorothee Sölle, Luise Rinser, Gudrun Pausewang, Hilde Domin, Peter Weibel oder Kurt Marti den Autor Peter Fahr dermaßen loben“. Auch Günter Wallraff, den Reichenau neben vielen anderen nicht erwähnt, gehört dazu. Er ist auch einer von den vielen, dem Reichenau unterstellt, sich kein eigenes Urteil bilden zu können über diesen Peter Fahr. Wallraffs Urteil: „Fahr geht aufs Ganze: als Dichter im Literaturbetrieb ‚ganz unten‘, als Mensch mittendrin im Leben, als Gesellschaftskritiker auf der Höhe der Zeit.“ Wer Fahrs Gedichte liest, wird zugeben müssen, dass man diesen Berner Poeten in dieser Kürze kaum zutreffender charakterisieren kann.
Der Verlag hat – wenn ich mich nicht verzählt habe – 36 Zitate namhafter Persönlichkeiten in den Band aufgenommen. Die meisten sind Versuche, die Gedichte Peter Fahrs zu charakterisieren und zu interpretieren. Als Beispiel picke ich hier eines heraus, das wohl von einem der kompetentesten Literaturkenner der Schweiz, Hans Saner stammt. Der schrieb schon 1995:
„Endlich ein Dichter, der sich nicht in die privaten Gärten oder auf imaginäre Zeitreisen zurückzieht, sondern – befreit aus den Ideologien der letzten Jahrzehnte – von den Leiden des Planeten spricht. Das ist gute politische Lyrik: mutig, leidenschaftlich, eindringlich und unversöhnlich (…) Einige Gedichte sind exzellent – und ich zähle sie zum Besten, was die politische Lyrik in diesem Land hervorgebracht hat.“
Jean Ziegler schrieb noch früher, schon 1990: „Peter Fahrs Gedichte sind ergreifend, leuchtend wie Diamanten.“ Und da er am 9. Oktober 2018 im Literatur-Club des Schweizer Fernsehens, an dem auch Elke Heidenreich teilnahm, wie alle anderen Gäste, eine Neuerscheinung empfehlen durfte, verwies er auf diesen schönen Sammelband, aus dem er das sehr frühe Gedicht vortrug:
„ich möchte zärtlich sein
ich möchte zärtlich sein
und fürchte mich davor.
gewalt schützt vor gewalt.
der sanfte ist ein tor.
die schöpfung wird bezwungen.
der mensch fällt menschen an.
ich möchte zärtlich sein
und zweifle, ob ich’s kann.
von zweien siegt nur einer:
der stärkere von beiden.
ich möchte zärtlich sein
und kann mich selbst nicht leiden.“
Zieglers Urteil über den Autor in dieser TV-Sendung: „Fahr ist ein total engagierter Schriftsteller im Brecht‘schen Sinne.“ Diese Wertung findet ihre stärkste Bestätigung in dem zur Jahrtausendwende erschienenen Gedichtband „Menetekel“, der überwiegend Fotos mit Begleittexten aus Zeitschriften, aber auch eigene Fotos enthält. Alle sind typisch, ja sind so etwas wie ein Menetekel, ein Zeichen an der Wand für diese Zeitenwende. Jedes der mit erklärenden Texten versehenen Fotos, in diesen Sammelband sind nur die Begleittexte aufgenommen worden, wird von Peter Fahr mit einem Vierzeiler kommentiert, von denen viele mit denen aus Brechts berühmter Kriegsfibel sehr wohl vergleichbar sind.
Die Kriegsfibel hat vermutlich die Idee zu Menetekel geliefert, aber Fahr misst den Kriegen nicht mehr die gleiche Bedeutung zu, wie es Brecht und in seiner Nachfolge viele Linke noch immer tun. Für ihn stehen im Zentrum die mindestens ebenso gefährlichen, wenn nicht gefährlicheren Normalverhältnisse, die wir gar nicht mehr als Gefahr erkennen oder zumindest leichtsinnig unterschätzen, weil wir in sie hineingeboren und in sie hineinerzogen wurden.
Dazu noch ein Beispiel, von dem ich überzeugt bin, das es eines unserer größten Gegenwartsprobleme fokussiert: Als Ende Januar 2000 in Davos das Weltwirtschaftsforum 30 Staats- und Regierungschefs, 300 hochrangige Politiker, über 1000 Topmanager und 400 Wissenschaftler von rund 2500 Sicherheitskräften bewacht, Fusionen, Internet und Gentechnik und Bill Clinton die Liberalisierung des Welthandels feierten, dichtet Fahr einen Vierzeiler zu einem Foto von Allesandro della Valle, auf dem zwei schwer bewaffnete Polizisten vor einer blauen Wand stehen, auf der WORLD ECONOMIC FORUM zu lesen ist:
„die Polizei, so steht geschrieben,
beschützt uns vor der unterwelt.
doch die ist unten nicht geblieben
und hat den schutz für sich bestellt.“
Wer bei solchen Gedichten sich nicht aufgefordert glaubt, weiterzudenken, darf dies nicht dem Verfasser anlasten, er muss sich selbst fragen, ob er überhaupt bereit ist, sich noch der Frage zu stellen, was sich hinter dem verharmlosenden Begriff „gemittete Moral“ an Ungeheuerlichkeiten verbirgt.
Wem dieser Vierzeiler nicht reicht, dem sei ein weiterer empfohlen, der sich auf Polizisten der USA bezieht, die auf Unschuldige geschossen, Beweise gefälscht und Meineide geleistet haben. Kein Europäer braucht bis in die USA zu gehen, jeder findet vor der eigenen Haustür, vielleicht im eigenen Haus, im eigenen Staat genügend Belege dafür, dass die demokratischen und rechtstaatlichen Verhältnisse, auf die die meisten so stolz sind, auf dem Kopf stehen.
„das sich verbrechen niemals lohnen,
lehrt unser öffentliches recht.
doch wenn gesetze gauner schonen,
geht’s den gerechten ziemlich schlecht.“
Peter Fahr ist ein Poet, der nicht nur die schöne Schweiz studiert und sprachlich seziert, er beobachtet und belauscht mit dem hochempfindlichen Sensorium des dichtenden Gesellschaftskritikers die Vorgänge der ganzen Welt, sogar des Nachbarn Deutschland. So registrierte und kommentierte er mit seinen messerscharfen Vierzeilern, von denen jeder mehr Aufklärung leistet als die ellenlangen Kommentare der wenigen noch lebenden Kritiker der Mainstream-Medien, eine Bemerkung des heutigen Innenministers und damaligen bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer aus dem Jahr 2011. Der sagte: „Wir werden uns gegen Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme wehren – bis zur letzten Patrone.“ Darauf Peter Fahr:
„was wäre wenn
nur ein mensch
der mensch
dem menschen
wäre.“
Da ich auch zu jenen gehöre, die Fahr-Kritiker Christoph Reichenau nicht verstehen kann, weil sie so einen, der zwar nicht schlecht, aber auch sonst nichts ist, loben, zitiere ich mich – statt eines Schlussworts – einfach mal selbst:
„Teils zornig, teils verzweifelt, teils mit bitterer Ironie, aber immer nach gewaltfreien Lösungen suchend, ist Fahr ein radikaler Pazifist und Idealist. Aber einer mit hochsensibler Beobachtungsgabe und mattsetzender Offenheit. Genialisch die Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit stehen lassend, ist sein Blick auf die Geschichte doch von großer Objektivität.“
Ich hatte längst vergessen, dass ich mich schon 1993 über ihn und seine Texte derart klar geäußert hatte und staunte, dass ich – obgleich ich doch auch zu den vielen Irrenden gehöre, die ihn brillant finden – nicht das Gefühl habe, an diesem Urteil etwas revidieren zu müssen.
Das letzte Wort gebe ich jedoch dem großartigen Hans A. Pestalozzi, der sich 2004 – leider freiwillig – aus diesem Leben verabschiedet hat. Er schrieb, ebenfalls schon 1993:
„Sie haben sich angepasst. Sie haben resigniert. Sie haben sich ausgeklinkt und ihre Nische gefunden. Sie warten auf den Untergang. Und mitten in diesem Fatalismus steht endlich wieder einmal einer auf und schreit seine Wut – nicht seinen Hass – heraus. Einer, der noch an die Liebe glaubt. Auch wenn er selber zweifelt, ob seine ‚Poesie im Kleinkrieg für mehr Menschlichkeit nicht versickere wie das Wasser im Wüstensand‘. Ein starkes Buch, das aufstellt.“
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