„Ganzheitlich“ ist ein Modewort geworden. Unternehmen werben mit einem „ganzheitlichen Ansatz“ oder einer „ganzheitlichen Herangehensweise“. Solche Wortschöpfungen zeigen, dass die Werbenden unter „ganzheitlich“ etwas anderes verstehen. Sie zeigen nur auf, dass mehrere Aspekte betrachtet werden, es müsste also eher „multipolar“ heißen. Viel Neues bringen sie nicht.
Menschen mit holistischem Denken sind sich oft nicht bewusst, was sie von linear denkenden Mitmenschen unterscheidet. Sie nehmen Situationen als Ganzheit wahr, so wie man eine Symphonie als Ganzheit hört, ohne die einzelnen Instrumente zu analysieren. In dieser komplexen Ganzheit kann man verstrickte Probleme analysieren und Lösungen finden, ohne vorher ihre einzelnen Teile herausarbeiten zu müssen. Viele derart talentierte Menschen scheitern allerdings recht früh in unserem Schulsystem und empfinden deshalb diese Fähigkeit als einen Defekt. Sie denken, sie würden nicht richtig „funktionieren“.
Ein Elfjähriger beschreibt seine holistischen Schulprobleme
Simon sitzt in der Klassenarbeit vor seinen Aufgaben. Dort steht: „I ________ (to buy) a new computer.“ Er soll die richtige Vergangenheitsform einsetzen. Alle Möglichkeiten, unter welchen Umständen welche Form welcher Regel entsprechen würde, schwirren gleichzeitig durch seinen Kopf. Alle Fälle sind gleichermaßen denkbar, fühlen sich ähnlich an. „Bezahle ich gerade oder bin ich schon wieder zu Hause?“ fragt er sich. Letztendlich rät Simon verwirrt die Antwort.
Wahrscheinlich gibt ihm die Lehrerin wieder eine „fünf“. Dann muss er das Gymnasium verlassen, denn in Französisch geht es ihm nicht besser und in Mathe weiß er nicht, was er als Rechenweg aufschreiben soll. Die Antwort ist irgendwie in seinem Kopf. „Ist doch logisch“, sagt Simon dann, aber er bekommt ohne Rechenweg keine Punkte.
Im Deutschunterricht soll er eine Zusammenfassung schreiben. „Nur 10 von 30 Punkten — mangelhaft. Du hast die wichtigsten Aspekte nicht erkannt“, steht darunter. Simon versteht das nicht. Die von ihm genannten Aspekte waren die, die er für wichtig hielt, die etwas mit seinem Leben zu tun hatten, die die Welt verbessern könnten, wenn man sie weiter denkt. Die Lehrerin erklärt es ihm:
„Wir haben doch die Kriterien im Unterricht aufgeschrieben. Die musst du nur auswendig lernen und anwenden. Das ist doch nicht so schwer.“
Doch für Simon ist das schwer. Wahrscheinlich ist er zu dumm für das Gymnasium. Er sieht es in den Augen seiner Lehrer und auch in denen seiner Eltern, wenn sie seine Noten in den Klassenarbeiten sehen. Zu Hause stellt er frustriert den Computer an. Mike, sein Spielpartner aus England, ist online. In fließendem Englisch bespricht Simon mit ihm eine komplexe Taktik, wie sie die gegnerische Gruppe überlisten können.
„Schulverweigerer“, „Underachiever“, „ADS“ , „Legastenie“ — es gibt viele Bezeichnungen für Kinder, die trotz ihrer Intelligenz in der Schule nicht klar kommen. Und es gibt viele Gründe. Eine mögliche Ursache, die kaum bekannt ist, ist das „holistische Denken“.
Simon beschreibt es folgendermaßen:
„Wenn ich etwas esse, dann sind alle Gewürze gleichzeitig in meinem Kopf und führen Gespräche miteinander. Entweder es passt harmonisch zusammen oder es gibt eine Störung. Das ist unangenehm und ich weiß dann, dass zum Beispiel weniger Muskat besser wäre oder Apfel gut passen würde. So ist das auch bei Texten oder Matheaufgaben.“
Der Elfjährige leidet körperlich im Unterricht, unter der Lautstärke, unsozialem Verhalten der Mitschüler, der dritten Wiederholung des gleichen Schulstoffs, der in kleinen, vorgekauten Häppchen präsentiert wird. Sein Banknachbar bricht während eines Tests in Tränen aus. Simon hat den Impuls, ihm etwas Tröstendes zu sagen, aber Reden ist verboten. Das alles ergibt in seinem Inneren eine riesengroße Dissonanz. Er hat Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und ihm ist übel. Simon schließt die Augen und versucht, das insektenartige Gewimmel in seinem Kopf zu unterdrücken. „Er passt nicht auf“, kritisiert die Deutschlehrerin. „Er will nur nicht. Er simuliert“, behauptet der Mathelehrer.
Holistisches, also ganzheitliches Denken ist oft verknüpft mit hoher Sensibilität und ausgeprägter Empathie. Alles keine guten Voraussetzungen, um in der Schule erfolgreich zu sein.
Der Mensch ist autonomer Teil einer Gesamtheit
Betrachten wir einmal kleine Kinder. Sie leben im „Hier und Jetzt“, sind empathisch mit ihren Bezugspersonen und der ganzen Umwelt verbunden. Sie trennen nicht zwischen „Ich“ und „Du“. Im Wald sind sie Teil des Waldes, in der Gruppe sind sie Teil der Gruppe. Dies ist eine holistische Wahrnehmung.
Im „Trotzalter“ bildet sich das „Ich-Bewusstsein“ und wird geübt, indem das Kind seinen eigenen Willen im Kontrast und in Reibung mit dem Willen anderer austestet. Später führt die Pubertät zur Ausbildung eines abstrakten, logischen Denkens und parallel dazu zu einem weiteren Schritt in Richtung Selbstbewusstsein und Autonomie.
Allerdings bleibt die Bindung an die geliebten Personen bestehen und auch die Bindung zur Umwelt. Sie hat aber eine andere Qualität bekommen. Der junge Erwachsene kann seine Gefühlszustände immer besser reflektieren und kontrollieren.
Er hat zum einen gelernt, schrittweise und analytisch zu denken, aber er hat auch seine kindliche holistische Wahrnehmung zu einem bewussten, holistischen Denken weiter entwickelt. Sowohl die linke, rationale Gehirnhälfte als auch die rechte, intuitive Seite sind gereift und beide Seiten sind miteinander vernetzt.
Schulisches Lernen bildet nur einseitig
Das sollte jedenfalls so sein, wenn diese Entwicklung gesund verlaufen ist. In unserer Gesellschaft und besonders in unseren Schulen mit ihrer einseitig rationalen Ausrichtung ist das jedoch selten der Fall. Die im Schulsystem erfolgreichen Schüler haben immer mehr den Zugang zu ihrer Intuition und Kreativität verloren und die Erfolglosen haben ihr Bedürfnis auf eine intellektuelle Bildung unterdrückt, da ihnen gesagt wurde, sie wären dazu nicht in der Lage. Beide nutzen also nur eine Hälfte ihres menschlichen Potentials.
Lehrern in alternativen Schulen ist das bewusst. Dort hat Theater spielen, musikalischer oder künstlerischer Ausdruck oder Handwerk einen hohen Stellenwert. Tätigkeiten bei denen sich das Kind mit seinem ganzen Dasein mit einer Tätigkeit identifizieren und verbinden kann. In einer Regelschule werden diese Dinge immer weniger gelehrt. Sie scheinen für das spätere Berufsleben nicht wichtig zu sein. Diese Einschätzung ist jedoch falsch.
Aber so wie Erwachsene sich nach der Schule selbstverständlich intellektuell weiterbilden können, kann auch das ganzheitliche Denken nachträglich entwickelt werden. Es handelt sich um das bekannte pädagogische Ziel von „Hirn, Herz und Hand“, aber nicht nacheinander, sondern gleichzeitig.
Normales, lineares Problemlösen in gedachten Ursache-Wirkungs-Beziehungen
Das lineare Denken, die allgemein verbreitete Methode, fokussiert sich auf einen bestimmten Aspekt. Es bewertet zuerst, was für die betrachtete Sache wichtig sein könnte, und filtert die irrelevanten Nebensächlichkeiten heraus. Dann bringt es die verschiedenen betrachteten Abläufe in logische Kausalzusammenhänge, ordnet sie also nach Ursache und Wirkung.
Bei komplexen Problemen handelt es sich nicht um eindimensionale Ursache-Wirkungs-Abläufe, die nacheinander passieren, sondern um Zusammenhänge, die miteinander ein kausales Netz bilden. Alles ist mit allem verknüpft und auch mit sich selber in Form von Rückkopplungsschleifen. Dazu kommt, dass die Wirkungen je nach Intensität der Ursachen ganz anders ausfallen können.
Ein gutes Bild dafür ist ein vierdimensionales Netzwerk, also ein Netzwerk im dreidimensionalen Raum, das sich in der Zeit — als vierte Dimension — verändert. So ein Gebilde kann mit linearem Denken nicht erfasst werden. In vielen wissenschaftlichen Bereichen, wie der Ökonomie, werden deshalb nur die einflussreichsten Komponenten und deren stärkste Wirkungen betrachtet und alle anderen Zusammenhänge ignoriert. Dies kann nur in sehr stabilen Systemen zu sinnvollen Resultaten führen und meistens nicht einmal das, wie man an den gängigen Wirtschaftstheorien oder dem Verhalten der Manager von Großkonzernen erkennt.
Problemlösen durch empathische Subjekt-Objekt-Verschmelzung
Beim holistischen Denken allerdings geht das „Ich“ eine emotionale Verbindung mit dem Netz komplexer Zusammenhänge ein. Es wird ein Teil von diesem. Der Forscher oder Berater identifiziert sich mit dem Objekt seiner Forschung. Es entsteht eine Resonanz mit Harmonien und Dissonanzen. Irgendetwas stört in einem bestimmten Bereich. Dann fährt der analytische Geist imaginär einige Kausalverbindungen ab und bemerkt: In einem Bereich ist der „Fluss“ unterbrochen. Wie muss das Netz verändert werden, damit alles wieder miteinander im Einklang schwingen kann?
Diese Art des Problemlösens erfordert Mut, sich selbst in den Prozess einzubringen. Sie macht verletzlich. Schutzwälle können nicht aufrechterhalten werden.
Hört man Zukunftsforschern, einflussreichen Unternehmern und berühmten Wissenschaftlern zu, dann braucht die junge Generation genau diese Fähigkeiten beziehungsweise herausragenden Eigenschaften, um die großen gesellschaftlichen und ökologischen Probleme anzugehen, vor denen wir stehen. Zukünftige Entscheidungsträger müssen komplexe Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit erfassen, analysieren und kreative Lösungen entwickeln können. Sie werden nur als authentische Persönlichkeiten dazu in der Lage sein.
Leider werden genau diese Eigenschaften in unseren Schulen und Universitäten erfolgreich unterdrückt. Nach zwölf Schuljahren hat auch der letzte Schüler gelernt, auf standardisierte Aufgaben die erwarteten, standardisierten Antworten zu geben. Allen anderen wurde schon früh vermittelt, dass sie zu dumm wären und deshalb einen unteren Platz auf der gesellschaftlichen Hierarchie-Leiter einnehmen müssten. Über ihre zukünftige Arbeit würde ein Chef bestimmen, der es besser weiß, denn er hatte bessere Noten.
Aus Simon wird möglicherweise ein guter Koch werden, der seine intellektuellen Herausforderungen in Online-Spielen sucht. Wäre er Unternehmensberater, hätte er vielleicht dazu beitragen können, die Welt zu verändern.
Holistisches Denken entwickeln
Ganzheitliches Denken ist eine menschliche Grundkompetenz. Wir können diese angeblich „falsche“, da unsystematisch erscheinende, Art des Denkens wieder finden und als die positive Fähigkeit erkennen, die sie ist.
Folgende Übungen können dabei helfen:
- Schließen Sie die Augen und spielen Sie 10 Minuten lang „Blinder“. Versuchen Sie, dabei Ihre Alltagstätigkeiten zu verrichten und nehmen Sie Ihre Umwelt bewusst war.
- Sie können in die Natur gehen und versuchen sich als Teil dieser zu fühlen. Wer dafür keine Zeit hat, kann sich auch ein paar Minuten an das geöffnete Fenster setzen. Bewerten Sie nichts, benennen nichts, seien Sie einfach nur da und genießen die frische Luft, die Sonne oder den Regen und die Stille oder die Geräusche.
- Versuchen Sie, ohne Ablenkungen zu essen. Wie schmeckt Ihre Mahlzeit?
- Spielen ist die natürliche Art der Problemlösung. Sollten Sie vergessen haben, wie das geht, dann können sie es von Kindern oder Tieren wieder lernen.
- Wie fühlen Sie sich gerade? Können Sie Empathie zulassen, auch wenn es schmerzt?
Und das Wichtigste:
- Kümmern Sie sich um Ihre Umgebung, den Raum um Sie herum, da wo Sie sich gerade befinden. Dieser Raum gehört zu Ihnen. Sie haben Verantwortung für ihn. Kümmern Sie sich um die Menschen, die sich dort befinden, mit einem Lächeln, ein paar netten Worten oder einer kleinen Hilfeleistung, wenn es gerade passt.
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