Triggerwarnung: Das folgende Interview handelt von sexueller Gewalt. Wenn du betroffen bist und Hilfe brauchst, findest Du Infos dazu am Ende des Artikels.
Roland Rottenfußer: Du hast im Internet einen Aufruf unter dem Hashtag „Wehr Dich!“ gestartet: „Ein Aufruf an alle Betroffenen von sexueller Gewalt — aufzustehen, laut zu sein, sich zu zeigen und sich zu wehren.“ Gibt es einen konkreten Anlass dafür, dass Du den Aufruf gerade jetzt startest?
Morgaine: Einen konkreten Anlass gibt es eigentlich nicht, zumindest nicht für die Wahl des Zeitpunkts. Ich habe den Song schon Ende 2017 begonnen zu schreiben und Anfang 2018 war er dann fertig. Damals habe ich mich aber noch nicht bereit gefühlt, ihn an die Öffentlichkeit zu tragen. Er musste erst noch ein bisschen reifen, und auch ich habe in der Zeit noch ein bisschen an meinen Rap-Skills gearbeitet.
Was könnte sich im besten Fall aus dieser Aktion entwickeln? Möchtest Du, dass sich Ortsgruppen bilden und treffen? Oder ein Internetforum zum Erfahrungsaustausch, damit sie sich nicht mehr allein fühlen mit ihrer Traumatisierung?
Die Aktion, die hinter dem Song steht, heißt ja „#WehrDich“ und richtet sich an alle Betroffenen von sexueller Gewalt. Das heißt, ich möchte Betroffene dazu ermutigen, sich über das „Opfersein“ zu erheben, wie ein Phoenix aus der Asche, über sich hinaus zu wachsen und sich zu wehren.
Ich möchte die Menschen damit noch mehr für dieses Thema sensibilisieren und auch zeigen, dass man damit nach Außen gehen soll. Und dass es keinen Grund gibt, sich zu schämen. Ich möchte Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind und dass wir gemeinsam stark sind. Das Aussprechen der Taten ist der erste Schritt in Richtung Selbstermächtigung und Selbstverteidigung.
Damit nehmen wir den Tätern schon einen Großteil der Macht. Und genau darum geht es mir.
Einer der wesentlichen Punkte in dem Aufruf ist: dem Täter keine Macht mehr über dich geben. Ist das überhaupt möglich, wenn sich in Folge eines Missbrauchs immer wieder Flashbacks und andere Symptome zeigen?
Das ist ein guter und wichtiger Punkt, denn auch ich bin irgendwie noch immer von den Folgen des Missbrauchs betroffen, und sie bestimmen auf jeden Fall sehr stark meinen Alltag. Obwohl ich schon seit neun Jahren aus der Missbrauchssituation draußen bin, schränken mich die Folgen immer noch sehr ein. So gesehen, bin auch ich noch nicht ganz frei davon. Ich mache eine Traumatherapie und bin nicht wirklich arbeitsfähig, da meine Folgen zu 80 Prozent körperlich sind.
So werde ich quasi auch jeden Tag an die Vergangenheit erinnert, auch wenn ich bewusst gar nicht daran denke. Das macht es natürlich umso schwerer, dem trotzdem so wenig wie möglich Energie zu geben. Doch das macht es auch umso wichtiger, sich mit positiven und heilsamen Dingen zu beschäftigen. Seinen Fokus auf das Jetzt zu legen und die Vergangenheit immer wieder bewusst loslassen und sich für ein schönes, liebevolles und bewusstes Jetzt zu entscheiden, welches ich ganz allein in der Hand habe.
Richtet sich Dein Aufruf auch an potenzielle Täter, die das vielleicht lesen? Wenn ja, was möchtest Du bei ihnen erreichen?
Das auf jeden Fall auch. Der Song ist auf jeden Fall eine Art „Abrechnung“ mit den Tätern, aber auch eine Warnung an alle anderen Täter, dass sie Konsequenzen für ihre Taten bekommen werden.
Es ist eine Art von heiliger Wut — also eine sehr positive, kraftvolle und reinigende Art davon, die ich dafür kanalisiert habe, um all das Unrecht und die geschändeten Kinder zu „rächen“ — symbolisch betrachtet. Ich stehe in diesem Song stellvertretend für alle Betroffenen, die selbst vielleicht noch nicht den Mut und die Kraft haben, sich aufzubäumen — aber das wird irgendwann passieren.
Und damit sage ich den Tätern: Nehmt euch in Acht! Hört mit dieser kranken Scheiße auf, oder es wird ein Feuer über euch niedergehen, und ihr werdet das was ihr anderen angetan habt, vielleicht selbst, auf einer anderen Ebene, erfahren. Ich glaube zwar nicht direkt an Karma, aber ich glaube schon, dass all die Energie, die man aussendet, irgendwie auch zurückkommt — das Gesetz der Resonanz.
Es geht aber auch an potentielle Täter. Denen ich zeigen möchte, was sie da mit einem Menschen anrichten und ihm antun, wenn sie so eine Tat begehen würden.
Wie Du in einem anderen Forum erzählt hast, wurdest Du von früher Kindheit an bis zu Deinem 17. Lebensjahr von Deinem eigenen Großvater missbraucht. Möchtest Du davon etwas erzählen?
Genau, ich wurde bereits als ganz kleines Kind — circa 2 Jahre alt — bis ich 17 Jahre alt war von dem Erzeuger meiner Mutter sexuell missbraucht. Ich versuche das Wort „Großvater“ zu vermeiden, denn er war für mich kein großer Vater.
Er selbst hatte keine schöne Kindheit und war traumatisiert. Sein Vater war Obersturmbannführer bei der SS und hat ihn mit Gewalt erzogen. So wurde er schon zu einem ziemlich gestörten und rassistischen Mann, der zutiefst cholerisch und sadistisch veranlagt war. Ironischerweise war er selbst hochrangiger Polizeichef.
Er missbrauchte meine Mutter schon, als sie noch ein Baby war und misshandelte sie, bis sie schon Anfang 20 war. Sie spaltete alles ab und verdrängte den Missbrauch, sodass sie sich kaum daran erinnerte. Als ich klein war, verging er sich auch an mir, brachte mich aber auch zu anderen Männern — das möchte ich hier aber so nicht ausführen, weil das alles so kompliziert und umfangreich ist.
Kurz: Es gab organisierten, rituellen Missbrauch. Das klingt vermutlich sehr verstörend und unvorstellbar, aber so etwas gibt es leider wirklich.
Mit 18 gelang mir dann quasi der Ausbruch. Es gab eine dramatische Aussprache mit meiner Mutter, einen Kontaktabbruch mit dem Täter und eine Anzeige bei der Polizei, bei der das Verfahren natürlich eingestellt wurde. Er wurde nicht bestraft — nicht einmal vernommen.
Wer sich für die genaue Story interessiert, dem empfehle ich mein Interview „Kriegerin des Lichts“ von Nichtkampf TV auf YouTube.
Wenn ich Dich richtig verstanden habe, hattest Du schwere Krankheitssymptome, konntest Dich aber an die Missbrauchs-Erlebnisse — außer an zwei — lange Zeit nicht erinnern. Das deutet darauf hin, dass Vergessen keine Lösung ist, weil sich das Trauma im Unbewussten und im Körper manifestiert, selbst wenn wir nicht genau wissen, was geschehen ist. In welcher Weise hast Du aufgrund der Traumatisierung gelitten? Und wie kamen Deine Erinnerungen zurück?
Ich hatte schon als Kleinkind jeden Tag starke Symptome — körperlich als auch psychisch.
Zum Beispiel habe ich mir die Fingernägel ganz kurz gekaut, habe zwanghaft masturbiert, mir die Haare rausgerissen, bis ich eine richtige Glatze hatte, hatte so starke Unterleibskrämpfe, dass ich schreien musste, und chronische Kopfschmerzen. Verspannungen, Panikattacken, Übelkeit und Engegefühl im Hals, Herzrasen, Kreislaufschwäche, Muskelkrämpfe, Skoliose und so weiter.
Ich könnte eine ellenlange Liste hier aufführen. Da ich nicht darüber sprechen konnte, hat mein Körper für mich gesprochen. Jedes Trauma wird in den Zellen gespeichert und wenn man das nicht auflöst, dann macht es einen irgendwann krank. Ich erinnere mich nicht an einen Tag, an dem es mir körperlich gut ging. Ich kenne das Gefühl nicht, ohne Kopfschmerzen zu sein… das ist schon heftig.
Aber daran sieht man, dass man sich mit seinen Traumata — sobald sie einem bewusst sind — auseinandersetzen sollte.
Meine Erinnerungen kamen zurück, als ich 17 war, ausgelöst durch einen Trigger während einer Doku, die ich mit meinem damaligen Freund angeschaut habe. Mein Unterbewusstsein hat in dem Moment vermutlich gemerkt, dass ich in Sicherheit bin und ich einen Menschen bei mir habe, der mich jetzt auffangen wird… so konnte es sich öffnen. Damals bestand noch Kontakt zum Täter, das war eine sehr schlimme und heftige Zeit für mich, als alles so aufgebrochen ist.
Wie hast Du es geschafft, dass es Dir wieder besser geht? Gibt es so etwas wie eine endgültige „Überwindung“ des Traumas überhaupt?
Mir ging es das erste Mal etwas besser, als ich in Israel mit freien und wilden Delfinen schwimmen durfte. Das hat mich so befreit und mich voller Glücksgefühle gemacht. Mir ging es mit jedem Jahr besser, weil ich mich intensiv mit mir und dem Trauma beschäftigt habe.
Ich bin immer noch betroffen und ich arbeite immer noch auf. Ich bin immer noch in Therapie und habe immer noch Tage, an denen ich einfach nur verzweifelt bin und weine.
Aber das ist okay… ich denke, es ist nur wichtig, dass wir uns auch so akzeptieren und lieben. Vergessen werde ich es sowieso nie, und das muss ich auch gar nicht. Es ist ein Teil von mir und hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ich kann heute anderen Menschen helfen und so vielleicht etwas verändern. Ob ich das irgendwann alles überwinden werde können, das weiß ich nicht.
Was würdest Du Menschen — es sind ja Frauen und Männer — raten, die Opfer geworden sind? Wie können sie in ein lebenswertes Leben zurückfinden?
Ich habe folgendes Rezept für mich gefunden: Verschiedene ganzheitliche Therapien machen, mit anderen Menschen darüber sprechen, mich mit Themen rund um Weiblichkeit, Menstruation und Frausein beschäftigen, heilsame körperliche und sexuelle Erfahrungen mit achtsamen Menschen machen, bewusst atmen, sich selbst Gutes tun, aktiv sein und Dinge machen, die mich erfüllen. Singen, Musik machen, schreiben, kreativ sein — einfach alles rausfließen lassen, was da ist. Alle Gefühle in mir selbst annehmen und ausdrücken. Nichts mehr unterdrücken!
Vielleicht kann die eine oder andere Sache davon auch anderen helfen.
Du hast in Deinem Rap-Lied „Neumond“ einige wichtige Aspekte in poetische Form gebracht. „Neumond“, das ist ja der dunkelste Moment, aber auch jener Moment, ab dem es wieder aufwärts geht. Schauen wir uns ein paar Zeilen genauer an: „Fakt ist, dass faktisch jeder hier betroffen ist, Vater, Mutter, Schwester, Bruder, wir, du, er, sie und auch ich.“ Wie groß schätzt Du den Kreis der Betroffenen tatsächlich ein? Es muss doch auch Menschen geben, die weder als Opfer, noch als Täter, noch als Mittäter betroffen waren?
Also man sagt ja, dass jedes dritte Mädchen und jeder fünfte bis siebte Junge von sexueller Gewalt betroffen ist.
Vermutlich sind die Zahlen sogar noch höher. Es sind vermutlich mehr als Opfer betroffen davon. Aber die Frage ist auch, wo fängt sexuelle Gewalt überhaupt an? Bei grenzüberschreitendem sexuellen Verhalten gegenüber anderen? Also auch schon bei einer blöden, sexistischen Anmache? Das empfinde ich persönlich nämlich schon als eine Art Übergriff.
Das Thema Missbrauch, nicht nur im sexuellen Sinne, zieht sich durch unsere ganze Gesellschaft, auf der ganzen Welt. Das sollten wir uns alle mal genauer anschauen.
„Wundersame Orte schafften wahre Heilung meiner Wunden. Dort untermalte Worteskraft mit jedem Satz, was ich vergaß, so erschuf ich mich erneut aus einem zarten Blütenblatt.“ Welche wundersamen Orte waren das? Sprichst Du hier von spirituellen Erfahrungen?
Zum Beispiel, wie oben erwähnt, Eilat in Israel, wo ich mit den Delfinen im roten Meer geschwommen bin. Das war schon eine unfassbar heilsame und magische Erfahrung für mich, die mich zutiefst berührt und mein Herz sehr geöffnet hat. Aber auch, als ich nach Wien gezogen bin und hier wundervolle Menschen fand, denen ich vertrauen konnte und die mit mir gemeinsam durch alle möglichen Gefühlswelten und Abgründe gegangen sind. Mit denen ich über alles sprechen konnte, wir uns gegenseitig gehalten und unterstützt haben und so alle sehr dadurch wachsen und heilen konnten. Mit ihnen habe ich auch viele spirituelle Erfahrungen geteilt und erlebt. Aber klar, auch an sich spirituelle Erfahrungen, die ich allein gemacht habe, sind damit gemeint.
Die Verbundenheit und Liebe, die ich im Zusammenhang mit unserer Erde und Natur spüre, haben mir auch sehr geholfen.
„Ich scheiß auf dieses Pseudo-Licht-und-Liebe-Getue, wie ihr flieht vor euch selbst, hat nichts mit Erleuchtung zu tun. Damit bekämpft ihr nur 'nen Teil, der jedem von euch innewohnt, verdrängt ihn, bis er ausbricht, nicht mehr aufzuhalten ist, entkommt.“ Hattest Du da schlechte Erfahrung mit „Esoterikern“ gemacht? Was ist der Unterschied zwischen Spiritualität, die heilt, und Spiritualität, die das Dunkle nur verdrängt?
Ich habe in meinem Leben so viele spirituelle Menschen kennengelernt. Menschen, die sich selbst als spirituell sehen und sich aber so krass in diesen Licht-und-Liebe-Vibe flüchten, um der Welt, in der sie leben, zu entfliehen. Das hat für mich nichts mit Spiritualität zu tun, sondern mit Angst und Flucht.
Das ist in meinen Augen nicht authentisch und auch nicht erstrebenswert. Diese Menschen haben Angst, was auch okay ist, aber wenn diese einem dann ihre Ansicht als die einzig „Richtige“ aufdrücken wollen und meinen, mir Ratschläge von oben herab geben zu müssen — das kann ich einfach nicht ab.
Spirituell sein bedeutet für mich auch hinzusehen, wo es unangenehm ist. Und gerade da dann Licht und Liebe hinzuschicken, in dem Bewusstsein, dass das Dunkle auch einen Grund hat, warum es existiert. Wenn man da aber wegsieht und sich nur dem Licht zuwendet, das ist für mich einfach nur Angst. Dabei geht es doch aber um Liebe und die Liebe geht überall hin. Gerade da, wo sie am Dringendsten gebraucht wird.
Dein Künstlername „Morgaine“ ist an eine Figur der Arthus-Sage angelehnt, bekannt geworden unter anderem durch Marion Zimmer Bradleys Roman „Die Nebel von Avalon“. Morgaine ist die Hohepriesterin und Schamanin, die in enger Verbindung mit der Natur lebt und den Geist des matriarchalischen Zeitalters bewahrt hat. Ist Dir der feministische Aspekt an der Figur wichtig? Glaubst Du, dass das patriarchalische Zeitalter überwunden werden muss und überwunden werden kann?
Auf jeden Fall war das mit ein Aspekt, warum ich mich dieser Frau so verbunden gefühlt habe.
Ich konnte mich sofort mit ihr identifizieren, und ihr Mut und ihre innere Stärke haben mich einerseits beeindruckt, aber gleichzeitig auch an mich selbst erinnert — ohne jetzt anmaßend zu klingen. Ich habe einfach sofort gespürt, dass das mein Künstlername ist. Da bin ich dann einfach meiner Intuition gefolgt.
Ich bin mir sicher, dass wir unsere Welt zerstören, wenn wir weiterhin in dieser Art von System leben. Alles ist aus der Balance geraten. Yin und Yang — die beiden Kräfte — sind schon lange nicht mehr im Gleichgewicht, und ich weiß, dass es so nicht weitergehen kann.
Überwunden werden kann das alles mit Sicherheit, die Frage ist nur, wie lange es noch dauern wird.
Es ist aber alles schon in Bewegung und verändert sich. Die Welt und die Menschheit sind im Wandel, und früher oder später wird eine positive Veränderung geschehen. Daran glaube ich fest.
In Liedern wie „Der Goldene Kreis“ und „Sternenkinder“ transportierst Du eine tiefenökologische Botschaft: Alle Lebewesen sind mit der Erde in einer ursprünglichen Harmonie und Einheit verbunden. Die Erde ist unsere Mutter. Wir können wieder in diese Einheit zurückfinden. Es zeigt sich vor dem Hintergrund Deiner traumatischen Erfahrung ein geradezu optimistisches Weltbild. Wie passen die dunkle und die helle Seite von Morgaine zusammen?
Vermutlich gerade weil ich so viel Leid und Dunkelheit erlebt habe, bin ich in der Lage, quasi auch das andere Extrem zu fühlen und wahrzunehmen. Ich war von klein auf immer schon sehr sensibel und feinspürig und habe mir das glücklicherweise bewahrt. Meine Seele ist sehr stark, und für mich ist das, was passiert ist, alles einerseits Fluch, aber auch ein Segen, denn es hat mich trotzdem zu der Frau gemacht, die jetzt solche Texte schreibt und andere Menschen damit berühren kann.
Ich glaube, gerade weil ich so viel Schmerz und Grausamkeit erfahren habe, kann ich Menschen so tief in ihrem Herzen berühren. Ich bin wie Yin und Yang — ich habe eine dunkle und eine helle Seite. Die dunkle Seite ist sehr dunkel, die helle Seite ist aber auch sehr hell. So ergibt sich ein Gleichgewicht und ich kann damit wirken.
Du hast Dich auch als Veganerin öffentlich positioniert. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Deiner eigenen Opfererfahrung und dem Schutz anderer Lebewesen?
Da ich weiß, was es bedeutet, zu leiden und Qualen zu ertragen, könnte ich das niemals jemand anderem antun. Auch keinem Tier, denn das fühlt genauso wie ich. Niemand sollte einem anderen Schaden oder Leid zufügen. Man sagt ja auch „Du bist, was du isst.“ Und ich möchte keine Energie mehr von Leid, Krankheit, Gewalt oder Tod in mir haben — das hatte ich schon viel zu lange in meinem Leben.
Ein weiterer Schwerpunkt Deiner öffentlichen Auftritte sind Aktionen der Friedensbewegung. Während die spirituellen Lieder auf der CD „Wir sind Eins“ sozusagen schamanischer Art-Pop sind, gibt es von Dir auch sehr bissige politische Rap-Songs, vorzugsweise als Duette mit Kollegen wie den Rappern ÄON, Kilez More und Kaveh. Auch hier würde mich interessieren: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Deiner Missbrauchserfahrung und dem Einsatz gegen den Krieg?
Ich denke schon, denn Missbrauch oder sexuelle Gewalt ist nichts anderes als ein Krieg im Kleinen.
Es geht immer um einen Schaden, den wir anderen zufügen. Und ich möchte mich überall und jederzeit dafür einsetzen und stark machen, dass dies nicht mehr geschieht — in welcher Form auch immer. Der globale Frieden hängt auch mit dem inneren Frieden in uns selbst zusammen.
Jemand, der in sich selbst Frieden trägt, wird niemals jemand anderen missbrauchen, geschweige denn ein Land bombardieren oder auf andere Menschen schießen. Alles hängt miteinander zusammen, und ich möchte meinen Teil zu einer friedlicheren Welt beitragen. Im Großen wie im Kleinen.
Dein Lied „Neumond“ erzählt die Geschichte, dass Du nach einem Selbstmordversuch von Freunden gerettet und gefunden wurdest: „Als ich mit blutig-aufgeschnittenen Armen am Boden lag, hab‘n sie die Tür aufgetreten, mich gehalten und war'n da. An meinem tiefsten Punkt bisher, als ich wirklich sterben wollte — war so verzweifelt, immer Nacht, niemals Sonne. Hab‘n mir aufgeholfen und sich zu mir gelegt, mir gezeigt, dass ich was wert bin, so viel Hoffnung gegeben. Damit habt ihr mir das Leben gerettet, nicht in Worte zu fassen, bin so dankbar und werd‘ euch das nie vergessen.“ War das wirklich so?
Ja, das war so ziemlich genau so. Es war nicht mein erster Versuch und auch nicht mein letzter, aber vermutlich der schon „Fortgeschrittenste“, wenn man das so sagen kann. Ich hatte mir den linken Unterarm aufgeschnitten mit einer Rasierklinge — es waren mehrere Schnitte. Vermutlich wäre ich nicht verblutet, aber ich wollte in dem Moment wirklich so richtig sterben. Ich hatte mit allem abgeschlossen. Ich hatte eine Abschieds-SMS an meine besten Freunde geschrieben, die gerade alle auf einer Party in Wien waren. Meine damalige beste Freundin und Mitbewohnerin war aber schon auf dem Heimweg, als sie die SMS bekam und konnte darum ziemlich schnell bei mir und in unserer Wohnung sein. Sie benachrichtige dann die Anderen, und sie kamen dann sofort und waren für mich da. Das war ein sehr bewegender Moment für mich, der mich sicherlich ewig in Erinnerung bleiben wird.
In Deinem langen Interview „Kriegerin des Lichts“ erzählst Du, dass Du Erinnerungen hast, die auf rituellen Missbrauch hindeuten. Du lagst in einem Keller auf einem steinernen Tisch, nackt, umgeben von einem halben Dutzend Männern. Dies kommt auch in Deinem Lied zur Sprache: „Und wie Aslan, lag auch ich auf dem steinernen Tisch, umringten mich, vergingen sich und ich krepierte innerlich. Für ihre Rituale, ausgeliefert ihrem dunklen Treiben, mein reines Herz zerbrach den Stein, konnte mich befreien.“ Bist Du diesen Erinnerungen auf die Spur gekommen? Gibt es rituellen Missbrauch, und in welchem Umfang müssen wir uns das vorstellen? Wer sind die Täter?
Ja, es gibt rituellen Missbrauch, auch wenn man sich das sicherlich noch schwerer vorstellen kann als „normalen“ sexuellen Missbrauch. Einfach, weil es noch abartiger, dunkler und verrückter ist.
Das klingt, wie aus einem Horrorfilm…aber das ist es eigentlich auch. Ich kann mich nicht an die Täter erinnern — ich sehe alles nur schemenhaft vor meinem inneren Auge und alles ist in Erinnerungsschnipseln. Ich erinnere mich nicht an konkrete Personen, außer meinen Großvater. Also keine Gesichter oder Ähnliches. Ich war, nach meinem jetzigen Stand, auch unter Drogen und alles ist sehr verschwommen.
Ich habe mich aber schon intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt und spätestens nach den Filmen „Operation Zucker“ wissen wir, dass dies ein großes Problem ist, welches wirklich existiert. Wer sich mal mit dem Fall Marc Dutroux und den toten Zeugen oder mit Pizza Gate auseinandersetzt, wird feststellen, dass es sehr viel weiter verbreitet ist, als wir denken.
Es passiert im Verborgenen, und oft sind die Täter sehr gut organisiert und in hohen politischen und Justiz-Kreisen unterwegs. Sie schützen sich gegenseitig und erscheinen wie eine Übermacht, gegen die man nichts anhaben kann. Aber das Gerüst wackelt immer mehr, und immer mehr Opfer sprechen über ihre Erlebnisse… irgendwann stürzt es ein, und die ganze schmutzige Wahrheit kommt ans Licht.
Hast Du Deinen Großvater je direkt konfrontiert? Wenn er jetzt vor Dir stünde, was würdest Du ihm sagen?
Nein, das habe ich nicht. Ich hatte immer zu viel Angst vor ihm. Erst als wir den Kontakt abgebrochen haben und die Anzeige inklusive Verfahren eingestellt wurde, habe ich versucht, mich zu wehren.
Ich habe kreative Aktionen gemacht, in denen ich zum Beispiel Schilder vor seinem Haus aufgestellt habe, auf denen ich ihn mit seinen Taten konfrontiert habe, auf denen ich ihn beschimpft habe und geschrieben habe, was ich von ihm halte et cetera. Da habe ich einfach meine Wut und meinen Schmerz rausgelassen.
Es gibt auch ein Lied von Dir, featuring NiO, das heißt „Vergebung“. Da heißt es: „Vergebung, der einzige Weg, um nochmal von vorn anzufangen. Denn zu vergeben, heißt frei sein statt krank.“ Ist Vergebung bei Missbrauch überhaupt möglich?
Das kann man so nicht pauschal sagen, das muss jeder für sich selbst entscheiden.
Ich kann den Tätern — noch — nicht vergeben und ich weiß nicht, ob ich das jemals können werde.
Vielleicht ist Vergebung möglich, ein Vergessen jedoch nicht. Sicherlich ist Vergebung aber ein wichtiger Schritt, um mit dem Vergangenen besser abschließen zu können.
Ich denke jedoch, dass es immer irgendwie ein Teil von mir sein wird, da es keine einmalige traumatische Erfahrung war, sondern siebzehn Jahre meines bisherigen Lebens bestimmt hat.
Und auch heute noch ist es immer präsent, da ich, so wie hier, darüber spreche, oder mit anderen Betroffenen, denen ich durch Beratungsgespräche helfe, oder in meiner Therapie. Ich befinde mich noch mitten in der Verarbeitung. Wie lange diese dauern wird, weiß ich nicht.
Quellen und Anmerkungen:
Hilfe für Betroffene: Auf dem “Hilfeportal Sexueller Missbrauch” findest du Beratungsstellen in deiner Nähe. Du musst auch nicht persönlich in einer Beratungsstelle erscheinen, du kannst auch anrufen oder Beratungen, die einen Chat anbieten, aufsuchen:
https://www.hilfeportal-missbrauch.de
https://weisser-ring.de
https://www.wildwasser.de
https://tour41.net/
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