In den vergangenen Jahren sind wir durch eine hohe Schule gegangen. Wir haben gelernt, unseren eigenen Sinnen zu trauen, auch wenn alle anderen um uns herum es anders sahen. Wir haben geübt, quer zu denken und nicht das zu wiederholen, was man versucht hat, uns einzutrichtern. Wir haben es trainiert, im Geiste frei zu sein und uns nicht kontrollieren zu lassen. Wir haben uns die Mühe gemacht, uns über viele verschiedene Quellen zu informieren, haben recherchiert und geforscht, Fragen und Zweifel zugelassen und den Austausch mit anderen dabei gesucht.
Wir haben es ertragen, ausgeschlossen zu werden, haben Diffamierungen und Verfolgungen über uns ergehen lassen, Anfeindungen und Beschimpfungen, und sind dabei friedlich geblieben. Wo andere blind den Regeln folgten, haben wir hingesehen. Wir sind in unsere Tiefen hinabgestiegen und haben nach Wahrheit gesucht. Statt uns zu maskieren, haben wir Wahrhaftigkeit gelebt, statt uns aufhetzen zu lassen, nach Wegen gesucht, wie wir zusammenleben können.
Noch ist die Welt keine andere geworden. Noch sind die Veränderungen nicht sichtbar. Noch hat sich der große Wandel nicht vollzogen, der nichts mit einem „Great Reset“ zu tun hat, nichts mit Kontrolle, mit Überwachung und Herrschaft. Der Paradigmenwechsel ist noch dabei, stattzufinden. Noch manifestiert sich der Bewusstseinssprung, den so viele von uns in diesen Zeiten erleben, nicht im Außen. Keine Fanfaren ertönen, kein Götterbote steigt vom Himmel zu uns herab und verkündet, dass es so weit ist.
Der Wandel vollzieht sich still und in jedem Einzelnen von uns. Vieles liegt hinter uns, vieles steht uns noch bevor. Der Weltfrieden soll mit Waffengewalt hergestellt werden. Ein Atomkrieg zwischen den militärischen Supermächten wird immer wahrscheinlicher. In diesem Irrsinn innerlich aufrecht zu bleiben ist an sich schon Herausforderung genug. Dazu kommen immer wieder Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Menschen, die ganz andere Wege gehen als wir.
Zerreißprobe
Mit Wucht traf mich in diesem Sommer ein weiteres Mal das, was unvereinbar scheint: die tiefe Liebe zu Menschen und die Unmöglichkeit der Begegnung. Ja: Wir treten aus einer Zeit des Entweder-oder in eine Zeit des Sowohl-als-auch, aus einer Zeit, in der sich die Dinge gegenseitig ausschließen, in eine Zeit, in der sie sich ergänzen. So schreibe ich es immer wieder, so spüre ich es. Doch der Weg vom Verstehen zum tiefen Verinnerlichen und der letztlichen Befreiung ist lang und beschwerlich.
Eine lange Reise liegt hinter uns. Nach einem Individuationsprozess voller Konflikte und Auseinandersetzungen weiß der Tropfen ein wenig mehr, wer er ist. Er ist sich seiner Konturen bewusst und macht sich daran, in den Ozean zurückzukehren. Hier verschwimmen die Grenzen von Raum und Zeit. Wir merken es daran, dass unser Zeitempfinden immer dehnbarer wird. Tage verfliegen wie Minuten, und Minuten können zu Stunden werden. Es ist wie auf einer Spirale, auf der alles gleichzeitig geschieht und wo wir die Ebene wählen können, auf der wir uns gerade bewegen.
Für mich sind die Spannungen zwischen den verschiedenen Ebenen zunächst kaum auszuhalten. Es droht, mich zu zerreißen. Ich glaube, mich entscheiden zu müssen — der Wunsch nach Verbindung oder Selbstschutz? Wohin schlägt das Pendel aus? Wie können wir gleichzeitig einen anderen Menschen lieben und uns vor ihm schützen? Wie können wir in einer Welt leben, die der Zerstörung geweiht ist, und gleichzeitig im Sinne einer neuen Welt wirken?
Aussteigen
In seinem „Siddharta“ beschreibt Hermann Hesse die Wunde um den Verlust seines Sohnes, der einen ganz anderen Weg wählt als er. Zunächst droht ihn der Schmerz zu überwältigen. Er kann keinen Sinn in den Ereignissen erkennen und kommt nicht weiter auf seinem Weg. Dann beginnt die Wunde zu blühen. Der Schmerz ist noch da. Die Liebe auch. Doch beide behindern sich nicht mehr gegenseitig.
Diese Erkenntnis kann nicht erzwungen werden. Sie kommt, wenn wir reif dafür sind und uns ihr nicht in den Weg stellen.
Der Schmerz wird nicht beschönigt. Er wird durchlebt. Die Erfahrung will ganz und gar gemacht werden.
Tropfen für Tropfen sickert sie durch. Am Ende steht das Erkennen, entscheiden zu können, ob wir zu dem Schmerzvollen hinabsteigen und es besuchen oder ob wir uns auf anderen Ebenen bewegen.
Zurück geht es immer. Doch die Erfahrung gibt uns einen Schlüssel in die Hand, jederzeit wieder aufsteigen zu können. Es ist wie eine Tür, die man öffnen und schließen kann. In welchen Raum gehe ich? Auf welche Weise will ich eine Situation erleben? Je stärker sich unser Bewusstsein entwickelt, desto mehr haben wir die Wahl. Leben wir wie ein Kind, das den Ereignissen hilflos ausgesetzt ist, oder wie ein erwachsener Mensch, der den Raum seiner eigenen Schöpferkraft betritt?
Zunächst ist alles wacklig und verschwommen. Dann kommt ein Punkt, an dem es sich so anfühlt wie Fahrradfahren lernen. Einen Augenblick lang gelingt es, sich im Gleichgewicht zu halten. Auch wenn wir wieder stürzen, wissen wir: Es geht! Es funktioniert. Der Samen ist gelegt.
Mit geöffneten Händen
Viele sind uns vorangegangen und haben den Weg vorbereitet. Viele werden folgen. Doch gehen müssen wir alleine. Mit uns sind andere unterwegs. Wir können uns von ihnen inspirieren lassen. Manchmal können wir einander helfen. Wir berühren einander, fordern uns heraus, geben einander Mut. Doch es ist wie beim Fahrradfahren: Wir lernen nur alleine, das Gleichgewicht zu halten, das wir brauchen, um voranzukommen.
Mag es draußen viel Lärm geben. Mögen andere sich so positionieren, wie sie es für richtig halten. Lassen wir uns nicht beirren. Versuchen wir zu helfen, wenn wir darum gebeten werden, hören wir einander zu, tauschen wir aus, und lassen wir einander ansonsten in Ruhe. Jeder hat das Recht, seinen Weg frei zu wählen und eigenständig voranzukommen — oder auch nicht. Wer weiß schon, warum mancher vielleicht zurückmuss, weil er noch etwas vergessen oder zu bereinigen hat.
Geben wir auch die frei, die wir lieben. Lieben wir mit geöffneten Händen. Lassen wir uns unsere Erfahrungen machen und bewerten wir einander nicht.
So sehr wir es uns auch wünschen mögen: Wir können niemanden retten. Seinen Lebensweg muss jeder alleine gehen.
Jeder muss seinem eigenen Antrieb folgen, seinen eigenen Absichten und Zielen, seinem eigenen Willen.
Wie gut es auch gemeint sein mag: Lassen wir die Kontrolle sein und kümmern uns um uns selbst, um unseren inneren Frieden, um unseren eigenen Weg, um das, was unsere Seele will und welche Aufgaben sie zu erfüllen hat. Behindern wir uns nicht immer wieder gegenseitig, sondern gehen dahin, wohin es uns aus tiefstem Herzen zieht. Leben wir, was wir zu erleben haben. Und lassen wir uns überraschen. Wer weiß? Wie bei Schrödingers Katze wissen wir nicht, was in der Box ist. Doch alles ist möglich. Öffnen wir einen Raum in uns, in dem alles geschehen kann. Auch das Beste.
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