Während in mir der Wunsch entstand, Samuel Widmer einen Nachruf zu schreiben, kamen mir sogleich Bedenken. Da darf ich mich ohnehin jeden zweiten Tag dafür rechtfertigen, Teil der neuen Friedensbewegung zu sein – und jetzt soll ich auch noch meine Therapieerfahrungen mit illegalen Substanzen und dem höchst „umstrittenen“ Samuel Widmer öffentlich machen? Mit diesem Quacksalber, Sexguru, Drogenpapst, Sektenführer, Scharlatan, Verführer und was man noch alles über Samuel lesen kann?
Ein gefährlicher Cocktail
Vor einigen Monaten konnte man wieder sehr viel lesen. Denn einer von Widmers Schülern stand nach einer außer Kontrolle geratenen Therapiesitzung mit psychoaktiven Substanzen in Berlin vor Gericht.
Am 3. September 2015 hatten 29 Personen lebensbedrohliche Vergiftungserscheinungen erlitten. Wie sich herausstellte, hatte die Gruppe mit dem Amphetamin 2C-E („Aquarust“) experimentiert. Allerdings war in der verabreichten Dosierung auch ein Stoff namens Bromo-Dragon-FLY enthalten. Diese Forschungschemikalie war 1998 von Matthew Parker an der Purdue University in West Lafayette entwickelt worden. Die Kombination beider Substanzen hat vermutlich die Katastrophe ausgelöst.
Der Leiter des Seminars war vor Gericht geständig und sagte aus, von der Beimischung des Bromo-Dragon-FLY nichts gewusst zu haben. Die Teilnehmer seines Seminars jedenfalls waren kollektiv in Panik geraten, hatten teilweise lebensbedrohliche Krämpfe, Atemnot und Lähmungserscheinungen entwickelt. Ein Großeinsatz von 150 Rettungskräften verhinderte Schlimmeres.
Sechs Jahre zuvor, im September 2009, war es in Berlin zu einem ersten Desaster im Umfeld der Psycholyse gekommen. Zwei Teilnehmer starben und ein weiterer fiel ins Koma, nachdem der Therapeut Garri R. psychoaktive Substanzen verabreicht hatte. Garri R. war fünfzehn Jahre zuvor von Samuel Widmer in den Methoden der Psycholyse ausgebildet worden.
Von Samuels Tod am 18. Januar 2017 habe ich aus einem Artikel auf der Seite 3 der Süddeutschen Zeitung erfahren. Der Text behandelte das Gerichtsverfahren gegen den Seminarleiter des Debakels von 2015 und reiht sich ein in eine Ausgabe von „Beckmann“ über „Scharlatane und falsche Heiler“, Medienberichte über Drogenexperimente mit katastrophalem Ausgang, sowie Artikel der Boulevardpresse über den „Sexguru von Nenningkofen“.
Zu Samuels Tod trumpfte die Schweizer BILD-Zeitung namens „Blick“ nochmals groß auf. Sie verabschiedete ihr auflagensteigerndes Hassobjekt mit der Schlagzeile „Geheim-Abschied von Guru Samuel Widmer (68): Witwe Nummer 1 übernimmt die Sekte“.
Der König der Pirscher
Es scheint sehr wenig zu geben, das man zur Verteidigung des Samuel Widmer und seiner Therapiemethode vorbringen könnte. Zudem ist dieses Thema in der derzeitigen Mediendiskussion mindestens so toxisch wie ein Cocktail aus 2C-E und Bromo-Dragon-FLY.
Ich nehme auch an, dass die folgende Erzählung von einer Therapie unter Zuhilfenahme psychoaktiver Substanzen und einem verantwortungsbewussten Umgang mit LSD und MDMA für die große Mehrheit der Rubikonleser als bestenfalls abseitig erscheint.
Überzeugt, den Text zu schreiben und damit die Gefahr einzugehen, dass dem Diffamierungslack an meiner öffentlichen Person eine neue Schicht aufgetragen werden könnte, hat mich dann die einzige Email, die ich von Samuel selbst erhalten habe. Sie datiert vom 17. Mai 2008 und lautet:
„Lieber Florian Kirner
danke für deine Kontaktnahme.
Es tut immer gut, auch andernorts Revolutionäre zu wissen.
Jemand (Abbie Hoffmann) soll mal gesagt haben: Die erste Pflicht eines Pioniers ist es, sich nicht erwischen zu lassen…
Viel Glück auf der Reise wünscht
Samuel Widmer“
Darin, nicht erwischt zu werden, bestand zu jener Zeit, als ich ihn kennenlernte, der Kriegernimbus des Samuel Widmer. Da stellte sich ein Arzt offen in die Landschaft und bekannte sich zu einer Therapiemethode, die den Einsatz von LSD, MDMA, Mescalin und anderen verbotenen, psychoaktiven Substanzen einschloss – und Samuel Widmer schien damit durchzukommen!
Ab 1988 hatten er und verbündete Therapeuten, Ärzte und Wissenschaftler die Wirksamkeit der psycholytischen Heilmethode sogar so überzeugend belegt, dass das Schweizer Bundesamt für Gesundheit mehreren Therapeuten bewilligte, im Rahmen einer wissenschaftlich begleiteten Testreihe mit LSD und MDMA zu therapieren.
Samuel Widmer war einer dieser Therapeuten mit Spezialbewilligung. Die Substanzen wurden fortan in bester, abgesicherter Qualität angeliefert – versehen mit dem Siegel des Schweizer Gesundheitsamtes.
Vermutlich erlaubte diese offizielle pharmakologische Absicherung zusammen mit der Angstfreiheit, nichts Verbotenes zu tun, besondere Erfolge der von Samuel Widmer „Psycholyse“ getauften Therapiemethode. Es schien, als könne der Weg der Psycholyse Schritt für Schritt erfolgreich sein. Indem man die Heilungserfolge wissenschaftlich belegte, Experten und Behördenmenschen mit sachlichen Argumenten überzeugte, würden Vorbehalte behutsam abgebaut werden, so die Erwartung.
Samuel Widmer war von großem Geschick in diesem Bemühen und im Ringen mit der Bürokratie von entwaffnender Ehrlichkeit. Er war allerdings auch äußerst vorsichtig. Er schrieb zwar Bücher und hielt Vorträge. Mit jeder Form übertriebener Öffentlichkeit hielt er sich jedoch zurück. Im Internet war er bis vor einigen Jahren fast unauffindbar.
Samuel war, um es mit Carlos Castaneda zu sagen, der König der Pirscher.
Das Wunderkind der Schweizer Pharmaforschung
Solche Fortschritte samt Spezialbewilligung waren vermutlich nur in der Schweiz denkbar, in jenem Land, in welchem Albert Hofmann sechs Jahrzehnte zuvor die Wirkung des LSD per Zufall entdeckt hatte.
Hofmann war damals für den Chemiekonzern Sandoz in der Arzneimittelforschung tätig und experimentierte 1938 mit dem Getreidepilz Mutterkorn. 1943 nahm er versehentlich eine winzige Dosis ein und erlebte daraufhin den ersten LSD-Trip der Weltgeschichte.
Die Erinnerung daran, dass LSD anschließend als Wunderkind der Schweizer Pharmaforschung gefeiert worden war, dass es als Therapeutikum für schwere und schwerste psychische Erkrankungen eingeführt und die Heilerfolge in internationalen wissenschaftlichen Fachzeitschriften als sensationell besprochen worden waren, das Wissen darum, dass Albert Hofmann 1969 von der ETH Zürich für seine Forschungsarbeiten die Ehrendoktorwürde verliehen bekommen hatte: all das ist in der Schweiz bis heute lebendiger geblieben als anderswo.
Nachdem LSD zunächst hauptsächlich im therapeutischen Bereich und in der pharmakologischen Forschung für Aufsehen gesorgt hatte, explodierte die Substanz in den sechziger Jahren in die Revolte der Hippies. Tatsächlich ist die Kunst und Musik dieser Zeit ohne den Masseneinfluss des LSD gar nicht erklärbar.
Albert Hofmann sah diese Entwicklung mit Skepsis und schrieb ein Buch namens „LSD – mein Sorgenkind“. Für ihn war LSD eine Substanz von solcher Kraft, dass er den unkontrollierten Einsatz ohne ärztliche beziehungsweise therapeutische Begleitung für gefährlich hielt. Die LSD-Propaganda des Harvard-Professors Timothy Leary hielt Hofmann für wenig verantwortungsvoll.
Sympathischer waren ihm die Arbeiten des Psychiaters, Psychotherapeuten und Medizinphilosophen Stanislav Grof. Am psychiatrischen Forschungszentrum in Prag hatte Grof die therapeutischen Möglichkeiten von LSD und anderer Psychedelika wissenschaftlich erforscht. Seine späteren Arbeiten und seine Heilpraxis waren experimentell abgesichert, wissenschaftlich evaluiert und weit entfernt von der Illusion, der Einwurf von LSD garantiere Erleuchtung.
Aufbruch der Elektrohippies
Die Konterrevolution gegen die Revolte der 60er Jahre brachte dann auch die bis heute anhaltende Kampagne gegen LSD mit sich. Fälle tatsächlich missbräuchlichen Einsatzes mit verheerender Wirkung im freien Selbstversuch lieferten die nötigen Horrorgeschichten. Die Forschungsergebnisse mehrerer Jahrzehnte wurden unterdrückt oder als unwissenschaftlich abgetan. LSD wurde verboten und weltweit verfolgt. Allerdings konnte das Wissen um die Wirkung der Substanz nicht zum Schweigen gebracht werden. Der Geist war aus der Flasche entwischt und zu viele Erfahrungsberichte über die Wirkung der Substanz waren in die Welt gelangt.
In den 1990er Jahren leitete eine neue, globale Jugendkultur rund um elektronische Musik frisches Wasser auf die Mühlen der Drogenveteranen der vorangehenden Generation. Nach Jahrzehnten der Angstpropaganda und der Kriminalisierung schien wieder eine Zeit der Experimentierfreude und der erneuerten Suche nach den Mysterien angebrochen.
Man muss die gegenweltliche Kraft mehrtägiger Goa-Parties zu dieser Zeit erlebt haben, um die Großartigkeit dieses Anlaufs angemessen zu bewerten. Die Kühnheit, mit der die Untiefen der eigenen Seele zu Tausenden durchfahren wurden, ist kaum mehr vorstellbar in einer Zeit, in der eine kollektive Anstrengung der Schmerzvermeidung, der Angstabwehr, der Ablenkung und Zerstreuung die Herzen verkleistert.
Damals schien es tatsächlich, als könnten wir die Mauern des alten Denkens demnächst überwinden und aufbrechen in ein neues Zeitalter der Liebe, der Zauberei und der kosmischen Verbundenheit.
Eine enorme Rolle spielte dabei der rasante Siegeszug von Extacy – MDMA – durch die Partyzonen dieser Welt.
Die Substanz MDMA ist, richtig und verantwortungsbewusst eingesetzt, ein herzöffnendes Medikament. Die Rezeptoren für Glück und Liebe schütten sich aus wie Sturzbäche, man wird innerlich geduscht mit diesen starken Gefühlen.
Diese Erfahrung kann Großartiges bewirken. Menschen, die es nie erlebt haben, zu lieben und geliebt zu werden, verleiht dieses Geschenk zumindest eine Ahnung von dem, was möglich ist. Das kann helfen, die Segel zu setzen und den richtigen Kurs einzuschlagen, um der ewigen Herzensflaute der Depression zu entkommen.
Erneut aber reden wir über eine Substanz von großer Macht. Wer die Becher der beglückenden Liebe zu oft und zu hart umwirft, fügt den Rezeptoren in seinem Gehirn auf die Dauer Schaden zu. Es kann dann sein, dass die ramponierten „Becher“ des Glücks und der Liebe irgendwann kaum noch halbvoll werden können.
Eine andere Drogenpolitik
Wer heute erlebt, wie Jugendliche sich Trips und Pillen einwerfen als wären das Erdnussflips, befreit von in Jahrzehnten entwickeltem Wissen um den richtigen Einsatz dieser Substanzen, wäre fassungslos darüber, wie organisiert und verantwortungsbewusst der Umgang mit psychoaktiven Substanzen – Ausnahmen bestätigen die Regel – auch und gerade im Umfeld der elektronischen Partyszene gewesen ist.
Samuel Widmer trug dazu bei mit seinem Ratgeber „E ist für Extacy“, der auf Goa- und Technoparties verteilt wurde.
Wenn Ihr MDMA einnehmt, so die Botschaft, tut dies mit Achtsamkeit. Seid Euch der Möglichkeiten und der Gefahren bewusst, die diese wirkungsmächtige Substanz bereithält. Passt aufeinander auf! Das könnt Ihr tun, wenn es diese Schwierigkeit gibt. Jenes, wenn es zu dieser Nebenwirkung kommt.
Dieser Ansatz der Beratung zu kontrollierter und sachgemäßer Anwendung psychoaktiver Substanzen ist dem der offiziellen „Drogenpolitik“ in mehr als einer Hinsicht vorzuziehen. Das erklärte Ziel des staatlichen Ansatzes besteht darin, die Einnahme illegaler Substanzen mit einer Mischung aus Horrorpropaganda und Repression zu verhindern.
Das ist realitätsfern. Die Menschheit benutzt bewusstseinserweiternde Substanzen seit ihrem Anbeginn und keine Repression konnte jemals verhindern, dass sich Menschen auch mit diesen Transportmitteln auf die Reise ins Seeleninnere begeben. Die chemische Formel des LSD etwa ist identisch mit der Zusammensetzung klassischer „Zauberpilze“, wie sie von den Schamanen Südamerikas eingesetzt werden.
Samuels Ansatz war: hingehen, wo psychoaktive Substanzen genommen werden – und dort über das Wie und das Wohin sprechen. Helfen, eine verantwortungsbewusste Nutzung dieser hochpotenten Substanzen zu kultivieren. Samuel verfolgte diesen Ansatz bei weitem nicht alleine. Und während viele in einen kommerzialisierten, rein auf den Spaß orientierten Umgang mit psychoaktiven Substanzen abrutschten, wuchs die Zuhörerschaft für jene, die – wie Grof, Hofmann, Widmer und Co. – eine andere Philosophie stark machten.
Die revolutionäre Kraft der Stille
Im Übrigen scheint der Hinweis am Platz, dass die Therapiemethodik des Samuel Widmer nicht so aussah, dass man einfach irgendwelche Pillen an Leute verteilt und von deren schierer Einnahme Heilung versprochen hätte. Die Therapiemethodik war sehr viel komplizierter und keineswegs etwas für Leute, die den bequemen Weg zum Seelenheil suchen.
Das Herz der Angelegenheit war eine scheinbar sehr unspektakuläre, völlig legale, nichtsdestotrotz aber sehr viel seltenere und in unserer Gesellschaft mit großer Härte bekämpfte Substanz: es war die Stille!
Stille meint hier nicht die Abwesenheit von Geräuschen, wenngleich es rund um Samuel Widmer generell eher leise und schweizerisch langsam zuging. Die Stille, um die es hier geht, ist die Abwesenheit des inneren Lärms. Jiddhu Krishnamurti nannte diesen Lärm „the ever chattering mind“ – das unentwegt plappernde Bewusstsein – welches viel eher eine Bewusstlosigkeit, eine Abwesenheit von Bewusstsein darstellt.
Wir alle kennen das: Du bist in der Natur, Du bist in der Einsamkeit, um Dich herum wird es still und das geschäftige Weltgetriebe droht zum Erliegen zu kommen. Da drängt es uns unweigerlich, der drohenden Stille zu wehren. Wir greifen dann zum Handy, wir starten einen inneren Dialog über wenig substanzielle Fragen, wir springen auf, wir machen das Radio an, irgendwer raschelt oder macht einen Witz, kurz: Wir ergreifen Maßnahmen, die Stille zu vertreiben.
In einer durchtechnologisierten, medienverseuchten Zeit von rasender Epigonalität, die eine Epoche zu nennen sich aufgrund mangelnder Qualitätsmerkmale verbietet, haben sich Techniken der Stille-Abwehr zu einem hochempfindlichen Netz effizienter Alarmmechanismen verdichtet. Immer bimmelt und klingelt es irgendwo, ständig versetzt uns etwas in Unruhe, jetzt bricht ein unabweisbares Großereignis – eine Fußball-WM, eine Erdrutschwahl oder ein Terroranschlag von Rang – kategorisch in unsere Wahrnehmung, gleichzeitig geht eine SMS oder eine Whatsapp-Nachricht ein und überhaupt haben wir gleich einen Termin.
Diese Abwehrmechanismen sind in psycholytischen Therapiesitzungen der Hauptfeind. Denn die Energie der Substanzen soll anders genutzt werden, als etwa um zu tanzen, sich an farbenfrohen Halluzinationen zu ergötzen, sich auszuagieren.
Ganz im Gegenteil wird in diesen Sitzungen vor allem geschwiegen, gesessen und gelegen (nicht geschlafen!).
Natürlich versuchen die Teilnehmer unentwegt, der Stille zu entgehen. Um nicht hinschauen zu müssen, was ihnen die Stille zu zeigen droht, kommen alle erdenklichen Strategien in Anschlag. Der eine rennt permanent auf die Toilette, die andere zeigt sich anderweitig unfähig, ihren Körper in Zaum zu halten, der dritte plappert drauflos, ein Pärchen fängt an miteinander zu tuscheln.
Samuel ließ es nicht durchgehen. Unerbittlich lenkte er die Energie zurück ins Innere der Teilnehmer. Wie ein Turm verteidigte er die Stille. Bestenfalls legte er eine Musik auf. Ein Teilnehmer las zwischendurch ein Gedicht. Samuel monologisierte ein bisschen über das, was er zu spüren und zu sehen glaubte in der Gruppe und bei Einzelnen. Aber in der Hauptsache war es still. Wir lagen und schwiegen. Wir saßen und schwiegen. Wir machten eine Pause, es gab eine Gesprächsrunde. Samuel legte ein weiteres Lied auf. Dann wurde wieder geschwiegen.
Die Beherrschung der Stille war die eigentliche Meisterschaft des Samuel Widmer.
Der Zauberer im Labyrinth
Nicht erwischt zu werden! Die Pflicht des Revolutionärs. Nur leider: Samuel wurde erwischt – zumindest waren ihm die Höllenhunde der Repression zuletzt immer dichter auf den Fersen.
Zum Zeitpunkt seines Todes lief ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Das Trommelfeuer der Medien nahm kein Ende mehr und die öffentliche Person Samuel Widmer hatte sich weit von jenem Samuel Widmer entfernt, den ich einst kennengelernt hatte.
Der Medienwidmer ist ein schieres Monster. Ein geschäftstüchtiger, sexsüchtiger Sektenchef, der die Leute mit Drogen gefügig machte.
In einigen der letzten Videos, die sich im Netz finden lassen, machen Samuel und seine Frau Danièle Nicolet einen abgekämpften und niedergeschlagenen Eindruck, auch wenn sie tapfer behaupten, selbst diese Schwierigkeiten und Bedrohungen seien einfach nur ein Teil des Notwendigen und der Wirklichkeit – ein Teil, der eben akzeptiert, angenommen und integriert werden müsse.
Wie diese Integration praktisch ausgesehen haben könnte, schildert Samuel, wenn er es als ganz folgerichtig beschreibt, dass einer, der als Arzt und Therapeut offen und ohne Entschuldigungen den Weg der Substanzen geht, dann eben ans Kreuz genagelt wird.
Die Gefahr, dass es eines Tages böse schief gehen könnte, war im Kreis um Samuel Widmer immer präsent. Sie wurde offen besprochen und sehenden Auges wurde dieses Risiko gemeinsam eingegangen.
Gleichzeitig wuchs um Widmer herum eine Gemeinschaft in Nenningkofen, im Schweizer Kanton Solothurn. Immer mehr seiner Schüler und Freunde zog es in dieses kleine Dorf. Heute stellt die Gemeinschaft zur Kirschblüte mit 200 Einwohnern 20 Prozent der Dorfbevölkerung – und selbstverständlich eröffnete diese Situation ein ganz eigenes Feld der Auseinandersetzung.
Diese wurde ungemein zugespitzt durch ein weiteres Skandalon in diesem Kreis: die ebenfalls offen gelebte Freiheit in Sexualbeziehungen. Samuel, Vater von elf Kindern mit zwei Frauen, war auch hier ein Pionier von großer Rücksichtslosigkeit gegen sich und andere. Auch Techniken der Sexualmagie, des Tantra, wurden hier erforscht und gelehrt.
Den Kritikern vor allem in der Revolverpresse, waren diese „Zustände“ natürlich ein gefundenes Fressen. Die verdrängten Schmutzfantasien des Kleinbürgers fanden eine ideale Projektionsfläche.
Ich möchte es an dieser Stelle bei der Anmerkung belassen, dass hier erwachsene Menschen mit anderen erwachsenen Menschen in freier Vereinbarung gehandelt haben. Alles Weitere fällt in einen Bereich, der bei aller Infragestellung in unserer Zeit immer noch sein zumindest theoretisches Anrecht auf Intaktheit behalten hat: das gute, alte Privatleben. Remember?
Konnte Samuel Widmer fliegen?
Allerdings: Die wachsenden Probleme, die im weiteren Umfeld Samuel Widmers einige katastrophale Ergebnisse zeitigen sollten, können meines Erachtens nicht alleine auf den Druck von außen – durch spießige Mitmenschen, Neider, bösartige Journaille und staatliche Verfolgung – reduziert werden.
Persönlich habe ich Samuel Widmer nur ein einziges Mal kennengelernt, bei einer Therapiesitzung mit psychoaktiven Substanzen vor vielleicht fünfzehn Jahren, nachdem seine Bücher (etwa: „Ins Herz der Dinge lauschen“) und eine Therapie bei einem seiner Schüler einige Jahre lang eine gewisse Rolle in meinem Leben gespielt hatten.
Das Bild des mir noch unbekannten Samuel Widmer war in dieser Zeit auch in meiner Vorstellung zu einer lebenden Legende angewachsen. Die direkte Erfahrung mit ihm hat mich dann mit Ernüchterung zurückgelassen – und mit dem Eindruck, dass in Samuels Laden einiges auf eine ziemlich schiefe Bahn zu geraten drohte.
So stellte ich eine ungute Verehrung Samuel Widmers fest in diesem Kreis, die über meine eigene, vorauseilende Überhöhung noch weit hinausreichte. Damit meine ich nicht berechtigte Anerkennung, die sich Samuel Widmer für seine Pionierleistung redlich verdient hatte.
Ich meine dieses junge Paar, welches seine beiden Kinder Samuel und – nach seiner Hauptpartnerin – Danièle getauft hatte und mit einer solch quasireligiösen Heilserwartung in diesem Seminar zugange war, dass die bittere Enttäuschung, die an seinem Ende stand, geradezu folgerichtig eintreten musste.
Dass Samuel Widmer erleuchtet sei, dass er auf einer Stufe mit Jiddhu Krishnamurti oder Carlos Castaneda stehe, war ohnehin die allgemeine Auffassung. Er nährte diese Vorstellung, indem er sich auf diese beiden als seine „spirituellen Lehrer“ berief, was die Idee zumindest unwidersprochen wuchern ließ, er sei persönlich von ihnen ausgebildet oder gar beauftragt worden.
Ein Teilnehmer zeigte sich zwischen den Sitzungen überzeugt, Samuel könne körperlich fliegen, wie die großen Zauberer der alten Zeit.
Nun hat Samuel selbst keineswegs behauptet, fliegen zu können. Auch was seinen Erleuchtungsstatus anbetrifft, bestätigte er diesen nicht.
Es kann zudem eine echte Schwierigkeit darstellen, sich gegen die Verkultung durch selbsterklärte Anhänger immer wieder zur Wehr zu setzen. Der Drang, die Verantwortung für das eigene Leben abzugeben, ist stark in jedem von uns. Sich in die Verantwortung für das eigene Tun und Handeln und seine Folgen ganz hineinzustellen, ist dagegen die ultimative Herausforderung – und oft genug eine Überforderung, die wir kaum ertragen können.
Die Überhöhung eines Vorbilds kann dazu dienen, unsere Verantwortung ins Außen zu projizieren, und es ist dabei ganz egal, ob es sich um einen Superstar in der Musik, um einen charismatischen Politiker, einen lebenden spirituellen Lehrer oder auch um einen längst Verstorbenen handelt, der ans Kreuz genagelt oder als Buddha oder Prophet gehandelt wurde.
Diese Verantwortung immer wieder zurückzuweisen, die Annahme zu verweigern, kann extrem anstrengend sein für alle, die, in welcher Form auch immer, auf Bühnen und in der Öffentlichkeit stehen.
Verstärkt wird diese Problematik dadurch, dass Therapie sich in aller Regel und sinnvollerweise mit Leuten beschäftigt, die eben nicht kerngesund, selbstbewusst und frei von psychischen Problemen sind. Mit Leuten eben, die einer Therapie bedürfen.
Hinzu kommt der unvermeidliche Grundkonflikt zwischen Therapeut und Patient, dass sich ersterer bis zu einem gewissen Grad als Projektionsfläche anbietet – sich dem aber durch Kunstgriffe und Schlupflöcher rechtzeitig entziehen können muss, um dem Patienten die Tatsache seiner Einsamkeit nicht zu ersparen und ihn in die Eigenverantwortung zurückzuverweisen.
Auf dem Holzweg
Jedoch: Ich kann Samuel Widmer den Vorwurf nicht ersparen, dass er sich die Anhimmelungen und Unterwerfungsgesten mancher Teilnehmer – und speziell unter den Teilnehmerinnen nahm das Gerangel um einen Platz an der Sonne namens Samuel ein unerträgliches Ausmaß an – doch auch ganz gerne hat gefallen lassen. Samuel legte sich zu den Schlangen, genoss ihre Wärme und suhlte sich ihn ihren zischelnden Schmeicheleien.
Auch die Überhöhung durch viele Anhänger hat er zwar thematisiert und teilweise zu bekämpfen versucht. Andererseits hat er sie aber durch eine robust ausgelebte Chefrolle befördert.
Ich fand meinerseits ausgesprochen daneben, dass Samuel der von mir besuchten Therapiegruppe just in dem Moment, als das MDMA seine Wirkung entfaltete, in salbungsvollen Worten nahelegte, man werde nun einen neuen Raum betreten, mit ihm als Lehrer und uns als seinen Schülern. Anschließend verglich er seine Gemeinschaft mit einem Konzern, mit ihm selbst als Konzernchef.
In der Tat: Das waren Schritte auf dem Holzweg, beseelt von ungehöriger Selbstüberschätzung und vermutlich auch von Geschäftstüchtigkeit.
Was in Samuels Fall Fragezeichen aufwarf, und mich mit einer gewissen Skepsis hinterließ, mag bei manchem, der ihm nacheiferte und sich vom Therapieleiter zum Weltenlehrer aufzuschwingen suchte, weitaus schlimmere Konsequenzen gezeitigt haben.
In seiner Antwort auf die Vorwürfe, er sei mitschuldig an den zwei katastrophal gescheiterten Therapiesitzungen von ihm ausgebildeter Therapeuten, machte es sich Samuel Widmer deshalb aus meiner Sicht eindeutig zu leicht, wenn er jede Verantwortung mit dem Hinweis abtat, wenn ein Autofahrer einen Unfall baue, komme auch niemand auf den Fahrlehrer zu und mache ihn für die Fahrfehler seines ehemaligen Schülers verantwortlich.
Da wäre meines Erachtens mehr Selbstkritik und Nachdenklichkeit angebracht gewesen, denn die beiden infrage stehenden Therapeuten waren in Samuels Projekt keine randständigen Figuren gewesen, die man nur vom Hörensagen gekannt hätte.
Dennoch war Samuel aus meiner Sicht kein gewissenloser Seelenfänger. Ich selbst kam zu ihm mit der klar formulierten Bereitschaft, ihn als meinen Lehrer anzunehmen. Dieses Ansinnen hat er, freundlich, aber bestimmt, an mich selbst zurückverwiesen und keinerlei Anstalten gemacht, mich für seine Gemeinschaft zu gewinnen.
Menschen wie Universen
Ich kam dann zu der Entscheidung, künftig doch lieber ohne Guru durchs Leben zu gehen. Diese Entscheidung war die richtige für mich. Ich habe seither keinen Kontakt mehr zu Samuel Widmer und seinem Umfeld gesucht.
Im Schatzhaus meiner Erinnerung wird die Erfahrung, die mir Seelenreisen mit den Transportmitteln LSD und MDMA im Rahmen psycholytischer Meditationen geschenkt haben, als ein besonders wertvolles Geschenk verwahrt bleiben.
Ich hatte aber irgendwann den Eindruck, die Substanzen würden bei weiterer Benutzung genau diese Türen in mir wieder schließen, die sie zuvor geöffnet hatten. Mir wurde klar, dass der Weg der Substanzen seine enormen Vorteile hat, die in ihrer brachialen Öffnungswirkung liegen. Die Kanäle in meinem Seeleninneren waren einst so verschmiert und verstopft, dass ich glaube, diese panzerbrechenden Waffen benötigt zu haben, um die Energie wieder in Fluss zu setzen.
Wie jede Abkürzung hat aber auch dieser schnelle Weg seine Nachteile. Und zu oft befahren, wird aus dem wundersamen Weg der Substanzen recht schnell ein ausgelatschter Trampelpfad.
Also begab ich mich auf die Suche nach anderen Zugängen zu jenem Seeleninneren. Ich mag nun nicht behaupten, damit übermäßig erfolgreich zu sein. Zumal auch die Dämonen nicht schlafen, und ich in letzter Zeit beispielsweise einige Aufmerksamkeit darauf zu verwenden habe, meine Internetsucht in den Griff zu kriegen.
Aber so ist das eben in diesem Erdenleben: Wir sind komplexe Wesen, schimmernd wabernde Energiefelder, die sich stetig wandeln – und keineswegs jenes solide, für die Ewigkeit festgefügte „Ich“, das wir uns selbst und anderen so gerne vormachen.
Und Samuel? Er war weder das verbrecherische Monster, das einige hasserfüllte Ex-Anhängerinnen und Teile der Medien aus ihm machen. Aber er war auch nicht jener über dem Wasser schwebende Heiland, den einige seiner Verehrer aus ihm gemacht haben.
Allerdings war Samuel Widmer einer, der die Formen sprengte. Aus der Rolle des klassischen Psychotherapeuten ist er suchend ausgebrochen. Dem Faden der Erkenntnis folgend, hat er sich aus der Anerkennung der guten Gesellschaft in den Untergrund einer staatlich kriminalisierten Szene verabschiedet. Im Privaten hat er die Formen der bürgerlichen Kleinfamilie weit hinter sich gelassen.
Samuel Widmer war ein Revolutionär der Seele.
Und hat er sich erwischen lassen? Haben sie ihn gekriegt, am Ende? Nicht wirklich. Als die Höllenhunde kurz davor waren, ihre Hauer in sein Fleisch zu schlagen, als der finale Schlag vor Gericht unausweichlich drohte, griff der König der Pirscher zu einem letzten Trick von unendlicher Kühnheit: Er verabschiedete sich mittels eines Herzstillstands von dieser Welt und entzog sich so ein letztes Mal den Häschern.
Servus, Samuel, alter Revoluzzer.
Vielleicht trifft man sich ja wieder, auf der anderen Seite der Welt.
„Ich sehe mich als Betroffenen, als Neger, als ewigen Juden. Und Betroffene müssen das Recht haben, zu schreien. In einer Zeit, da wir in der Folge beschränkter Bewusstheit und einem Festhalten an überholten Werten und Weltsichten von Finanz- und Ökokrisen, sowie Kriegsbedrohungen geschüttelt und vom allgemeinen Untergang bedroht sind, darf man die Welt nicht nur jenen Kräften überlassen, die es allen Recht machen wollen. Die langsamen Kräfte, das heißt, die Ängstlichen und bewusstseinsmäßig Beschränkteren können dann ja wieder hinterherkommen und die Sache organisieren. Darin waren sie schon immer gut. Für eine Revolution sind sie aber nicht zu gebrauchen. Revolution, Umsturz ist aber immer wieder nötig. Und heute vor allem innere, bewusstseinsmäßige Revolution, wie sie zum Beispiel eben diese Substanzen in Bewegung setzen.“
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