Im Viertel um den Asan-Platz in Kathmandu gibt es einen Markt. Dorthin fährt die ganze Stadt zum Einkaufen. Kleine Läden für Gemüse, Gewürze, Haushaltswaren und bunte Frauenkleider gibt es hier. Friseure und Schuhmacher bieten ihre Dienste an. In den engen Gassen gibt es uralte hinduistische und buddhistische Tempel und Statuen. In diesem Viertel geben aber nicht die Touristen den Ton an, sondern die einfachen Leute.
Abends kommt man in dem Menschenstrom rund um den Asan-Platz nur langsam voran. Motorradfahrer schlängeln sich auf ihren knatternden Maschinen durch das Gewimmel. Man möchte protestieren. Doch als ich mich umblicke, sehe ich, dass die Zweiräder Niemanden zu stören scheinen.
Eine U- oder Straßenbahn gibt es in Katmandu nicht. Es gibt nur Busse und Taxis. Das ist für eine Stadt mit fast einer Million Einwohnern erstaunlich. Aber irgendwie funktioniert alles. Und je länger ich in Kathmandu bin, desto mehr genieße ich die Ruhe, mit der die Menschen hier leben.
Am zweiten Tag notiere ich in mein Tagebuch: „Die Leute scheint der Staub und der Lärm nicht zu stören. Sie strömen zielgerichtet irgendwohin. Auf den Bürgersteigen drängen sich die Menschen dicht an dicht. Aber sie wirken gelassen und scherzen sogar.“
Die Suche nach einem Park
In Kathmandu leben fast eine Million Menschen. Auf den mehrspurigen Straßen der Hauptstadt von Nepal herrscht dichter Verkehr. Die Stadt liegt auf 1.300 Meter Höhe zwischen grün bewachsenen Bergen in einem Talkessel. Der Smog kann nur schwer abziehen. Wegen der Staubwolken, und auch um sich vor Bakterien zu schützen, tragen viele Menschen Masken oder Tücher vor dem Mund. An die Masken, die es in einfacher, aber auch in sehr gut ausgearbeiteter Ausführung gibt, scheinen sich die Leute gewöhnt zu haben.
Das Altstadtviertel Bakhtapur, Foto: Ulrich Heyden
In der Hauptstadt von Nepal sieht man vor allem einfach gebaute, mehrstöckige Wohnhäuser aus Beton. Nur in Bakhtapur, einem am östlichen Stadtrand gelegenen Viertel, fühlt man sich in die Jahrtausende alte Geschichte des Landes zurückversetzt. Straße um Straße sieht man hinduistische Statuen und Pagoden, die sich mit ihren geschachtelten Dächern in den Himmel recken. In diesem Viertel gibt es keine Häuser aus Beton. Hier wurde mit Holz und Ziegelsteinen gebaut. Alles ist im alten Stil erhalten. Einige Gebäude, die unter dem Erdbeben 2015 gelitten haben, werden zurzeit wieder aufgebaut.
An Grünflächen herrscht im dicht bebauten Kathmandu großer Mangel. Die einzige große Grünfläche im Stadtzentrum ist der Ratna-Park. Doch er ist teilweise verwildert und nicht zugänglich. Nur ein kleiner Teil dieses Parks ist als begehbarer Park hergerichtet. Um diesen kleinen Teil des Parks betreten zu können, müssen die Einwohner allerdings 50 nepalesische Rupi (40 Cent) zahlen. Touristen zahlen 75 Rupi.
Wie man eine Straße überquert
Kathmandu hat eine spezielle Ordnung. Wer als Fußgänger über eine Straße will, muss sich mit einer entsprechenden Handbewegung den Weg durch einen dichten Strom von Autos und Motorrädern bahnen. „Du darfst keine ruckartigen Bewegungen machen, sondern musst einfach ruhig auf die andere Straßenseite gehen“, empfiehlt mir meine Begleiterin, die schon öfters in Kathmandu war. Erst erscheint mir dieser Tipp naiv. Doch dann stelle ich fest, dass er wirkt. Ohne auch nur ein einziges Autoblech zu berühren, komme ich auf die andere Straßenseite. In meinem Tagebuch notiere ich: „Gemütlich geht es hier nicht zu. Aber die Energie dieser Stadt ist toll.“
Nicht nur Fußgänger werden von den Autofahrern geachtet, auch die Tiere. Auf einer der großen Straßen der Stadt sah ich Kühe, die sich an die Abgrenzungen zwischen den Straßenspuren gelegt hatten. Die Autofahrer umfuhren sie gekonnt, und das in einem hohen Tempo.
Botschaft der USA als Festung ausgebaut
Mitten in Kathmandu – direkt neben dem Touristen-Viertel Thamel – hat die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika ihren Sitz. Sie hat sich hinter hohen Mauern verschanzt hat und wird zusätzlich noch von mehreren Polizei-Posten bewacht. Zum Ende des Bürgerkrieges hatten die USA versucht eine Machtbeteiligung der Maoisten zu verhindern. Doch das gelang nicht.
Das Viertel Thamel ist vollgestopft mit Hotels und Läden für alles, was der Tourist und Bergwanderer so braucht. Es gibt Outdoor-Kleidung für den kleinen und den großen Geldbeutel. In der Regel werden hier Imitate bekannter westlicher Marken verkauft. Touristen finden in den zahlreichen Läden auch die neuesten Trends der westlichen Alternativ-Mode. In einem Geschäft mit Klamotten im Gothik-Stil, erklärte mir eine Mitarbeiterin, die sich als Amerikanerin vorstellte, dass für den Laden Designer in den USA arbeiten.
Wer im Touristen-Viertel Thamel unterkommt, braucht auf nichts zu verzichten. Während es überall in Nepal Mangel an sauberem Wasser und häufig Stromabschaltungen gibt, haben die Touristen Wasser und Strom, so viel sie wollen. Die Hotels kaufen Wasser in großen Mengen, damit die Gäste duschen und baden können, erzählt mir ein Taxifahrer.
Kathmandu ist absolut keine Provinzstadt. Überall wird Englisch gesprochen. Die Buchläden sind voller englisch-sprachiger Literatur. Wo er sein Englisch gelernt hat, will ich von einem Taxifahrer wissen. „Auf der Straße“, lautet die Antwort. Mehrere Taxifahrer erklären mir, sie hätten keine abgeschlossene Schulausbildung, weil sie schon früh die Familie ernähren mussten. Nach einer aktuellen Untersuchung hat mehr als die Hälfte der Grundschüler in Nepal keine weiterführende Schule besucht, und nur die Hälfte der Schüler schafft es bis zur 10. Klasse.
Reger Verkehr im Zentrum der Hauptstadt, Foto: Ulrich Heyden
Krankenhaus ohne Ärzte
Ein Taxifahrer erzählt, er verdiene im Monat 400 Euro. Davon müsse er seine Familie mit zwei Kindern ernähren. Um das Familien-Budget aufzubessern habe er zwei Jahre in Katar für 700 Dollar im Monat als LKW-Fahrer gearbeitet. Billige Arbeitskräfte aus Nepal sind nicht nur in den ölreichen arabischen Staaten begehrt. Ein junger Fahrer, der uns mit dem Jeep in die Berge fuhr, hatte zuvor als Wachmann bei den amerikanischen Streitkräften in Afghanistan gejobbt.
Viele Nepalesen hoffen im Ausland Arbeit zu finden. Überall in Kathmandu sieht man große Werbetafeln, wo Sprachschulen Englisch- und Japanisch-Unterricht anbieten. 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes machen Überweisungen von Nepalesen aus, die in den Golfstaaten arbeiten.
Und wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung aus? Die Versorgung im Krankenhaus koste nichts, erzählt mir der Taxifahrer. Aber wenn er vormittags ins Krankenhaus gehe, seien keine Ärzte da. „Die arbeiten noch alle in Privatkliniken. In die Krankenhäuser kommen sie nur selten.“
Auf dem Land leben die Menschen noch bescheidener als in Kathmandu. Aber hier gibt es wenigstens Landwirtschaft. 70 Prozent der Menschen in Nepal arbeiten in diesem Wirtschaftssektor.
Mit dem Jeep auf dem Weg in den Norden Nepals fahren wir durch dichten Dschungel und vorbei an kleinen, terrassenförmig angelegten Reisfeldern in saftig hellem Grün. Wegen der wilden Tiere, die es hier gibt, liegen die Dörfer in einem Sicherheitsabstand zum Dschungel.
Je weiter wir nach Norden fahren, desto näher kommen wir den bis zu siebentausend Meter hohen Bergen des Himalayas. Auch in den Bergdörfern gibt es mehrstöckige Häuser aus Beton. Manche Häuser sind aber nur aus Blech. Doch alles ist sauber und ordentlich.
Die Menschen in den Dörfern sind alle emsig mit etwas beschäftigt. In kleinen Werkstätten werden Motorräder repariert. Ein Schneider sitzt hinter seiner Nähmaschine. Sein Arbeitsraum ist von der Straße aus vollständig einsehbar. Nur die Schulkinder, erkennbar an ihrer blauen Uniform, schlendern gemächlich die Straße entlang.
Die Menschen verstecken sich nicht vor der Außenwelt. Wenn man an den Häusern vorbeigeht, sieht man in den Wohnungen, deren Eingänge offenstehen, Kinder spielen. Man sieht, wie Essen zubereitet wird und sich Menschen zum Schlafen hingelegt haben.
Ein Drittel der Abgeordneten sind Frauen
Immer wieder begegnen uns Frauen in schönen Gewändern. Aber wir sehen auch Frauen, die mit einem Tragegurt um die Stirn ganze Mais-Stauden oder Zweige mit Blättern für das Vieh auf dem Rücken nach Hause tragen.
Die Frauen in Nepal hatten über Jahrhunderte eine untergeordnete Stellung in der Gesellschaft. Doch das änderte sich mit dem von Maoisten geführten Aufstand in den Jahren 1996 bis 2006. Der Aufstand richtete sich gegen das von König Gyanendra geführte feudale System und das Kastenwesen. In der maoistischen People Liberation Army (PLA) waren damals 40 Prozent Frauen, schreibt der Politologe Bishnu Raj Upreti.
„Die Frauen haben durch unseren Aufstand gewonnen“, sagt Yubraj Chaulagain, Sprecher der Kommunistischen Partei, zuständig für internationale Beziehungen und früher Politoffizier der PLA, den ich in Kathmandu traf. Im Parlament liege der Frauenanteil jetzt bei 30 Prozent.
Zentrale der KP Nepals in Kathmandu, Foto: Ulrich Heyden
Zur Präsidentin von Nepal wurde 2015 Bidhya Devi Bhandari, die Vizevorsitzende der gemäßigten Kommunistischen Partei Nepals (Vereinigte Marxisten-Leninisten) gewählt. Dieser gemäßigte Flügel der kommunistischen Bewegung in Nepal vereinigte sich im Mai dieses Jahres mit dem maoistischen Flügel zur „Kommunistischen Partei Nepal“. Durch den Zusammenschluss verfügt die KP Nepals jetzt über 174 der 275 Sitze im Parlament und hat damit eine verfassungsmäßige Mehrheit.
Im März dieses Jahres wurde einer der beiden Vorsitzenden der KP Nepals, der ehemalige Vorsitzende der KPN (VML) Khadga Oli, zum Ministerpräsidenten gewählt. Die meisten Minister sind Mitglieder der Kommunistischen Partei.
Die USA hätten sich mit den „nach internationalen demokratischen Standards gewählten“ Maoisten abgefunden, sagt KP-Sprecher Chaulagain. Der 40-jährige machte an der Tribhuvan-Universität von Kathmandu seinen Master in Gesellschaftswissenschaften und ländlicher Entwicklung.
Ja, der Bürgerkrieg habe viele Opfer gekostet, sagt Chaulagain. Aber er sei unausweichlich gewesen. Der König habe sich bis zuletzt an seine Macht geklammert. Die Maoisten – zu denen er auch gehöre – seien Initiatoren einer Ent-Feudalisierung und Demokratisierung gewesen. Nun gehe es darum die sozialen Forderungen umzusetzen und die Wirtschaft entwickeln. Die neue Verfassung biete dafür gute Grundlagen, sagt Chaulagain, der auf mich wie ein Realpolitiker wirkt. Investoren aus dem Ausland seien sehr willkommen. Sie dürften dem Land aber keine Bedingungen stellen.
Chinesen bauen Wasserkraftwerk
Welche Entwicklungsdefizite es in Nepal noch gibt, erleben wir auf unserem Weg in den Norden des Landes. Auf der einfachen Schotterstraße, die aufgrund starker Regenfälle aufgeweicht ist, fahren wir in Richtung der Grenze zu China. Auf der schmalen Straße sind nicht nur Jeeps mit Touristen unterwegs, sondern auch viele Lastwagen. Die Straße, die sich zwischen der Gebirgswand und dem reißenden Fluss Trishuli entlangschlängelt, verlangt von den LKW-Fahrern höchste Geschicklichkeit. Wegen des Matsches neigen sich die LKWs oft gefährlich zur Seite. Und wegen des starken Gegenverkehrs ist auf der schmalen Straße durch die Berge oft nur Schritttempo möglich. Einmal müssen wir sogar das Fahrzeug wechseln, weil die Straße durch herabgestürztes Geröll gesperrt ist.
Kurz vor der chinesischen Grenze sehen wir, wie am Trishuli-Fluss ein Damm für ein Wasserkraftwerk gebaut wird. Wir sehen riesige, noch nicht eingebaute Turbinen und die Baracken der Arbeiter und Ingenieure aus China.
„Die Verbindungen zu China müssen so gut werden, wie zu Indien“, sagt Yubraj Chaulagain von der KP Nepal. Nepal ist ein Binnenland und hat nur zwei Nachbarn. Im Süden, Osten und Westen grenzt es an Indien, im Norden an China. Die Wirtschaftsbeziehungen und Verkehrswege zu Indien sind gut entwickelt, zu China bisher nur schwach. Als Anwältin Chinas in Nepal verstünden sich die Maoisten nicht, sagt der KP-Sprecher, die Beziehungen zur KP Chinas seien aber „sehr gut“.
Mit KP-Sprecher Chaulagain traf ich mich im Gebäude des KP-Zentralkomitees in Kathmandu. Die Korridore und Treppenaufgänge der Parteizentrale sind voller gemalter Bilder, die an den Bürgerkrieg erinnern. Auf einem der Bilder sieht man ein mit Blutstropfen besprenkeltes weißes Blatt auf dem „Verfassung“ steht. Dahinter sieht man auf einem Berg einen Kämpfer stehen, der die nepalesische und die rote Fahne hochhält. KP-Sprecher Chaulagain erzählt, das während des Bürgerkrieges 12.000 Menschen getötet wurden. Dazu kommen nochmal 5.000 Menschen die als „verschwunden“ gelten.
Die soziale Lage der Menschen habe sich verbessert, sagt Chaulagain. Die 40.000 Hektar Land, welche arme Bauern während der Revolution in den 1990er Jahren besetzten, seien jetzt Eigentum der Besetzer. Es gäbe zwar keine Barfußärzte mehr, wie während des Aufstandes, dafür gäbe es aber in einigen Orten neue Krankenhäuser.
Straße zur chinesischen Grenze, Foto: Ulrich Heyden
In der transzendentalen Zone
Auf dem Rückweg aus dem Himalaja können wir uns als Gäste des Frauenklosters Nagi Gumba erholen. Das Kloster liegt auf 1.800 Meter Höhe am Shivapuri-Berg. Morgens steigt Nebel aus dem mit dichtem Dschungel bewachsenen Berg auf und zieht langsam zum Gipfel hinauf. Der Wald beginnt zu leben. Die Zikaden machen einen unglaublichen Krach und übertönen sogar die Vögel.
Während der Andachten im Gebetshaus tönen die Klänge von Muschelhörnern und Pauken zu unserer schlichten Terrasse herüber. Die Musik bei den buddhistischen Andachten erinnert mich an den deutschen Komponisten Karlheinz Stockhausen. Auch er arbeitete mit Dissonanzen und überraschenden Einsätzen der Instrumente.
Von unserer Terrasse haben wir einen wunderbaren Blick auf Kathmandu. Während man in Kathmandu die Energie der pulsierenden Stadt spürt, lebt man hier oben am Berg in einer Art transzendentalen Zone.
Aus dem Dschungel kommen immer wieder Affen auf den Hof des Klosters. Sie pilgern auch gerne zum Küchenfenster, in der Hoffnung, dass sie dort etwas Essbares bekommen.
Die Kloster-Schülerinnen im Alter von acht bis 18 achtzehn Jahren habe alle kahlgeschorene Köpfe. In den Lernpausen spielen sie auf dem großen Hof Fangen. Die langen rost-roten Gewänder scheinen die Mädchen beim Spiel nicht zu stören.
Von Drill merkt man in dem Kloster nichts. Nur abends hört man, wie die Schülerinnen in einem großen Saal rhythmisch und in ziemlicher Lautstärke beten.
Die jungen Nonnen-Schülerinnen lernen im Kloster nicht nur Beten und buddhistische Philosophie, sondern bekommen auch normalen Schulunterricht. Für Eltern, welche für den Schulbesuch ihrer Kinder in Kathmandu viel Geld bezahlen müssen, ist das Kloster eine Alternative.
Was mir in Nepal am meisten gefiel, war, dass die Menschen sich uns gegenüber sehr freundlich und entspannt verhalten haben. Wir verkehrten miteinander auf Augenhöhe. Es gab keine Unterwürfigkeit. Und was mir noch in Erinnerung bleibt:
Trotz des nicht einfachen Lebens in Nepal spürte ich eine ansteckende Ruhe und Ausgeglichenheit.
Es scheint mir fast rätselhaft, dass es in diesem Land vor noch nicht allzu langer Zeit eine Revolution gab.
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