„In unserer Vorbereitungsgruppe gab es eine Art Lähmung“, gestand Christoph Bialluch in seiner Eröffnungsrede vor den rund 160 Tagungsteilnehmern. Der Berliner Psychologe arbeitet im Vorstand der NGfP und organisierte den diesjährigen Kongress in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung. „Wir müssen uns gegen Antisemitismusvorwürfe verteidigen, anstatt uns auf die Organisation einer schönen Veranstaltung konzentrieren zu können.“
In einem Offenen Brief hatten zuvor knapp 30 vorgeblich kritische Psychologen der NGfP ein „Abgleiten in den verschwörungsideologischen Sumpf der Querfront“ sowie Antiamerikanismus und „strukturellen Antisemitismus“ vorgeworfen (1).
Den Brief nahmen sich die Organisatoren sehr zu Herzen, was in den Eröffnungsreden deutlich wurde. Auch bei allen Teilnehmern, die sich zu Wort meldeten, stieß die Attacke auf Empörung. Bialluch betonte, dass die Vorwürfe völlig haltlos sind und es auf den NGfP-Kongressen nicht die geringsten Spuren von Antisemitismus gibt. Dies könne in den Kongressbänden nachgelesen werden. Er arbeitete selbst zwei Jahre in einer Beratungsstelle zur Deradikalisierung von Neonazis. Der Angriff habe ihn deshalb auch persönlich schwer getroffen, sagte Bialluch. „Die destruktive Form der Vorwürfe hat mich abgeschreckt.“
Vorwürfe wegen Auftritt eines linken israelischen Regierungskritikers
Der Offene Brief zielte vor allem auf den Vorstandsvorsitzenden Klaus-Jürgen Bruder. Der Psychoanalytiker und Psychologie-Professor von der Freien Universität Berlin ist auch im Rubikon-Beirat tätig. Unter seiner Leitung habe die NGfP einen betrüblichen Weg eingeschlagen, so ein Vorwurf des Briefes. In einem abendlichen Plenum befasste sich der Kongress dann eigens mit dem Machwerk, das vor allem aus Kontaktschuldvorwürfen besteht. Bruder hat nämlich schon mal Ken Jebsen und Jens Wernicke Interviews gegeben. Der Rubikon und die Nachdenkseiten werden in dem Schreiben ebenfalls angegriffen.
Den Antisemitismusvorwurf wiederum leiten die Verleumder aus einem Auftritt des israelischen Soziologen und Historikers Moshe Zuckermann beim NGfP-Jahreskongress 2015 (Thema „Krieg um die Köpfe“) ab. Bruder habe Zuckermann „sinngemäß“ mit den Worten eingeführt, „es sei so schwierig als Deutscher Israel zu kritisieren, weshalb man froh sei, nun einen Israeli zu haben, der dies für einen erledige“, heißt es im Brief.
Diese „sinngemäße“ Zusammenfassung ist absolut sinnentstellend, erläuterte Bruder. Zuckermann sei bei der Tagung als Experte für die psychologische Mobilisierung zum Krieg eingeladen gewesen. Bruder stellte ihn vor, als jemanden, „der den Mut hat, seine eigene Regierung zu kritisieren“. Daraus den Vorwurf zu konstruieren, Zuckermann nehme dies mit seinem Auftritt verschämten deutschen Judenfeinden ab, ist gezielte Boshaftigkeit.
Der offene Brief strotzt aber nicht nur vor substanzlosen Vorwürfen, sondern auch vor zahlreichen sachlichen Fehlern (2). Trotzdem unterschrieben ihn mehr als zwei Dutzend Psychologen. „Es ist erstaunlich, dass es Kollegen gibt, die so etwas unterschreiben, das nachprüfbar falsch ist“, wunderte sich Bruder.
Breite Solidarität
Eine Spaltung der NGfP durch die Antisemitismusvorwürfe, wie es ein Autor des Neuen Deutschland vermutete, war im abendlichen Plenum allerdings nicht auszumachen. Im Gegenteil: Sämtliche Wortmeldungen der Teilnehmer unterstützten die Position des Vorstandes.
Ein Mann im Publikum nannte den Brief „eine sehr feige Form des Vorgehens“. Doch dieses Vorgehen gegen vermeintliche Abweichler sei leider typisch innerhalb der Linken. Eine Zuhörerin, die auch bei der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW tätig ist, sagte, die Organisation hätte mit den gleichen Vorwürfen zu kämpfen gehabt, als sie Zuckermann und den norwegischen Konfliktforscher Johan Galtung zu einer IPPNW-Veranstaltung als Referenten einlud. „Diese Angriffe werden bewusst geführt, um kritische Organisationen zu schwächen.“
Ein weiterer Zuhörer, der sich an Friedensdemonstrationen beteiligt hatte, erinnerte daran, dass die großen Medien alle Teilnehmer solcher Demos pauschal zu Putinfreunden, Wirrköpfen und Verschwörungstheoretikern erklärten. „Das ist eine Technik, um die Friedensbewegung zu diskreditieren.“ Eine Frau ergänzte: Bestimmte Gruppen kalkulieren eiskalt, wie sie linke Gruppen kaputtmachen können. Ein wirksames Mittel dazu sei der Antisemitismusvorwurf.
Eine andere Teilnehmerin erinnerte der Vorfall an die Kampagne des Berliner Kultursenators Klaus Lederer gegen Ken Jebsen. Diese Debatten schaden der Friedensbewegung, sagte sie weiter. „Hätten wir sowas in den 80er Jahren gemacht, hätten wir nur mit 120 Mann im Bonner Hofgarten gestanden.“
Ein Psychologe, der lange in England gearbeitet hat, ergänzte, dass er solche Kampagnen auch von dort kenne. Ein Kollege, der sich in einer medizinischen Fachzeitschrift gegen die Folterung von Palästinensern einsetzte, sei von dortigen Freunden Israels massiv angegriffen worden, obwohl die von ihm genannten Vorwürfe alle korrekt gewesen seien. „Wir Linke sind Anti-Rassisten und Anti-Imperialisten. Wir sollten uns nicht von konstruierten Vorwürfen beeindrucken lassen.“
Antisemitismusvorwurf ist zweckmäßig für die Herrschaft
Deutlich wurde, dass die Teilnehmer den offenen Brief mehrheitlich als moderne Form der Vernichtung kritischer und friedenspolitischer Positionen einordneten. Klaus-Jürgen Bruder sprach in seiner Eröffnungsrede von einer „endemischen Ausbreitung dieser Propaganda mit schmutzigen Waffen“.
Die NGfP habe nie die Politik Israels kritisiert, es müsse also um etwas anderes gehen, nämlich um die gesellschaftskritische Position der Organisation insgesamt. Kritisches Bewusstsein und kritische Diskussionen unter Psychologen und Sozialwissenschaftlern sollten verhindert werden. Die Verleumdung als Antiamerikaner oder Verschwörungstheoretiker funktioniere genauso.
Festzuhalten bleibt: Auch wenn die Vorwürfe lediglich einem einzigen offenen Brief entspringen und nur wie ein Konflikt zwischen linken Psychologenfraktionen wirken, so sind sie doch nicht unwichtig. Bei jeder günstigen Gelegenheit können die Vorwürfe von interessierter Seite über den Medien-Mainstream gegen die NGfP reproduziert und instrumentalisiert werden. Denn wie bereits die Debatte um Ken Jebsen deutlich zeigte, geht es den Verleumdern nicht um inhaltliche Belege, sondern um Wiederholung, Verbreitung und Verfestigung ihrer üblen Nachrede. Es bleibt eben immer etwas Dreck hängen.
„Paralyse der Kritik“
Doch tatsächlich konnte die Attacke im Vorfeld den Kongress nur kurz von seinem eigentlichen Thema abbringen: Der Frage nach der Opposition heute. Selbstverständlich gibt es oppositionelle und kritische Kräfte in der heutigen Gesellschaft, betonten immer wieder Kongressteilnehmer – doch die Kritiker sind gelähmt.
Die linke Opposition zerfleische sich zum Teil selbst; aber der Neoliberalismus (=Ultrakapitalismus) habe der Linken auch die Worte genommen. Die Begriffe der Kritik wurden ihres Inhalts entleert und im kapitalistischen Sinne umgedreht. „Autonomie“, „Gleichberechtigung“ oder „Reform“ lassen grüßen.
Zudem wandere Opposition immer mehr von links nach rechts. Doch auch diese Kritik ist gelähmt, da sich gerade in nationalistischen und rechtskonservativen Parteien keine grundlegende Kritik am Neoliberalismus finde. Mehr noch, die lautstarke Kritik von rechts ermögliche es ausgerechnet den neoliberalen Eliten, sich als Garant von Liberalität und Demokratie darzustellen. Alternativen jenseits des Neoliberalismus scheint es nicht zu geben.
Es sei wieder eine bleierne Zeit angebrochen wie in der BRD der 1960er Jahre. Genau damals sprach Marcuse von der Gesellschaft ohne Opposition. Und in dieser Phase entwickelte sich auch die 68er-Bewegung, zu einer ihrer Unterstützer Marcuse wurde. Die Revolte war denn auch auf dem Kongress wichtiges Thema.
Persönlicher Mut ist für Oppositionelle unerlässlich
Der Historiker und Dokumentarfilmer Hannes Heer sprach über die Studentenbewegung (1965 bis 1969), deren Teil er war. Damals habe ein „ungeheurer Generationsbruch“ (Hannah Arendt) zwischen jungen Menschen und ihrer Vätergeneration geherrscht. Von Letzterer waren alle Angehörigen irgendwie in die Nazizeit verstrickt. Die SPD verfolgte aus wahltaktischen Gründen die Versöhnung mit den Altnazis, sagt Heer. Doch der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), den Heer mitbegründete, kämpfte dagegen an.
Diese Opposition wurde von den Herrschenden mit harten Mitteln bekämpft. Die politische Polizei beschlagnahmte SDS-Mitgliederlisten, was zu Uni-Ausschlüssen führte. Der Springer-Verlag und der Westberliner Oberbürgermeister riefen direkt oder indirekt zur Lynchjustiz gegen 68er-Studenten auf. Dies mündete unter anderem in Attentate auf Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke. „Es braucht Mut zu Widerstand in jeder Situation“, sagte Heer. „Jeder nimmt das Risiko für sich selbst in Kauf. Persönlicher Mut ist unerlässlich.“
Ökonomische Prekarität erschwert Opposition
Ein weiterer Beteiligter der Studentenproteste war der Arzt und Historiker Karl-Heinz Roth. „Unser Aufbruch war auch ein Aufbruch gegen die Zombie-Generation unserer Eltern, der NS-Generation, sagte er in seinem Tagungsvortrag.
Allerdings scheinen die Utopien dieser Jugendrevolte heute mehr oder weniger verpufft zu sein. Mehr noch, ohne es zu wollen, habe die Bewegung zur Reform des Kapitalismus beigetragen, sagte er. Führungspositionen und Ausbeutung gibt es immer noch. Dafür können heute auch Frauen diese Führungspositionen einnehmen, Manager sind umweltbewusst und Ausbeutung funktioniert ohne Hierarchien. Parolen zur sozialen Befreiung sind in ihr Gegenteil umgeschlagen. Auch auf eine positive Wirkung neuer Technologien hoffte man damals, so auch Marcuse. Doch dienten diese Technologien heute der Ausbeutung, der Kontrolle und der Entsolidarisierung („Selfie-Trips“).
Die Arbeiterparteien hätten die Arbeiterklassen seit den 1980er Jahren verlassen, konstatierte Roth. Diese Parteien haben sich postmodern-libertär gewandelt und wollen die Niedriglohnpolitik nicht mehr bekämpfen, sondern bestenfalls noch moderieren. „Die soziale Frage liegt heute in der Hand der neuen Rechten. Das ist eine bittere Erkenntnis.“ Der Protest wäre sehr wichtig, denn die deutsche Machtelite führe heute auf wirtschaftlichem Gebiet einen ähnlichen Zerstörungsprozess Europas durch, wie die Nazis vor 75 Jahren.
Die alten 68er könnten ihre Erfahrungen zwar bilanzieren, aber den jungen Generationen für deren Protest keine Ratschläge erteilen, so Roth. Denn die Lebensrealitäten von heute seien mit den damaligen nicht vergleichbar. Damals gab es vereinzelte Berufsverbote – heute hingegen seien faktisch alle Berufe prekär. „Jeder wird in die Tretmühle geschickt.“ Roth habe selbst als „bekannte linke Socke“ nie Angst haben müssen, eine Stelle als Assistenzarzt zu finden, sagte er. Für heutige Jugendliche sei diese Sicherheit undenkbar.
Eine Professorin aus dem Plenum bestätigte ihn in der anschließenden Diskussion: Sie selbst habe nie Angst haben müssen, erwerbslos zu werden, aber ihre Enkelgeneration wachse mit dieser Angst auf. Das diszipliniert. Sie lehre an der Uni heute in Modulen, erklärte die Frau. „Die Studenten sind total verwirrt, wenn es mal ein Seminar gibt, in dem sie machen können, was sie wollen.“
Die Jugend – zu angepasst und politisch passiv?
Doch sind diese Erfahrungen zur Widerständigkeit heutiger Jugendlicher tatsächlich allgemeingültig? Ja, sagt die Flensburger Psychologie-Professorin Andrea Kleeberg-Niepage. In ihrem Vortrag erläuterte sie die Ergebnisse einer Jugendstudie aus Schleswig-Holstein. 200 Kinder und Jugendliche sollten hierfür aufschreiben, wie sie sich ihr Leben als Erwachsene vorstellten. Die Studie sei nicht repräsentativ, bilde aber die Durchschnittsjugend in dem nördlichen Bundesland gut ab.
Jugendliche leben den Texten zufolge heute extrem angepasst. Die befragten Gymnasiasten bereiteten sich aufs Studium vor, planten ein Auslandsjahr und wünschten sich für die spätere Zeit ein Haus auf dem Land und berufliche Führungspositionen. Die Schüler eines Berufsbildungszentrums hofften in ihren Essays eher auf grundsätzliche Dinge wie Wohnung, Arbeitsplatz und "frisches Essen“.
Widerständige Aufsätze seien so gut wie gar nicht zu finden gewesen, so die Forscherin. In keinem der Texte kamen friedenspolitische oder ökologische Ängste zur Sprache. „Ängste sind in den Essays im Großen und Ganzen individueller Natur“, erklärte Kleeberg-Niepage. Der Neoliberalismus vernebelt die gesellschaftlichen Bedingungen von Ausbeutung und Armut. Wenn immer wieder propagiert wird: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ – verlagert sich Kritik ins Innere und politische Forderungen entstehen nicht.
Dementsprechend war ihr Vortrag mit dem Zitat eines 18-Jährigen überschrieben: „Ich finde persönlich, dass man sich über Merkel überhaupt nicht beschweren kann.“
Es sei bei den Jugendlichen kein Aufstand sichtbar, sondern nur ein Sich-Einrichten in milieu-spezifischen Handlungsoptionen, sagte die Professorin. Die Schule fördert passives Lernen, das letztlich vor allem aus Angst vor schlechten Noten erfolge, kritisierte sie. Dies sei letztlich der Modus für das weitere Leben.
Aus dem Publikum gab es auch Kritik an der Studie. Die Forschungsfrage sei zu unspezifisch, die Schüler hätten unter Umständen die angepassten Antworten abgeliefert, weil sie wussten, dass diese von anderen beurteilt werden. Zudem fehlten Jugendliche aus Großstädten, wo es auch ganz andere Lebensentwürfe gebe.
Junge Leute weit entfernt von politischen Netzwerken
Doch auch eine weitere Referentin berichtete von ähnlichen Beobachtungen. Die Dozentin Regina Girod sagte in ihrem Panel, nur ein einziger ihrer vielen hundert jungen Erzieher habe sich mal als Marxist bezeichnet. Girod lehrt in einer Berliner Berufsfachschule für sozialpädagogische und sozialpflegerische Berufe.
Selbst junge Politikwissenschaftler haben noch nie ein Wort von Marx gelesen, kritisierte sie. Ihre Schüler seien „unendlich weit“ von politischer Netzwerkbildung entfernt. Alle nutzen soziale Medien, aber eben nicht politisch, sondern nur für private Dinge. „Vielen fehlt eine gesellschaftliche Utopie, eine Idee, wie es anders laufen könnte.“ Trotzdem gebe es auch in jeder ihrer Berufsschulklassen mindestens einen, der sein Leben nicht nach neoliberalen Prinzipien organisiert.
G20 zeigte, wie gefährlich Opposition sein kann
Dass es aber auch unter jungen Leuten organisierten Widerstand gegen die Herrschenden gibt, machten nicht zuletzt die Proteste gegen den G-20-Gipfel im vergangenen Sommer deutlich. Die Soziologin Elke Steven sprach in ihrem Vortrag über die gezielte Eskalation der Proteste in Hamburg durch die Polizei. Sie machte damit auch deutlich, wie körperlich gefährlich oppositionelles Verhalten in Deutschland werden kann.
Die Massenmedien verbreiteten zwar ein Bild massiver Angriffe durch Linksextremisten, denen sich die Polizei nur mit schweren Gewaltmitteln erwehren konnte. Dies sei jedoch eine extreme Übertreibung, so Steven. Die Demonstrationen gefährdeten zu keiner Zeit staatliche Grundfesten. Doch besonders bei der mittlerweile berüchtigten „Welcome to Hell“-Demo hätten die Protestierenden schnell gemerkt, dass die Polizei nicht da war, um Grundrechte zu schützen.
Polizei agiert wie Armee: Demonstranten sind Feinde
Es gebe erschreckende Videos, die Polizeigewalt dokumentierten, sagte Steven. Die Polizei agierte teilweise nach rein militärischen Gesichtspunkten, sie kesselte Demonstranten trotz richterlicher Untersagung ein, sie zerschlug genehmigte Camps (wie feindliche Organisationsstrukturen) und sie setzte sich willkürlich über das Versammlungsrecht hinweg. Prinzipiell standen alle Demonstranten unter Verdacht.
Die Polizei habe mehr als 300 Pressebeauftragte während des Gipfels eingesetzt, die den Auftrag hatten, die Narrative der Polizei in der medialen Berichterstattung durchzusetzen. Über Twitter verbreiteten die Beamten zudem Fake News: Da wurden etwa aus Feuerwerkskörpern Molotow-Cocktails oder aus wenigen verletzten Polizisten mehrere hundert.
In Stevens Augen war der G-20-Polizeieinsatz eine „Großübung in städtischer Aufstandsbekämpfung“. Die Polizei übernehme in Ausbildung und Ausrüstung immer stärker eine militärische Perspektive, kritisierte sie. Allein die Hamburger Polizei habe im vergangenen Jahr 130 Sturmgewehre angeschafft. Es gebe keine Gespräche mehr mit Demonstranten, sondern nur noch Befehle. Festgenommene würden wie gefangene Feinde behandelt. Dies alles deutet an, wie ernst es in Zukunft werden kann, wenn der Neoliberalismus doch einmal größere oppositionelle Gegenbewegungen hervorruft.
Unsere Demokratie ist ausgehöhlt
Der NGfP-Kongress, dessen Teilnehmerfeld sich ungefähr zu je einem Drittel aus Studenten, praktizierende Psychoanalytikern und Doktoranden zusammensetzte, hatte zahlreiche weitere Vorträge und rund zwei Dutzend Panel-Veranstaltungen zu bieten. Ob mit Filmen, Arbeitsgruppen oder Diskussionen – alle befassten sich aus verschiedenen Perspektiven mit Marcuses Diagnose der westlichen Industriegesellschaft als „Gesellschaft ohne Opposition“.
In einer Reihe ging es speziell um den Neoliberalismus. Der Psychologe Georg Rammer sagte in seinem Vortrag, obwohl die Krisen sich im Neoliberalismus permanent zuspitzen, hat diese Ideologie einen beispiellosen Siegeszug angetreten. Und anstatt Kontrolle über die Reichen auszuüben, vergrößerten Politiker die Macht der Wirtschaft immer weiter.
Die Bande zwischen Politik und Neoliberalismus, also den Banken, der Wirtschaft und den Superreichen, sei so stark, weil das neoliberale Menschenbild auch der Politik nütze. Die parlamentarische Demokratie sei entkernt und funktioniere nur noch formal, kritisierte Rammer. „Es ist ein Illusion anzunehmen, dass die Regierung unsere Argumente ernstnimmt.“ Die ausgehöhlte liberale Demokratie habe sich zu einer autoritären Herrschaftsform und Gefahr für die Welt entwickelt.
Neoliberalismus erstickt Opposition schon im Menschen
Wir haben es heute mit einer Politik gegen die große Masse der Bevölkerung zu tun, betonte der Psychologe. Angela Merkel selbst sagte 2010 bei einer nicht-öffentlichen Rede im Allensbach-Institut, von der Wiederbewaffnung bis zur Einführung des Euro wurden zahlreiche Entscheidungen gegen die Mehrheit der Bevölkerung getroffen.
Dass die ärmere Hälfte der Bevölkerung keinen inhaltlichen Einfluss auf die Politik habe, sei sogar empirisch in einer Studie nachgewiesen, aus dem Armutsbericht der Bundesregierung aber wieder gestrichen worden. Diese Ohnmacht und die inzwischen tiefe seelische Verankerung neoliberaler Prinzipien wie der Selbstoptimierung seien es, die die Opposition schon in den Menschen ersticken. Der Staat wisse auch, dass es bei Fortführung dieser Politik zu Unruhen kommen muss, deshalb werde nach innen und außen aufgerüstet.
Es scheint also, als träfe Marcuses These für die heutige Zeit tatsächlich zu. Eine gelähmte Opposition ist keine Opposition. Aber immerhin tagte dieser Kongress und brachte etwa die Thesen Karl-Heinz Roths hervor. Er warb dafür, die „Selfie-Trips“ (also die Individualisierung im Digitalen) zu beenden und zu einer sozialen Individualität zurückzukehren. Zudem müssten die verbliebenen Linken zu den arbeitenden und enteigneten Massen zurückkehren – nicht belehrend, sondern auf Augenhöhe. Und der Widerstand sollte von Beginn an global vernetzt sein. Die neue Opposition müsse versuchen die Selbstzerstörung des europäischen Integrationsprozesses aufzuhalten: föderativ, basisdemokratisch und von unten.
Quellen und Anmerkungen:
(1) In dem Brief wird auch der Rubikon angegriffen. Die Autoren bezeichnen die Website genau wie die Nachdenkseiten als „obskurantistisches Internetportal“, das Verschwörungstheorien verbreitet. Unter Obskurantismus versteht das Fremdwörterbuch ein „bewusstes Bestreben, Menschen im Zustand der Unwissenheit zu halten“ – also ziemlich genau das Gegenteil dessen, was Rubikon und Nachdenkseiten tatsächlich tun. Einen Beleg für ihre Vorwürfe bleiben die Verfasser denn auch erwartungsgemäß schuldig. So funktioniert das Etikettenkleben. Auch Rubikon-Gründer Jens Wernicke wird angegriffen. Er sei nur ein Journalist in Anführungszeichen und habe sich als Stichwortgeber für den „9/11-Truther“ Daniele Ganser (Rubikon-Beirat) hergegeben. Auch hier unterlassen die Autoren jegliche inhaltliche Erklärung zu ihren Verleumdungen.
(2) Obwohl der Brief relativ kurz ist, strotzt er vor orthographischen und inhaltlichen Fehlern. So wird Jens Wernickes Name mehrfach falschgeschrieben an anderer Stelle wird das Online-Medium telepolis (www.heise.de/tp) zu teleopolis.com umbenannt. Sachlich falsch sind etwa die Behauptungen, dass der NGfP-Vorsitzende Klaus-Jürgen Bruder einen Artikel in Jens Wernickes Sammelband „Lügen die Medien?“ veröffentlicht habe. Tatsächlich war es ein Interview, das Wernicke mit Bruder geführt hatte. Dies deutet darauf, dass die Verleumder das Buch, in dem ausschließlich Interviews versammelt sind, nie in der Hand hatten. Des Weiteren wird von den Autoren fälschlicherweise behauptet, dass Ken Jebsen (ja, auch der kommt vor) beim RBB entlassen wurde, weil er sich in einem Mailverkehr mit Henryk M. Broder über den Holocaust äußerte. Weder führte Jebsen den Mailverkehr mit Broder, sondern mit einem Hörer, der die Mails später an Broder weiterleitete, noch trennte sich der RBB von Jebsen wegen der Antisemitismusvorwürfe. Diese verneinte der Sender sogar ausdrücklich. Stattdessen wurden Jebsen vom RBB wegen „Verstößen gegen journalistische Standrads“ und „der Nichteinhaltung verbindlicher Absprachen“ entlassen.
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