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Menschenrechte und Völkerrecht

Menschenrechte und Völkerrecht

Das Humanitätsideal dient zur Legitimation von Krieg und Völkerrechtsbruch. Exklusivabdruck aus „Menschenrechte“.

Menschenrechte sind in jüngster Zeit zu einem der zentralen Begriffe und Standardlegitimationen in der Außenpolitik geworden. Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte man weder in dem voluminösen Werk von Henry Kissinger „Diplomacy“ (1) noch in den tonangebenden Analysen zu Frieden, Krieg und dem System der internationalen Beziehungen, geschweige denn in den außenpolitischen Programmen der CDU/CSU, SPD und von Bündnis 90/Die Grünen ein Wort zur Bedeutung der Menschenrechte entdecken (2). Heute gibt es kaum eine politische Konfrontation und keine militärische Intervention, die nicht die Menschenrechte als Basis der Argumentation und Legitimation ihres Eingriffes heranziehen.

Woran liegt die Renaissance eines Rechts, welches ein selbstverständliches und deshalb kaum erwähnenswertes Element eines jeden demokratischen Handelns sein sollte? Die Vermutung liegt nahe, dass es nicht gut um das Recht bestellt ist, wenn es derart immer wieder in den Vordergrund gerückt wird.

Es gibt einen oft vernachlässigten, aber nicht unwesentlichen Unterschied zwischen dem Recht der Menschen und dem Recht der Völker.

Richtet sich ersteres vornehmlich gegen den eigenen Staat, soll es also im Wesentlichen die Freiheiten und Pflichten im innerstaatlichen Bereich bestimmen, so soll das Völkerrecht die internationalen Beziehungen der Staaten zueinander regeln. Der Begriff „Völkerrecht“ ist also irreführend. Zutreffender ist der im Englischen und Französischen übliche Begriff „Internationales öffentliches Recht“.

Es handelt sich vornehmlich um ein Recht der Staaten. Die Völker sind erst in ihrem Kampf um Dekolonisation auf dem Weg zu einem eigenen souveränen Staat als Rechtssubjekte anerkannt worden. Doch verbinden sich Menschen- und Völkerrecht wieder in ihrem Entstehungsprozess, denn auch die Menschenrechte wurden, anders als die von ihnen abgeleiteten staatlichen Grundrechte, vor allem nach 1945 in völkerrechtlichen Verträgen formuliert. Dieses wird am sinnfälligsten in dem Recht auf Selbstbestimmung, welches in den beiden Pakten über bürgerliche und politische sowie kulturelle und soziale Menschenrechte von 1966 jeweils in Artikel 1 den Völkern als kollektives Menschenrecht zuerkannt wird.

Die Aufnahme eines kollektiven Rechts in die beiden Pakte individueller Rechte ist insofern folgerichtig, als auch das Recht auf Selbstbestimmung den Völkern Freiheitsrechte gegenüber rassistischer und kolonialistischer Unterdrückung des Staates gibt.

Vom Verfassungs- zum Völkerrecht

Die historisch frühesten Dokumente menschenrechtlicher Normen waren Freiheits- und Schutzforderungen gegen die eigene Herrschaft: Sei es die Magna Charta Libertatum (1215) gegen die Krone, die Petition of Rights (1628) gegen Karl I. zum Schutz der Person und des Eigentums, die Habeas Corpus Akte (1679) zum Schutz vor willkürlichen Verhaftungen oder die Bill of Rights (1689), die die „angemaßte Macht“ der „königlichen Autorität“ gegenüber dem Parlament einschränkte (3). Sie alle hatten verfassungs-, nicht völkerrechtlichen Charakter.

Auch die ersten echten Kodifikationen der modernen Menschenrechtsgeschichte waren verfassungsrechtliche Dokumente des Unabhängigkeits- und Freiheitswunsches gegen koloniale Fremdherrschaft (Declaration of Rights of Virginia vom 12. Juni 1776, Declaration of Independence vom 4. Juli 1776) oder gegen feudal-absolutistischen Despotismus (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen vom 26. August 1789 und 3. September 1791 sowie 24. Juni 1793). Es waren Dokumente der republikanischen Staatsgründung aus der Idee der Menschenrechte.

Aber schon frühzeitig kommt die völkerrechtliche Dimension des menschenrechtlichen Schutzes zum Tragen, als es um die Abschaffung der Sklaverei und das Verbot des Sklavenhandels geht. In dem berühmten Fall der Meuterei auf der Amistad vor dem Supreme Court der USA in den Jahren 1840/41 ging es einerseits um das Recht auf Freiheit von Sklaverei, andererseits um die Durchsetzung dieses Rechts gegenüber den Ansprüchen eines anderen Staates, das heißt die universelle Geltung des Menschenrechts. Vor der kubanischen Küste kam es 1839 auf dem Schiff Amistad zum Aufstand von Sklaven, die kurz zuvor von Sierra Leone/Afrika nach Havanna gebracht und dort verkauft worden waren. Sie töteten den Kapitän und Schiffskoch und wollten zurück in ihre Heimat segeln.

Doch der spanischen Segelmannschaft, auf die die Afrikaner angewiesen waren, gelang es, das Schiff in nordamerikanische Küstengewässer zu steuern, wo es von der US-Küstenwache aufgebracht wurde. Nun beanspruchten die Spanier als „Eigentümer“ das Schiff und die Waren, worunter sie auch die Sklavenfracht der Afrikaner verstanden. Das forderte auf der anderen Seite die „Abolitionisten“ heraus, die seit Jahren in den USA für die Abschaffung der Sklaverei und des Sklavenhandels fochten. Sie mobilisierten die Öffentlichkeit und konnten für den Fall erhebliche Aufmerksamkeit erringen.

Der Supreme Court stand vor der Frage, ob die Afrikaner schlicht als Ware zu gelten haben und ob ihr Aufstand eventuell gerechtfertigt war. Denn wenn ihr Aufstand als Akt der Piraterie und Räuberei anzusehen war, mussten sie nach dem amerikanisch-spanischen Vertrag von 1795 an Spanien zurückgegeben werden. Der Supreme Court folgte Richter Joseph Story und entschied mit acht zu zwei Stimmen am 9. März 1841 „nach den ewigen Prinzipien der Gerechtigkeit und des internationalen Rechts“, dass die Afrikaner freie Menschen und keine Ware seien (4).

Insbesondere sei sowohl nach US-amerikanischem wie auch nach spanischem Recht und internationalen Verträgen die Begründung von Eigentum an Sklaven nicht mehr möglich. Die „Negroes“ seien also nicht Sklaven, sondern illegal gekidnappte und an Bord der Amistad festgehaltene Afrikaner, die ihr Recht auf Freiheit legal zu erkämpfen versuchten und daher keine Piraten seien.

Die Bedeutung dieser Entscheidung liegt nicht nur in der Anerkennung des Freiheitsrechts, sondern auch in der Durchsetzung seiner internationalen Gültigkeit über die Grenzen des eigenen Staates hinaus und der Kompetenz des Gerichts, es auch gegen einen fremden Staat durchzusetzen. Der Kampf um das Menschenrecht der Freiheit von Sklaverei war nur in seinen völkerrechtlichen Dimensionen zu gewinnen. Heute ist das Verbot der Sklaverei in allen universellen und regionalen Menschenrechtsverträgen enthalten.

Es gehört zum ius cogens des Völkerrechts, welches alle Staaten zwingend verpflichtet. Dennoch beobachten wir neue moderne Formen der Sklaverei in den Arbeitsverhältnissen — ob Kinderarbeit, Schuldknechtschaft, Zwangsarbeit und Zwangsprostitution et cetera; Menschenrechtsorganisationen rechnen mit bis zu 27 Millionen Menschen in moderner Sklaverei. Der Einklang von Völkerrecht und Menschenrechten scheint erschlafft.

Dies wird besonders deutlich, wenn man den Artikel „Menschenrechte“ liest, den Gustav von Struve, radikaldemokratischer Revolutionär, geprägt von den Schriften Jean-Jacques Rousseaus, drei Jahre nach der Entscheidung des US Supreme Courts im „Staats-Lexikon oder Encyklopaedie der Staatswissenschaften“ von Carl von Rotteck und Carl Welcker verfasste. Er beginnt bei der Sklaverei, die weder von den Griechen, Römern oder Juden in Zweifel gezogen wurde (5), und sah in der Lehre Christi die ersten Ansätze zur Anerkennung ewiger und unveräußerlicher Menschenrechte auf der Basis der Gleichberechtigung aller Menschen.

Allerdings wurde der „Urgedanke reiner Menschlichkeit“ durch den „Gedanken der Kirche“, der schon 313 u. Z. mit dem Mailänder Toleranzedikt Kaiser Konstantins das Christentum auf den Weg zur Staatskirche brachte, verdrängt. So bedurfte es erst der Freiheitskämpfe der Völker, die bereits mit der Loslösung der Schweizer Eidgenossen vom Deutschen Reich im Krieg gegen Kaiser Maximilian I. und dem Frieden zu Basel 1499 begannen, und der literarischen Kraft der bedeutendsten Denker des 16. bis 18. Jahrhunderts in England und Frankreich (6), um die praktischen und theoretischen Grundlagen der Menschenrechte zu legen. So etwa Thomas Hobbes mit seinem „Leviathan“ (1651), John Locke mit „Two Treatises of Government“ (1689), Jean-Jacques Rousseau mit „Du contrat social“ (1762), Thomas Paine mit „Rights of Man“ (1791/92), um nur die Bedeutendsten zu nennen.

Die beiden revolutionären Verfassungen Frankreichs von 1791 und 1793 enthalten bereits alle Freiheits- und Gleichheitsrechte, die auch heute den Kern der menschenrechtlichen Garantien in der Universellen Menschenrechtsdeklaration vom 10. Dezember 1948 und den beiden Internationalen Pakten über zivile und politische sowie über ökonomische, soziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 1966 bilden. Nach Artikel 2 der Verfassung von 1791 sind diese Rechte „die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit, der Widerstand gegen Unterdrückung“, die Artikel 2 der Verfassung von 1793 ausdrücklich um das Recht der Gleichheit ergänzt.

Struve, der sich im April 1848 an dem bewaffneten Aufstand in Baden beteiligte und nach dessen Scheitern in die USA emigrierte, wo er sich auf Seiten der Union am Sezessionskrieg 1861/62 beteiligte (7), sah die Menschenrechte durchaus materialistisch: „Die erste Voraussetzung menschlicher Kräfte ist das physische Leben und folgeweise alles dasjenige, was zur Erhaltung desselben notwendig ist (…) (Das erfordert) gesunde Nahrung, eine schützende Wohnung und hinreichende Kleidung.

Der Mensch hat also das ewige und unveräußerliche Recht, von dem Staate, dessen Mitglied er ist, zu verlangen, sich so zu organisieren, dass jeder Mensch ohne Unterschied des Standes, des Alters und des Geschlechts diese Voraussetzungen des Lebens habe.

Solange die ärmeren Klassen des Volkes Not leiden an den unvermeidlichen Bedürfnissen des Lebens, haben sie daher ein vollgültiges Recht, zu verlangen, dass die reicheren Klassen ihnen von ihrem Überfluss so viel abgeben, als zu diesem Behufe erforderlich ist“, schreibt Struve ein Jahr vor der Publikation des „Kommunistischen Manifests“.

Er fordert eine „gänzliche Umwandlung unseres Steuersystems“ mit radikaler Entlastung des „besitzlosen Arbeitsstandes“ und progressiv steigender Einkommens- und Erbschaftssteuer derjenigen, „welche mehr haben oder erwerben, als sie zu ihrem Lebensunterhalte bedürfen, und zwar in demselben Maße höher, als ihr Überfluss größer ist“ (8).

Er hat erkannt, dass die vollkommene Verwirklichung der Menschenrechte nur mit der radikalen Umgestaltung der materiellen Verhältnisse zu erreichen ist. Er war damit nicht weit von Karl Marx entfernt, der die strukturelle wechselseitige Abhängigkeit von kapitalistischer Produktion/Zirkulation und Recht, vor allem der Menschenrechte, aufgezeigt (9) und nach der bürgerlichen die soziale Revolution gefordert hatte.



Quellen und Anmerkungen:

Die weiterführenden Anmerkungen und Quellenangaben zu diesem Text finden Sie im Buch:

(1) Kissinger, 1994
(2) Paech, 1998
(3) Sandkühler, 2013, Seite 126ff
(4) United States, 1841; Menzel, 2005, Seite 625ff
(5) Struve, 1994
(6) Klenner 1982
(7) Kunze, 1990
(8) Struve, 1994, Seite 205f
(9) Marx, 1972, MEW 23, Seite 189


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