Im Rückblick mutet das seltsam an. Ich bin von einer Welt in eine andere gekommen und habe einfach geschluckt, was man dort für gut und richtig hielt, obwohl es allem widersprach, was ich vorher gelernt und damit auch geglaubt hatte. Ich spreche von der Journalistenausbildung. Genauer: Ich bin ein Kind der Journalistenausbildung, großgezogen in der DDR.
Die Eltern waren dort getrennt und trafen sich eigentlich nur zweimal zur Übergabe. Meine Mutter hieß Ostsee-Zeitung. Ein Regionalblatt der SED. Ich bin dort sehr früh Volkskorrespondent geworden, vermutlich gleich, als ich einigermaßen fehlerfrei schreiben konnte. Kuchenbasar, Sportberichte. Solche Sachen. Der Junge war in der Zeitung und würde irgendwann Sportreporter sein. Davor stand ein Volontariat, immer noch bei der Mutter. Ein Jahr in einer Lokalredaktion, für mich verkürzt auf zwei Monate, weil ich mich zu drei Jahren Wehrdienst verpflichtet hatte.
Der Vater war in diesen wenigen Wochen ein Dauerthema. Streng gehe es dort zu. Und vor allem: Die vier Jahre, die ich dort verbringen würde, seien vergeudete Zeit. Dort lernst Du nichts, Michael, im Gegenteil. Man wird Dir das Schreiben verleiden. Fast alle Kinder haben das so gehört. Trotzdem führte kein Weg an diesem Vater vorbei. Ich wollte studieren. Ich wollte ein Diplom. Und das gab es für jemanden wie mich nur an der Sektion Journalistik der Leipziger Universität. Dieser Vater, auch das gehörte zu den Dauerthemen im Volontariat, nahm nicht jeden. Man musste von der Mutter delegiert werden — was nicht jedem gelang — und dann eine Aufnahmeprüfung bestehen.
Eine Woche in Bad Saarow. Recherchieren, schreiben, diskutieren — umgeben von lauter anderen übereifrigen Kindern. Wer den Vater für sich gewinnen konnte, sah die Mutter erst kurz vor dem Abschluss wieder — oder auch gar nicht. Das Schicksal der Absolventen besiegelte eine Lenkungskommission und damit die führende Partei. Ich mochte die Ostsee-Zeitung nicht besonders und habe mir deshalb schon im ersten Studienjahr einen Hochzeitstermin besorgt — mit einer Frau aus Sachsen. Das Kalkül: Vielleicht ließen sie mich ja an der Uni in Leipzig weitermachen und ersparten mir so den Rückweg nach Norden.
Heute weiß ich, dass die Praktiker dieses System bekämpft haben. Sie wollten nicht, dass Akademiker entscheiden, wer Journalist werden darf. Und sie wollten erst recht nicht, dass diese Akademiker dem Nachwuchs auch noch den Kopf verdrehen.
Nicht auszudenken, was selbstbewusste und gut geschulte Diplomjournalisten aus den geliebten Redaktionsroutinen machen würden. Das Ringen der beiden Welten hat selbst in der DDR etliche Jahre gedauert. Der Kompromiss: ein Volontariat vor dem Studium. Eine Vorauswahl und der erste Schliff, immerhin. Heute würde man Priming sagen. Viele meiner Kommilitonen haben ihre Abneigung gegen das Studium nie ganz ablegen können.
Warum ich diese ollen Kamellen hier ausbreite? Das Modell aus der DDR könnte helfen, den Journalismus besser zu machen. Vor 30 Jahren hätte ich über diesen Satz gelacht. Der Sozialismus war tot — gestorben auch an einer Medienrealität, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun hatte. „Schnitzler in den Tagebau“, hatten die Demonstranten montags in Leipzig gerufen und damit neben dem TV-Chefpropagandisten — „Der schwarze Kanal“ — auch Menschen wie mich gemeint und vor allem meine Eltern. SED-Presse und Sektion Journalistik. Die Ausbildungseinrichtung wurde im Wortsinn eingestampft — das Amtsdeutsch sprach von Abwicklung — und durch ein Institut ersetzt, in dem Handwerk — Recherchieren, Schreiben, Redigieren — und das Nachdenken über den Journalistenberuf allenfalls noch drittrangig waren.
Die Sieger der Geschichte haben selbst dann recht, wenn sie gar nichts für den Erfolg können — vor allem dann, wenn sie mit breiter Brust aufmarschieren und auf einen Gegner treffen, der permanent gezwungen ist, seine Existenz zu rechtfertigen und den eigenen Anteil an der Niederlage offenzulegen. So erkläre ich mir, warum ich stets artig nickte, wenn die Medienleute aus dem Westen ihre Glaubenssätze herunterbeteten. Das Volontariat als Königsweg in den Beruf. Learning by doing. Die Begabten von einst nach den Begabungen von morgen fahnden lassen. Dabei die Allerbegabtesten für die teuren Journalistenschulen herausfiltern, wo sie von den Allerallerbegabtesten unterwiesen werden können. Und: Die Universität gehört der Forschung. Praktische Dinge können dort weder vermittelt noch gelernt werden.
Vermutlich würde ich das immer noch unterschreiben, wenn ich nicht in meine eigene Vergangenheit hinabgestiegen wäre (1). Kommilitonen besuchen, Dozenten interviewen, Akten wälzen. Im Archiv lagen Pläne für ein ganz neues Journalistikstudium, gestützt auf jahrzehntelange Trainingserfahrungen und geschrieben in einer Zeit, in der das Bündnis mit dem Teufel Politik noch allgegenwärtig und der lange Arm der Wirtschaft allenfalls zu spüren war. Ich dachte sofort:
So etwas müsste es heute geben. Einen Ort, an dem der Nachwuchs frei von allen Einflüssen darüber nachdenken kann, was die Gesellschaft vom Journalismus erwartet.
Einen Ort, an dem nicht die Zwänge des Berufs im Vordergrund stehen, die Verwertungslogiken der Digitalplattformen und die Wege, dort selbst zu einer Marke zu werden. Einen Ort, an dem man mit Journalismustheoretikern streiten und den „Auftrag Öffentlichkeit“ (2) später in die Redaktionen tragen kann.
Diese Pläne sind nie Wirklichkeit geworden. Die Praxiskurse, die es heute fast in jedem akademischen Studiengang gibt, der „irgendwas mit Medien“ im Namen trägt, sind nur ein schaler Abglanz des Programms, das ich einst in Leipzig durchlaufen habe. Wenn man Glück hat, landet man in einem Theorieseminar, in dem es auch um das große Ganze geht. Ansonsten wird gemessen, gezählt, gerechnet. Die empirische Medienforschung an den Universitäten ist viel näher an der Psychologie als am Journalismus. Die Journalistenschulen wiederum interessieren sich vor allem für Form — Relotius lässt grüßen —, Vermarktung, Karriere. Dazu ein wenig Medienrecht. Man weiß ja nie.
Eigentlich ist das kaum zu glauben: Man muss keine Idee von diesem Beruf mitbringen, die an einer Uni oder in einem anderen Kontext außerhalb des Journalismus reifen konnte, um in einer Redaktion Fuß zu fassen. Es genügt, wenn die, die schon drin sind, einen haben wollen.
Ich habe jahrelang Auswahlgespräche an der Deutschen Journalistenschule in München geführt. Entschieden haben letztlich die sechs Journalisten am Tisch. Menschen, die Erfolg haben mit dem, was sie tun, und jemanden suchen, der ihnen ähnlich ist.
Das heißt auch: Die Homogenisierung beginnt schon mit der Rekrutierung und der Ausbildung. Aufstiegsorientierte Mittelschichtkinder aus den großen Medienstädten. Marcus Klöckner hat in zwei Büchern beschrieben, was das für die Medienrealität und die Grenzen des öffentlich Sagbaren bedeutet (3). Es wird nicht besser, wenn man weiß, was der Nachwuchs alles nicht weiß, wenn er die heiligen Hallen der großen Redaktionen entert.
Ich muss gestehen: Dieser Artikel ist auch ein Werbetext. Die lange Vorrede war nötig, um erklären zu können, warum meine Frau und ich selbst unter die Ausbilder gehen wollen und was die — jungen — Menschen erwartet, die sich auf uns einlassen. In Kurzform: üben, üben, üben. Trainiert werden der Arbeitsprozess — Recherche, Redaktion — und alle wichtigen Genres — Nachricht, Bericht, Artikel, Kommentar, Reportage, Porträt, Interview. Nebenprodukt eins: eine kleine Gemeinschaft, die Aufklärung und Machtkontrolle für den Kern des Journalismus hält. Nebenprodukt zwei: ein neuer Kanal (Medien+), der wie ein Schaufenster für die besten Beiträge funktioniert.
Dass das kein Selbstläufer ist, sollte klar geworden sein. Mitzubringen sind Kondition für zwei Semester sowie die Bereitschaft, andere zu kritisieren und selbst Kritik auszuhalten. Jede Woche, wenigstens ein paar Stunden. Semester eins geht von Ende September 2022 bis Ende Januar 2023 und Semester zwei von Anfang April bis Anfang Juli 2023. Zum Semesterauftakt gibt es jeweils ein Präsenzseminar in der Oberpfalz — zweieinhalb Tage, Freitag bis Sonntag. Dazu kommen Bildschirmtreffen in der Gruppe und individuelles Coaching.
Vielleicht nicht unwichtig für einen solchen Werbetext:
Schreiben lernen kann jeder. Guter Journalismus braucht keinen Hochschulabschluss, sondern möglichst viele Perspektiven.
Wer Lust bekommen hat auf ein Jahr an der Freien Akademie für Medien & Journalismus und sich jung genug für einen (Neu-)Start fühlt, der schicke bis zum 31. Juli 2022 ein Motivationsschreiben — maximal eine Seite — an freie-medienakademie@posteo.de. Das Aufnahmegespräch läuft dann im August auf dem Bildschirm. Mehr Infos: freie-medienakademie.de. Übrigens: Erstmals diskutiert haben wir diese Idee auf dem Rubikon-Autorentreffen im August 2021. Ein Jahr später geht es endlich los.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Michael Meyen: Das Erbe sind wir. Warum die Leipziger Journalistik zu früh beerdigt wurde. Meine Geschichte. Herbert von Halem 2020
(2) Horst Pöttker: Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Konstanz: UVK 2001
(3) Marcus B. Klöckner: Sabotierte Wirklichkeit. Oder: Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird. Westend 2019, Marcus Klöckner: Zombiejournalismus. Was kommt nach dem Tod der Meinungsfreiheit? Rubikon 2021
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