Redaktionelle Vorbemerkung: Die Reihe Mediale Volksverhetzung von Maren Müller erscheint voraussichtlich als Vierteiler. Beim hier vorliegenden Text handelt es sich um den ersten Teil.
Eine der wichtigsten Funktionen der Massenmedien ist die Herstellung von Öffentlichkeit. Indem Medien aktuelle Themen auf die Agenda setzen, fungieren sie als Vermittler zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen, Teilsystemen und zwischen Bürgern und Regierung. Medien bilden somit ein unverzichtbares Forum für den gesellschaftlichen Diskurs. In welcher Form dieser Diskurs stattfindet, ob er überhaupt stattfindet und in welche Richtung er gelenkt wird, entspricht der Art und Weise der medialen Darstellung und Bewertung von Ereignissen.
„Auschwitz begann mit der Demütigung des Menschen. Wenn heute jemand einen Roma, einen Juden, einen Bosnier, einen Türken, einen Israeli, einen Palästinenser, einen Christen, einen Moslem oder einen Ungläubigen demütigt, so ist das ein neuer Beginn von Auschwitz“ (Marian Turski).
Ein großer brauner Umschlag, den seine völlig aufgelöste Sekretärin eines Tages zu ihm brachte, war randvoll mit menschlichen Exkrementen und offensichtlich in Bezug auf Dialogbereitschaft als DER Tiefpunkt innerhalb der ohnehin problematischen Korrespondenz mit deutschen Bürgern zu betrachten. Sowohl der chronisch überlastete Schreibtisch des griechischen Konsuls Aris Radiopoulos, als auch das elektronische Postfach des Diplomaten quellen seit einiger Zeit, parallel zu halbgaren und unvorsichtigen Verlautbarungen seitens Politik und Medien, über. (Quelle: LVZ vom 23.05.2015)
Griechische Gastronomen, bislang vielleicht wegen der Vielzahl an Gratis-Ouzo stärker frequentiert als die knausrige Schnitzelstube des deutschen Mitbewerbers, verzeichneten im Laufe der medial befeuerten, politischen Anti-Griechenland-Kampagnen - neben Besucher- und Umsatzschwund - reichlich despektierliche Anwürfe, die sich bis hin zu offenen Anfeindungen und anonymen Schmähschreiben steigerten.
In Deutschland geborene Kinder griechischer Mitbürger wurden im Laufe der Feindseligkeiten von deutschen Mitschülern schon mal auf dem Schulhof mit der Forderung konfrontiert, doch endlich „unser Geld“ zurückzuzahlen und selbst diverse Lehrkörper hielten bei Leistungsabfall oder vergessenen Hausaufgaben mit ihrem Halbwissen über die „griechische Mentalität“ nicht hinter den Berg. Griechen in Deutschland sehen sich vor allem aufgrund der einseitig negativen Berichterstattung des Mainstreams zunehmend Anfeindungen ausgesetzt.
Bereits ein halbes Jahr nach Beginn der Medienberichterstattung zur Staatsverschuldung in Griechenland war in Deutschland 2010 ein völlig neues Griechenlandbild entstanden. Die durch Medien geprägte, negativ konnotierte Charakterisierung Griechenlands wurde beunruhigend rasch zur sozialen Routine im deutschen Sprachgebrauch. Das Bild, wonach die Griechen auf Kosten der restlichen Eurozone ein unbeschwertes, rauschhaftes Leben führen, selbst wenn ganz Europa dabei untergeht, ließ sich wie auf Knopfdruck in die Köpfe deutscher Rezipienten projizieren. Die soziale und kulturelle Stigmatisierung von Menschen hat in Deutschland eine unheilvolle Tradition und es fällt den Meinungsbildnern offenbar schwer, von diesem Pfad abzuweichen, denn die verzerrende und stigmatisierende Berichterstattung erfolgte bewusst und ohne die geringsten Skrupel. (Vgl. Die Dynamik der Konstruktion von Differenz und Feindseligkeit am Beispiel der Finanzkrise Griechenlands (2012).)
Als Anfang 2012 das deutsche Magazin Focus online unter der Rubrik „Finanzen“ mit der Schlagzeile „Pleite-Griechen können Picasso-Bild nicht schützen“ titelte, knüpfte man mit einer völlig sinnfreien Täter-Opfer-Umkehr an die früheren Hetztiraden von BILD, Stern und Spiegel an. Beiträge, triefend vor Stereotypen und Vorurteilen wurden fortan auch in vermeintlich seriösen Medien gesichtet. Neben den „Schulden-Hallodris“ (BILD) die den deutschen „Steuerzahler-Deppen“ schröpfen, über die Metapher Drogenabhängigkeit „Die Sucht der Griechen nach frischem Geld“ (Focus online 2011) bis hin zu direkten Anleihen bei Persönlichkeiten, die als unmittelbare Wegbereiter des Nationalsozialismus und seiner Rassentheorien gelten – die immer abwegigeren Steigerungsformen verbaler Brandbeschleunigung tragen eindeutig volksverhetzende Züge.
Was Dietz Bering (1987) in seiner Studie zu Verfahren über Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung unter dem Titel „Der Name als Stigma“ zusammengetragen hat, findet ungeheuerliche Parallelen in der mentalitätsgeschichtlichen Beschreibung, in der die Griechen innerhalb des öffentlich-medialen Diskurses seit Beginn der systemisch bedingten europäischen Banken- und Finanzkrise - wider besseres Wissen - als krisenauslösende Akteure dämonisiert wurden.
So zitierte der Focus in seiner Ausgabe vom 22.10.2010 im Artikel „2000 Jahre Niedergang“ den als Rassentheoretiker bekannten Orientalisten und Publizisten Jakob Philipp Fallmerayer, der für seine Ablehnung gegenüber dem Philhellenismus bekannt war. Er vertrat die rassentheoretische These, dass die Griechen des 19. Jahrhunderts in keiner biologischen Verwandtschaft zu den Ur-Griechen der Antike stünden, da sie durch den Einfluss slawischer Völker geprägt seien. Der Focus zitierte in seiner Ausgabe vom 22.10.2010 ausgerechnet die aus heutiger deutscher Sicht besonders problematische rassentheoretische Überlegung Fallmerayers:
„Kein Tropfen des alten Heldenblutes fließt ungemischt in den Adern der jetzigen Neugriechen. Eure schwärmerische Teilnahme ist verschwendet an ein entartetes Geschlecht, an die Abkömmlinge jener slawischen Unholde, die im fünfte und sechsten Jahrhundert über das byzantinische Reich hereinbrachen und die hellenische Nation mit Stumpf und Stil ausrotteten.“
Ohne sich inhaltlich und in Bezug auf fragwürdige Implikationen zu distanzieren fährt der Autor unmittelbar fort:
„In der Tat dürften die heutigen Griechen kaum mehr mit jenen verwandt sein, die in der Antike das Land bevölkerten und diese staunenswerte Kultur schufen.“
Um die eingangs erwähnte „Richtung des öffentlichen Diskurses“ aufzugreifen, so fällt natürlich auf, dass eine Aufklärung über systemische Effekte der Bankenkrise, Spekulationen am Finanzmarkt, weltweit hohe Staatsverschuldungen und Versäumnisse bei der Euro-Einführung seitens der Medien weitestgehend vermieden wurde. Neben völlig abwegigen Erklärungsversuchen für die Verfasstheit der Griechen der Neuzeit, „vergaßen“ die Qualitätsjournalisten das Naheliegende, nämlich das starke finanzielle Engagement, das internationale und deutsche Banken mit beträchtlichen Gewinnen in Griechenland tätigten.
Auch hier griff die Täter-Opfer-Umkehr durch die Mainstreammedien ganz im Sinne ihrer zum Großteil oligarchisch geprägten Besitzerkaste und der deutschen Profiteure. 360 Millionen Euro flossen bis 2015 allein an Zinsen in den deutschen Bundeshaushalt. Zudem profitiert Finanzminister Schäuble von niedrigen Zinsen auf deutsche Staatsanleihen, weil Deutschland in der Krise als sicherer Hafen für Investoren gilt und die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen auf den Märkten drückt. Dies hat Deutschland Einsparungen in Milliardenhöhe gebracht.
Während „der Markt“ und die Gemeinschaftswährung „Euro“ zunehmend mit menschlichen Metaphern versehen wurden, sollte „der Grieche“ am besten aufhören zu leben...
„… den jüngsten Schock der Finanzmärkte…“ (Spiegel 07/10)
„… das Vertrauen der Märkte zu stabilisieren…“ (Spiegel 18/10)
„… die Finanzmärkte glauben nicht…“ (Spiegel 19/10)
„… die Befürchtungen der Finanzmärkte sind hysterisch bis irrational…“ (Spiegel 19/10)
„… die Märkte rochen sofort, dass etwas nicht stimmte…“ Spiegel 19/10)
„… der Euro ist von Frankreich und Deutschland gemeinsam gezeugtes Kind…“ (DIE ZEIT 12.05.2010)
… und während die Finanzkrise als „Krankheit“ beschrieben wurde, die mit Hilfe des „Medikamentes“ und einer „Therapie“ in Form des „Rettungspaketes“ geheilt werden müsse, insbesondere um eine „Ansteckung“ mit dem „griechischen Virus“ zu vermeiden, erhöhten sich in Griechenland die Säuglingssterblichkeit, die Obdachlosigkeit, die Selbstmordrate, die Arbeitslosigkeit, die Insolvenzen und die geschürte, und durch die deutsche Öffentlichkeit sehenden Auges geduldete, Verelendung eines uns bislang in Freundschaft und gegenseitiger Hilfsbereitschaft verbundenen Volkes.
„… ein Land geht auf dem Zahnfleisch…“ (DIE ZEIT 27.5. 2010)
„… dass die geplante Milliardenspritze aus europäischen und deutschen Kassen die griechische Malaise heilen kann…“ (Spiegel 17/2010)
„… wenn die Notoperation nicht gelingt…“ (Spiegel 08/2010)
„… ob die Griechen die Medizin von außen schlucken wollen…“ (DIE ZEIT 6.5.2010)
„… die von immer neuen Schuldeninjektionen abhängig sind, steht eine harte Entziehungskur bevor … sonst droht ihnen ein langes Siechtum und einigen der Kollaps…“ (Spiegel 18/2010)
„… sogar die USA fürchten sich vor der Ansteckungsgefahr…“ (DIE ZEIT 6.5.2010)
Wenige Jahre später richtet sich die politische Agitation der tradierten Medien nun gegen den Hoffnungsträger der Griechen, die demokratisch gewählte Partei Syriza und deren Repräsentanten Alexis Tsipras und den Wirtschaftswissenschaftler und neuen Finanzminister Griechenlands Yanis Varoufakis. Eine besonders traurige Rolle spielten hier – entgegen ihres gesetzlichen Auftrags - die Programme der öffentlich-rechtlichen Anstalten ARD, ZDF und Deutschlandradio. Deren Griechenlandberichterstattung war einseitig, regierungskonform, manipulativ, feindselig, verleumderisch und in Teilen geradezu absurd ob ihrer boulevardesken Erzählweise. Durch die Verbreitung national-stereotyper Klischees entgegen des gesetzlichen Auftrages wurden bei der deutschen Bevölkerung - wie schon so oft in der deutschen Geschichte - niedere Instinkte wie Neid, Hass, Zynismus und offener Rassismus geweckt.
Alarmistische Schlagzeilen und hysterische Skandalisierung von Personen tragen Früchte bei einer gefühlten Mehrheit der deutschen Bürger. Die Liste rhetorischer Stilmittel ist lang und wird durch semantische Übertreibung, Dramatisierung, Verzerrung und Ironisierung bis hin zur geschürte Eskalation einen Großteil der Zuschauer davon überzeugen, dass diese "hemdsärmeligen", "ruppigen" (Thomas Roth 04.02.2015), "selbstverliebten" (Ulrich Deppendorf 27.02.2015) "Halbstarken" (Claus-Erich Boetzkes 12.02.2015), diese "Schuljungen" (Thomas Bormann 21.02.2015) mit ihrer "Ruppigkeit-ich-will-nicht-sagen-Arroganz" (Thomas Roth 16.02.2015), diese "unberechenbaren Teenager" mit "frechem Grinsen im Gesicht" (Angela Ulrich 08.07.2015), die ihre "Hausaufgaben" (Caren Miosga 23.02.2015) nicht machen wollen und es als ihr "gottgegebenes Recht ansehen, auf Kosten anderer zu leben" (Rolf-Dieter Krause 17.02.2015), "runter von den Bäumen" (Ulrich Deppendorf 27.02.2015) müssen, "ins Gebet" (Bettina Scharkus 29.01.2015) genommen werden müssen. Und wenn alle Ermahnung nicht hilft – "Ich-kann-gar-nicht-so-viel-fressen-wie-ich-kotzen-möchte“ (Rolf-Dieter Krause, Presseclub, 14.06.2015) –, dann müssen diese "Schurken" (Alois Theisen, 27.06.2015), vor allem dieser "irrlichternde Varoufakis" (Reinald Becker 29.06.2015) mal richtig diszipliniert, am besten "zum Teufel gejagt" werden (Rolf-Dieter Krause, Hart aber fair, 29.06.2015).
Rolf-Dieter Krause, Tagesthemen 17. 02. 2015: "So arrogant redet einer [Bezug: "der Grieche"] daher, der es offenkundig für das gottgegebene Recht seines Landes hält, auf Kosten anderer zu leben. Wieso sollten eigentlich die Aldi-Kassiererin und der Realschullehrer, also die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, mit ihren Steuern dafür einstehen, dass Griechenlands aufgeblähter Beamtenapparat noch weiter vergrößert wird? – Das ist es, was Athen will."
Auch der ehemalige EU-Parlamentspräsident und derzeitige SPD-Kanzler-Kandidat Schulz warf schon mal sämtliche diplomatischen Gepflogenheiten über Bord, ohne sich auch nur im Ansatz der Diskrepanz zwischen eigener Vita und der des renommierten Wirtschaftswissenschaftlers Yanis Varoufakis zu vergegenwärtigen: „(…) erstaunlicherweise bin ich dem Mann noch nicht begegnet“, meinte Schulz im Hinblick auf den (damaligen) griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. „(…) und ich muss sagen, das hat mich bis dato nicht in eine tiefere Sinnkrise gestürzt (…) in den ersten Monaten habe ich den für 'nen Spaßhansel gehalten. Äh, ich hab gedacht, das ist ja ganz vergnügt wenn man mal so’n Mann sieht, aber, er ist ja schon ein nicht ernstzunehmender Gesprächspartner. Das was er sagt stimmt ja schlicht und ergreifend nicht.“
Der Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) äußerte während einer öffentlichen Debatte im Bundestag am 27. Februar 2015: „Schauen Sie sich Tsipras an, schauen Sie sich Varoufakis an, würden Sie von denen einen Gebrauchtwagen kaufen?“
Sigmar Gabriel am 14.06.2015: "Wir werden nicht die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen."
In den politischen und medial vermittelten Wahrnehmungs-und Beurteilungskategorien gegenüber dem griechischen Volk schwingen stets vermeintliche deutsche Tugenden wie Zuverlässigkeit, Ordnung, Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Höflichkeit, Fleiß und Sparsamkeit mit - Tugenden, die dem „Gegner“ selbstverständlich aufgrund der medial vermittelten „Erfahrungen“ abgesprochen werden. Stereotype setzen sich so unmittelbar fest und manifestieren sich zu Narrativen. Falschinformationen werden in der Regel nicht eingeräumt, sondern stattdessen kontinuierlich wiederholt.
Weil deutsche Qualitätsmedien – allen voran die quotenstarken Nachrichten von ARD-aktuell – das populistische Ressentiment auch weiterhin stoisch kolportierten, dass doch alles gut würde, wenn nur die Griechen von ihrer Verschwendungssucht abkämen, schrieben deutsche Bürger brav ihren medial vermittelten Hass in anonymen Schreiben, Kommentarspalten, Leserbriefen und in den sozialen Medien nieder und belästigten und verunglimpften damit völlig unbescholtene Menschen (Sreenshot Hassmails).
Den öffentlich-rechtlichen Medien könnte eine Seismograph-Funktion innerhalb politischer Veränderungsprozesse zukommen, wenn sie nicht permanent auf einen quotenträchtigen und kurzfristigen öffentlichen Erregungszustand des Publikums abzielten. Intellektfreie Höhepunkte medialen Dauerfeuers produzierten sie daher kontinuierlich – von absurden Spin-Doctorship-Beiträgen eines, mittlerweile für „hervorragende Leistungen“ preisgekrönten, Rolf-Dieter Krause über die bösartige Inszenierung des inzwischen beleidigt abgetretenen Stinkefinger-Betrügers Jauch bis hin zur kollektiven medialen Vernichtung des international angesehenen Wirtschaftswissenschaftlers Yanis Varoufakis. Informationsgehalt = Null.
Sozial reduzierte Berichterstattungen in den Medien zeigten und zeigen auch weiterhin Wirkung, wie man unschwer in den Kommentarspalten der Meinungsmacher, an diversen Umfrageergebnissen oder an eingangs veranschaulichten Aktionen der Opfer publizistischer Blindleistungen sehen kann. Im ZDF-Politbarometer, im ARD-Deutschlandtrend, bei Emnid und am deutschen Stammtisch wird man nach der monatelangen Medien-Kampagne zu Lasten der griechischen Bevölkerung erfahren, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen sowohl Finanzhilfen als auch formale Zugeständnisse gegenüber Griechenland ablehnt und sich darüber hinaus emotional von einem freundlichen, lebensfrohen und gastfreundlichen Land distanzierte.
„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. (...) Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können“ (Niklas Luhmann).
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