Spätestens seit Rainer Mausfelds Vorträgen und Büchern sollte bekannt sein, welch wichtige Einsichten kritische Psychologen in die politische Analyse einbringen können. In ihrem Sammelband zum Kongress 2019 — Thema „Krieg nach innen, Krieg nach außen und die Intellektuellen als „Stützen der Gesellschaft“?“ — machen auch die Psychologen der NGfP wieder wohltuend deutlich, zu welchen macht- und kapitalismuskritischen Wortmeldungen Intellektuelle in Deutschland noch in der Lage sind. Leider sind die kritischen Psychologen damit in der Minderheit.
Und genau das ist das Thema des Buches, das kürzlich bei Westend erschienen ist: Warum stützt eigentlich die Mehrheit der Intellektuellen hierzulande passiv oder sogar aktiv ein System, das Menschen und Natur massiv ausbeutet, den Planeten zerstört, extreme Ungleichheit erzeugt, Millionen Menschen vertreibt und ständig Kriege vom Zaun bricht?
In den Nachkriegsjahrzehnten gab es doch noch Physiker und Mediziner, die sich massiv öffentlich gegen Atomwaffen einsetzten. Künstler und Sozialwissenschaftler waren in der Friedensbewegung hör- und sichtbar. Der Club of Rome erzielte mit seinen Warnungen große Aufmerksamkeit.
Heute ist das anders, schreiben die Herausgeber Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch und Jürgen Günther. Gegenwärtig verteidigten die meisten Intellektuellen den Krieg als zwar bedauerliches, aber notwendiges Mittel. Sie deckten nicht Tatenlosigkeit und Heuchelei von Politik und Wirtschaft bei Umweltthemen auf. Und sie setzten sich nicht für eine Politik des Austauschs zwischen den Völkern und zwischen den Klassen ein. Die Intellektuellen verzichten auf Kritik an den verantwortlichen Macht- und Herrschaftseliten und finden die Schuld stattdessen gern beim „Volk“ oder bei medial aufgebauten Feindbildern.
Permanente Völkerrechtsbrüche führen nicht zu intellektuellem Aufschrei
Besonders auffällig ist das intellektuelle Versagen bei der bis heute fehlenden Kritik am andauernden Bruch des Völkerrechts durch westliche Staaten. Im Buch zeichnet der linke Politik- und Rechtsprofessor Norman Paech lesenswert nach, wie die USA und ihre Verbündeten mit ihren Angriffskriegen seit Jahrzehnten das Gewaltverbot der UN-Charta ignorieren beziehungsweise permanent neue Kriegsrechtfertigungen aus dem Hut zaubern.
Selbstredend führen die angreifenden Staaten dabei nicht wahrheitsgemäß ihre ökonomischen und strategischen Interessen an — auch wenn dies Donald Trump inzwischen ab und zu mal herausrutscht —, stattdessen geben sie als Interventionsgründe regelmäßig edle Ziele wie die Verhinderung von Menschenrechtskatastrophen an.
Von der „humanitären Intervention“ bis zur „Responsibility to protect“ (Schutzverantwortung) hat jedoch keine dieser Kriegsrechtfertigungen irgendeine Rechtsverbindlichkeit, macht Paech deutlich. Washingtons neue Doktrin für den US-Angriff auf Syrien seit 2014 lautet: Das US-Militär muss den IS auf syrischem Boden bekämpfen, da die syrische Regierung hierzu „unfähig oder unwillig“ sei.
Von der Rechtswidrigkeit solcher Argumentationen abgesehen, sollte sich niemand von diesen konstruierten Begründungen in die Irre führen lassen. Paech schreibt:
„Der ganze argumentative Aufwand ist schlicht ein weiterer Versuch, das strenge Gewaltverbot der UN-Charta aufzuweichen, die militärische Intervention in fremden Staaten auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats zu ermöglichen.“
Interesse daran hätten denn auch nur militärisch hochgerüstete Staaten aus dem atlantischen Bündnisraum.
Die letzten Raketenangriffe der USA auf Syrien im April 2017 und im April 2018 versuchte Washington nicht mal mehr, juristisch zu rechtfertigen. Die Bundesregierung steht bei diesen Völkerrechtsbrüchen treu an der Seite ihrer NATO-Partner. Bei all dem herrschenden politischen Zynismus in Berlin verwundert das nicht. Doch das sich hierzulande auch kaum Intellektuelle über diesen andauernden Rechtsbruch öffentlich empören, manche ihn sogar unterstützen, versinnbildlicht deren Versagen.
Antideutsche Intellektuelle bejubeln Krieg
Dieses Versagen manifestiert sich in konkreten Gruppen, so etwa bei den Antideutschen. Der Historiker Gerhard Hanloser beschreibt in seinem Beitrag, wie sich antideutsche Intellektuellenzirkel mit der deutschen Wiedervereinigung und seit dem Golfkrieg Anfang der 1990 Jahre von linken Kapitalismusgegnern immer stärker zu imperialistischen Kriegsbefürwortern wandelten.
Eigentlich seien die antideutschen Intellektuellen bürgerliche Kritiker, die sich von linken Praktikern etwa der Hausbesetzerszene oder der Friedensbewegung abgrenzen wollen, erläutert Hanloser. Anfang der 1990er-Jahre während der rassistischen Pogrome von Rostock oder Hoyerswerda hätten sie erkannt, dass es etwas Schlimmeres als Staat und Kapital gebe, nämlich den Mob. Die Staatsmacht habe sich dadurch zum schützenden Verbündeten entwickelt.
Mit dem 11. September habe sich „der Mob“ aus Sicht der Antideutschen „globalisiert“. International seien antisemitisch-faschistische Islamisten zum Feindbild aufgestiegen. Wer diese bombardiere, betreibe demnach „tätigen Antifaschismus“. Die israelische Fahne sei den Antideutschen zum Fetisch geworden — ja zum „Lackmustest“, wer dazugehört. Hanloser kritisiert sarkastisch:
„In einer antideutschen Erklärung wird so auch von einer Schändung der Fahne gesprochen und man merkt, man hat es mit richtig aufgeklärten Menschen zu tun."
Linke Themen wie die Eigentumsfrage seien in antideutschen Intellektuellenzirkeln nicht vorhanden. Von Humanismus und Pazifismus halten sie nichts. Die Faschismuskritik habe bei den Antideutschen die Kapitalismuskritik abgelöst, schreibt Hanloser.
Paradoxerweise sei es für viele von ihnen heute ausgerechnet der Kapitalismus, der vor dem Faschismus schütze. Daraus ergebe sich sogar die Notwendigkeit, kapitalismuskritische Linke zu bekämpfen, denn Klassenkampf führe zum Antisemitismus. Hanloser resümiert, viele Antideutsche nähern sich immer weiter der AfD an und bilden heute eine Art „andere Querfront“. Ein Aufstehen gegen Krieg und Kapitalismus ist von diesen Leuten nicht zu erwarten.
Intellektuelle in Diensten von Medien, Krieg und Kapital
Das Handeln weiterer gesellschaftlicher Gruppen wird im Buch beleuchtet. So befasst sich der Politikwissenschaftler Werner Ruf mit der Zähmung der wissenschaftlichen Friedensforschung, worauf bereits der Rubikon-Bericht von der NGfP-Tagung im März 2019 näher eingeht. Der Psychologe Georg Rammer beschäftigt sich unter anderem mit der Komplizenschaft der Medien, was er in einem Interview mit den NachDenkSeiten ausführte.
Der Physiker und Mathematiker Ansgar Schneider nimmt in seinem Beitrag zum 11. September die esoterische Argumentation etablierter Zeitungen und des Amerikanisten Michael Butter auseinander. Der Psychologe Falk Sickmann zeigt, wie marktkonforme Berufskollegen den neoliberalen Status quo mit allen Mitteln verteidigen.
Diese Beiträge, die darauf hinweisen, wie Intellektuelle nicht handeln sollten, ergänzt der Sammelband mit Texten, die alternative Handlungsmöglichkeiten aufzeigen.
Intellektuelle gegen Kapitalinteressen aktivieren
Der Philosoph Friedrich Voßkühler merkt in seiner Definition an, dass Intellektuelle unter den heutigen ökonomischen Bedingungen ihrer Tätigkeit als Wissenschaftler erst mal unweigerlich Instrumente des Kapitals sein — zu dieser Tatsache aber ein reflektiertes Verhältnis entwickeln könnten. So würden aus marktkonformen Wissensproduzenten „organische Intellektuelle“, die mit den einfachen Menschen solidarisch sind und ihr Wissen in deren Dienst stellen.
Voßkühler wendet diese Einsicht auf ein Praxisbeispiel an: die Aneignung des städtischen Raums. Städte werden materiell und sozial produziert von ihren Erschaffern und Bewohnern. Zusammen mit dem Raum, den sie hervorbringen, erzeugen sie eine städtische Lebensweise. Die kapitalistische Stadt jedoch enteignet ihre Produzenten. Sie vermarktet die Raumschöpfung und verwandelt das städtische Leben in eine Ware.
Um dem entgegenzutreten, sei die Enteignung derjenigen nötig, die den Wohnraum Stadt zu großen Teilen in ihr Privateigentum überführt haben. Intellektuelle wie Bauingenieure, Städteplaner oder Stadtsoziologen könnten dabei helfen, indem sie ihre Fähigkeiten in den Dienst der Stadtbewohner stellten und für eine nicht-kapitalistische Stadtplanungs- und Wohnpolitik eintreten.
Alternativen zu neoliberaler Wissenschaftsförderung
Die Politikwissenschaftlerin und Historikerin Raina Zimmering empfiehlt Intellektuellen, in ihrem Beitrag, unabhängige Wissenschaftsorganisationen zu gründen. Diese müssten unabhängig von den weltweiten neoliberalen Förderstandards und von westlicher Vorherrschaft sein. Sie stellt die zapatistischen Gemeinden in Mexiko als Positivbeispiel heraus. Diese wollen einer ressourcenschonenden Wissenschaft im Dienste aller Menschen zum Durchbruch verhelfen. Deren Wissenschaftskongresse in Chiapas seien frei von Kapitalinteressen, Konkurrenz und Karrieresucht.
In anderen Aufsätzen stellt das Buch weitere Tätigkeitsfelder gesellschaftlich engagierter Intellektueller vor. So etwa der Kampf gegen Arbeitsunrecht, der Kampf für wirklichen Umweltschutz oder der Kampf gegen die totale Digitalisierung. Letzteres wird übrigens Thema des kommenden NGfP-Kongresses am 6. und 7. März 2020 in Berlin sein.
Ausnahme und Einspruch
Das Buch zeigt, wie und warum sich Intellektuelle ihrer gesellschaftlichen Verantwortung aus ökonomischer oder medialer Abhängigkeit — teils auch aus ideologischer Überzeugung oder wegen charakterlicher Defizite — entledigen. In einer Zeit, in der Wissenschaftler und Künstler „unsere“ Kriege nicht öffentlich kritisieren, die Einkerkerung von Journalisten ignorieren und westlichen Imperialismus schönreden, sind Bücher wie dieses nicht nur eine wohltuende Ausnahme, sondern auch willkommener Einspruch gegen das Duckmäusertum zu vieler Kollegen.
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